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ZEITSCHRIFT
des
Vereins für Volkskunde.
Begründet von Karl Weinhold.
Unter Mitwirkung von Johannes Bolte
herausgegeben
von
Hermann Michel.
21. Jahrgang.
Mit vierzehn Abbildungen im Text.
BERLIN.
BEHREND & C°.
11)11.
1911.
6
Inhalt. III
Inhalt.
Abhandlungen und grössere Mitteilungen.
Seite
Tannhäuser und die Tannhäusersage. Von Richard M. Meyer 1 — :;i
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. Von Richard Loewe
31—44. 126—151
Die altgermanische Wirkgrube auf slawischem Boden. Vou Karl Rhanim
(mit Abbildung) 44—52. 112
Katholische Überlebsel beim evangelischeu Volke. Von Richard Andree . . 113—125
Etwas vom Messen der Kranken (der rohe Faden). Von Theodor Zachariae 151—159
Die Erkenntnis des heutigen Volkslebens als Aufgabe der Volkskunde. Von
Eduard Hahn 225—233
Das Hickelspiel in Frankfurt a. M. Von Karl Wehrhan 234—243
Brummshageusch und Vater Bümke, zwei pommersche Sagengestalten. Von
Alfred Haas 243—248
Das Hungertuch von Telgte in Westfalen. Von Karl Brunner (mit Ab-
bildung) 321—332
Die Taufe totgeborener Kinder ist noch heute üblich. Von Richard Andree 333
Alte Zigeunerwarnungstafeln. Von Richard Andree (mit Abbildung) .... 334—336
Ein papierener Irrgarten. Von Franz Weinitz (mit Abbildung) 336—338
Zwei Segen. Von Franz Weinitz 339-:'.4n
Die Volkstracht des Rieses. Von Ludwig Mussgnug (mit vier Abbildungen) 341—34?!
Schlesische Terra sigillata. Von Karl Brunner (mit vier Abbildungen) . . . 345—351
Der Chiemgauer Schiffsumzug vom 28. Februar 1911. Mitgeteilt von Robert
Eisler (mit zwei Abbildungen) 352—355
Koreanische Erzählungen (1—19), gesammelt von Dominicus Enshoff .... 355—367
Kleine Mitteilungen.
Der Spruch der Toten an die Lebenden (1—147). Von W. F. Storck 53—63. 89— 91
Sylter Lieder. Von Theodor Siebs (>!— 7 1
Zum deutschen Volksliede (36—42). Von Johannes Bolte 74- 84
Zum Volksliede vom Tod zu Basel. Von Marie Schulz 84—85
Les contes populaires dans le Livre des rois de Firdausi. Von Victor
Chauvin 85— 86
Ludwig Katona zum Gedächtnis. Von Robert Gragger 8(1— 8S
Eine Gesellschaft für Volkskunde in Chile. Von Joh. Bolte 88—89
Zum Liede 'Was braucht man im Dorf. Von Arthur Kopp 91
Vom Notfeuer. Von Rudolf Reichhardt 9]
Heilkraft der Treuhand. Von Emil Schnippel '.»1
Gereimte Märchen und Schwanke aus dem 16. Jahrhundert (1. H. Sachs, Der
Ritter mit der verzauberten Nadel. 2. Die Feindschaft zwischen Hunden,
IV Inhalt.
Seite
Katzen und Mäusen. 3. Ein Lied von einem ehlichen Volk. 4. L. Wessel,
Der Wandrer mit dem Hasen. 5. A. Meyer, Der Landsknecht mit den
Hühnern). Von Johannes Bolte 160—113
Albanesische Volkslieder (1—7). Von Franz Sattler 173 — 176
Ein altisländisches Eechenrätsel. Von August Gebhardt 177—178
Klabautermann. Von Eduard Hahn 178—179
Das Borenleihen (Bärenführen). Von Erich Weitland L79
Segen wider die Rose aus Masuren. Von Emil Schnippe! 179
Jacob Grimm an Emmanuel Cosquin. Von Johannes Bolte ■249—251
Deutsche Volksbräuche aus Galizien (1—4). Von Raimund Friedrich Kaindl 251—255
Volkskundliches aus dem Isartale. Von Max Hoefler 256-259
Sprichwörter und Redensarten aus Vorarlberg (1—447). Von f Adolf
Dörler 259-27:;
Zum Fangsteinchenspiele. Von Elisabeth Lemke und Johannes Bolte . . . 274—27(5
Volkstümliche Obst- und Speisenamen im Braunschweigischen. Von Otto
Schütte 276—278
Der Teufel im Glase. Von Paul Beck 278—279
Ein altnordisches Bärensohnmärchen. Von f Bernh. Kahle 280—281
Nachtrag zum Spruch der Toten an die Lebenden. Von Max Roediger. . . 281—282
Zur Sage von der erweckten Scheintoten. Von Johannes Hertel, Johannes
Bolte, August Andrae 282—285
Sagen aus Dürrengleina (Thüringen). A'on Hans Schache 286—287
Amulette und Gebete aus Salzburg. Von Johannes Bolte 287—289
Zur Rumpelmette. Von E. Haslinghuis 290—291
Sizilianische Gebäcke. Von Elisabeth Lemke 291—292
Ein russischer Schutzbrief wider den Kometen Hallev. Von August v. Löwis
of Menar _■ 292-293
Eine Warnung vor den Künsten der Hexen auf einem Flugblatte v. J. 1G27.
Von Adolf Jacoby 293-297
Henning Frederik Feilberg. Von Johannes Bolte 297—298
Eine Gesellschaft für Volkskunde in Kanada. Von Hermann Michel 298
Zum 'Letzteu geben'. Von Friedrich Schön 298—299
Der Peterstag im Volksbrauch. Vou Rudolf Reichhardt 299
Zur Entwicklungsgeschichte des Volks- und Kinderliedes 1 : Schlaf, Kindchen.
schlaf. Von Georg Schläger 368—377
Verschwiegene Liebe. Von Elisabeth Lemke ■"'
Ein Lied auf Turennes Tod (1675). Von Otto Stückrath 377—378
Fränkische Vierzeiler (1—45). Von Georg Rauch 378—382
Wie zeichnet man Volkstänze auf? Von Raimund Zoder 382—: B88
Schlangensegen und Fuchsbeschwörung. Von Leopold Bein 389
Der Regenbogen im Glauben und in der Sage der Provinz Posen. Von Otto
Knoop 390-392
Wie man in Erlangen spricht. Von Joseph Gengier 392—399
Beiträge zur Volkskunde des Ostkarpathengebietes (7— 9). Von Raimund
Friedrich Kaindl 399—403
Zum topographischen Volkshumor aus Schleswig -Holstein. Von August
Andrae 404
Volksspiele aus der Kufsteiner Gegend (1—3). Von Karl Brunner - Inns-
bruck 404-405
Eine indische Parallele zu Schillers 'Gang nach dem Eisenhammer'. Von
Johannes Hertel 406^407
Der Soldatenhimmel. Von Johann Lewalter 407—408
Zum 70. Geburtstage von Giuseppe Pitre. Von Johannes Bolte 408—409
Inhalt.
Berichte und Bücheranzeigen.
Seite
Neuere Märchenliteratur. Von Johannes Bolte 180—198
Neuere Arbeiten zur slawischen Volkskunde 1. Polnisch und Böhmisch. Von
Alexander Brückner 198—208
Bäumker, W. Das katholische deutsche Kirchenlied, 4. Band (A. Wrede). . 429—430
Berthold, 0. Die Unverwundbarkeit in Sage und Aberglauben der Griechen
(E. Fe'hrle) 415-417
Bert seh, H. Weltanschauung, Volkssage und Volksgebrauch (R. M. Meyer) . 100
Birt. Tb. Aus der Provence (J. Hirsch) 216
Bolte, J. und M. Breslauer, Acht Lieder aus der Reformationszeit
(A.' Kopp) t25
Bugge, S. Der Runenstein von Rök (A. Heusler) 212—214
Edo-e-Partington, J. Certain obsolete Utensils in North - Wales
&(R. Andree) '-"'
Fehrle, E. Die kultische Keuschheit im Altertum (F. Böhm) 302—304
Franz. A. Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter (A. Wrede) 305—306
Friedel, E. und R. Mielke, Landeskunde der Provinz Brandenburg, 2. Bd.
K. Beucke) 214-215
v. Frisch, E. Kulturgeschichtliche Bilder vom Abersee (M. Andree-Eysn) . . 216
Fuhse, F. Beiträge zur Braunschweiger Volkskunde (R. Andree) 1(»1
Hahne, H. Das vorgeschichtliche Europa (S. Feist) 208—210
Hästesko, F. A. Die westfinnischen Zauberlieder gegen Krankheiten
(R. Karsten) 426-427
Hoede, K. Das Rätsel der Rolande (Curt Müller) I-1
de Jong, K. H. E. Das antike Mysterienwesen (E. Samter) 93—96
Kelemina, J. Untersuchungen zur Tristansage (F. Ranke) 420— 121
Kemmerich, M. Prophezeiungen (R. M. Meyer) 417—418
v. Klinckowström, Graf C. Bibliographie der Wünschelrute (L. Weber) . U8
Knappert, L. Geschiedenis der Nederlandsche hervormde Kerk (H. F. Wirth) 427—429
Kossinna, G. Die Herkunft der Germanen (S. Feist) 419—420
Kretzschmar, H. Über Volkstümlichkeit in der Musik (C. Sachs) 100—101
Kropp. Ph. Latt'uezeitliche Funde an der keltisch-germanischen Völkergrenze
A. Kiekebusch) 433—434
Levy, P. Geschichte des Begriffes Volkslied (H. Lohre) 421- 123
Lütjens, A. Der Zwerg in der deutschen Heldendichtung des Mittelalters
(R. M. Meyer) Bo8
Marett, R. Die Anthropologie und die Klassiker (E. Samter) 210—212
Merker. M. Die Masai (S. Feist) ;1(l1
Samter, E. Geburt, Hochzeit und Tod (E. Goldmann) 410-415
Schrader, 0. Die Indogermanen ,(A. St. Magr) 300-302
Schulte, J. Chr. Martin von Cochem, sein Leben und seine Schriften
fA. Wrede) '■'!>
Seefried-Gulgowski, E. Von einem unbekauuten Volke in Deutschland
(F. Treichel) |:;-
S eil er, F. Die Entwicklung der deutschen Kultur im Spiegel des deutschen
Lehnworts 3,1 (H. Michel) 131—482
Stengel, P. Opfergebräuche der Griechen (E. Samter) 96— 9'J
Vi an, R. Ein Mondwahrsagebuch (Helene- Meyer) 97 — 98
Weinreich, 0. Der Trug des Nektanebos (R. M. Meyer) 306—307
Wesselski, A. Die Schwanke und Schnurren des Pfarrers Arlotto
(J. Bolte) 308-309
Wilke, G. Spiral-.Mäander-Keramik und Gefässmalcrei (S. Feist)
Wörterbuch der Elberfelder Mundart (J. Äsen) 424
VI Inhalt.
Seite
Notizen (Basler Studentensprache, Brandstetter, de Cock, Dohse, Gerdes,
Gotthelf, Hoeber, Höfler, Aaoygayla, Lorrain, Mann, A. Schrader,
0. Schrader. Teubners Künstler-Steinzeichnungen, Yasconcellos, Werner.
Wiedemann. - - Evangelien van den Spinrocke, Junk, Kittredge, Kortuni,
Kühnau, Ranke. — Baragiola, Beyer, Bronner, de Cock en Teirlinck,
Dittmann, v. Gennep, Goldziher, Höfler, Kerler, Loewo, Marzell,
Messikominer, Piper, Sahr, Spies, Stettiner, Violet, Zenker. — Orooke,
Dobbeck, Friedwagner, Garbe, Günther, Hennig, Heyden, Hilka, v. Hör-
mann, Knortz, Krohn. Leskien, Loosli, Meinhof, Neubaur, Schott, Schuchardt
101—105. 217—218. 309—312. 4;J4- 136
Entgegnung. Von Wolfgang Schultz 105—106
Zur Besprechung von Robert Eisler 106
Bernhard Kahle f. Von Max Roediger 219
Uelegiertentag in Einbeck. Von Max Roediger 318
Aufruf zur Sammlung volkstümlicher Pllanzennamen. Von Heinrich Marzell 318—320
An unsere Mitglieder 320
Schönbachs Segensammlung. Von Max Roediger 436
Aus den Sitzungsprotokollen des Vereins für Volkskunde. Von Karl Brunn er
107-112. 219-224. 313—317
Register 437—442
Tannhäuser und die Tannhäusersage.
Von Richard Bf. Meyer.
So lang es eine vergleichende Mythen- und Sagenforschung gibt, ist
sie an umstürzenden Überraschungen vielleicht noch nie so reich gewesen
als in den letzten Jahren. Alles scheint vertauscht; was alt war, soll neu
sein, was neu schien, alt. Für die Merseburger Zaubersprüche, die als
sicherste „Überreste germanischen Heidentums" galten, will soeben Edward
Schröder (Zs. f. d. Alt. 52, 180) christliche Vorlagen annehmen, und die
so verdächtige Weltesche der Edda kann nach Robert Eisler (Himmels-
zelt und Weltenmantel ISMO) aus uralten Mythen entsprossen sein. Für
den 'Mythus" von Beowulf aber hat Panzer in seinem neuen Werk ein
Märchen als eigentliche Grundlage erwiesen, während umgekehrt für
weite Strecken der französischen Heldensage nicht volkstümliche Über-
lieferung, sondern nach ßedier und Ph. Aug. Becker bewusste literarische
Ausgestaltung angenommen werden soll. Wiederum Bilder und Ausdrücke
bei Rienzo und Dante, die als deren persönliches Eigentum galten, stellen
Burdach (Sinn und Ursprung der Worte Renaissance und Reformation,
Sitzungsber. der Berl. Akad. 1910) und Kampers (vgl. Internat. Wochen-
schrift 4, 181 f.) auf eine tiefe und breite volkstümliche Basis, während
Roethe (Nibelungias und Waltharius) das Volksepos von den Nibelungen
auf eine individuelle Nachahmung des Waltharius durch den Schreiber
Konrad zurückführt und Singer (Mittelalter und Renaissance; Die
Wiedergeburt des Epos. 1910 S. 41) die Entstehung des Tierepos für
die persönliche Tat eines einzelnen Mönchs erklärt. Ein so spezifisch
französisches Stück wie Rostands 'Chantecler' will man auf deutsch«'
Anregung zurückführen (vgl. Vossische Zeitung 1910, 17. September) und
eine Sage, die so durchaus für urdeutsch galt wie die von Tannhäuser,
soll völlig Italien angehören!
Nun versteht es sich ja von selbst, dass diese verschiedenen Ent-
deckungen methodisch und prinzipiell ungleich geartet sind. Ich glaube,
dass die neue Bewertung absichtlicher literarischer Einwirkung auf die
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1911. Heft 1. I
2 Meyer:
tlüssio-e 'Sage' von grosser allgemeiner Bedeutung ist. Ich stehe mit Be-
wunderung vor der Umsicht, mit der Burdach, Kampers, Singer volks-
tümliche Anschauungen und individuelle Absichten, uralte Vorstellungen
und momentane Stimmungen zusammenwirken lassen. Ich halte die Be-
reicherung unseres Materials durch die Funde von Gaston Paris und
Söderhjelm für ungemein wichtig; aber ich bin geneigt, anzunehmen,
dass der Eindruck überraschender neuer Tatsachen sowohl Edward
Schröder bei dem Problem der Zaubersprüche als auch Kristoffer Nyrop
bei der Frage der Tannhäuserlegende zu einer überstarken Umkehrung
der bisherigen Anschauungen veranlasst hat. Wobei freilich Schröder mit
eanz anderer Stoffbeherrschung und namentlich mit viel gründlicherer
Methode arbeitet als Nyrop in seinem ja auch nur populär gemeinten
Schriftchen. Aber eben wegen der volkstümlichen Haltung und des
hübschen Vortrags scheint mir das geistreiche Büchlein (Kr. Nyrop,
Fortids Sagn og Sänge, Bind 6: Tannhäuser i Arenusbjerget, Kuben-
havn, Nordisk Forlag 1909) so gefährlich. Wir haben es in neuerer Zeit
wieder, wie in früheren Epochen, allzuoft erlebt, dass auf mittelalterliche
Leoenden sich moderne, auf volkstümliche Sagen sich wissenschaftliche
aufgebaut haben; die Entschiedenheit, mit der der berühmte dänische
Gelehrte Sätze aufstellt, die meines Erachtens teils unbeweisbar sind,
teils nachweislich unrichtig, könnte leicht eine ganz neue 'Tannhäuser-
sage' zu rascher Verbreitung bringen.
Der Status controversiae liegt, kurz berichtet, wie folgt: Wir haben
früher alle angenommen, die Tannhäusersage sei ein rein deutsches Ge-
bilde. An die Person des historischen Minnesängers, der im 13. Jahrh.
dichtete, hätte sich eine Legende geheftet wie an andere seinesgleichen
auch: an Neidhart (zu dessen Gruppe der Tannhäuser gehört), an Heinrich
von Morungen, Gottfried von Neifen, Keinmar von Brennenberg. Diese
Legende wäre ebenso zustande gekommen wie insbesondere die um-
fänglichste und (neben der Tannhäusersage) dauerhafteste dieser Dichter-
sagen, indem an eine interessante Persönlichkeit, die auch in ihren
Dichtungen gern und viel von sich sprach, allerlei unhistorische Angaben
anschössen, teils aus dem umlaufenden Sagenvorrat (Brennberger und
Herzmäre; Möringer und Heimkehr des vermissten Gatten), teils aus den
missverstandenen biographischen Angaben der Dichter selbst (wie be-
sonders bei dem von Eiuwental; vgl. meinen Aufsatz 'Die Neidhart-
legende', Zeitschrift f. d. Alt. 31, 64; sonst vgl. Allgem. d. Biog. 23, 396;
Erich Schmidts Charakteristiken 2, 25). Natürlich können auch beide
Formen zusammenwirken, wie etwa in der Sage von den Sieben Meistern
der Singschule, in gewissem Sinn auch in der vom Wartburgkriege. Auf
jeden Fall sahen wir in der Tannhäuserlegende eine zwar besonders
merkwürdige, aber keineswegs vereinzelte Erscheinung innerhalb einer
zusammenhängenden Bewegung, die an den Untergang des Minnesangs an-
Taunhäuser und die Tannhäusersage. .')
knüpft und die man geradezu die 'Dichterheldensage' nennen könnte. —
Diese Anschauungen fasst z. B. meine Darstellung (AdB. 37, 385; wieder
abgedruckt in meinen 'Deutschen Charakteren' S. 60 f.) zusammen.
Sie erschien 1894. Drei Jahre später kamen die allerdings 'bahn-
brechenden Untersuchungen' von Gaston Paris und Verner Söderhjelm
(vol. Kluoe, Bunte Blätter S. 28 Anm.). Sie wirkten sehr laugsam auf die
deutsche Auffassung der Sage ein. Allerdings führte Fr. Kluge (Der
Venusberg; Beilage zur Allgemeinen Zeitung 1898, 123, 24. März, wieder
abgedruckt in seinen 'Bunten Blättern' 1908 S. 28 f.) im unmittelbaren An-
schluss an die beiden Romanisten die Untersuchung sofort in einem wichtigen
Punkt (Verhältnis des Sibyllenbergs zum Venusberg) weiter, und Erich
Schmidt (Tannhäuser: Charakteristiken 2, 24 f. 1901) sowie Karl
Reuschel (Die Tannhäusersage. Neue Jahrbücher 13, 653f. 1904) ver-
mittelten den heimischen Kreisen die fremde Anschauung, wobei sie jedoch
(wie später Ernst Elster, Tannhäuser in Geschichte, Sage und Dichtung.
Bromberg 1908) ihr Hauptinteresse der späteren Entwicklung zuwandten,
wie sie vor allem durch die Namen Tieck, Heine, Wagner bezeichnet
ist. Aber eigentlich brennend ward die Frage erst durch die verdienst-
volle Untersuchung von Heinrich Dübi in dieser Zeitschrift (17, 249f.
1907) und durch den Vortrag von Fridrich Pf äff auf der Baseler Philologen-
versammlung (1907. Kurzes Referat in den Verhandlungen der 49. Ver-
sammlung deutscher Philologen und Schulmänner S. 104 f.). Die Jahre
1897 und 1907 können als kritische Tage der Tannhäuserlegende be-
zeichnet werden. — Mit zum Teil ganz neuen Ansichten schritt endlich
(in dem angeführten Werkchen) Nyrop, wie ich glaube, aus der Bahn
der Forschung heraus, die nach den Früheren G. Paris, Söderhjelm,
Kluge, Dübi, Pf äff festgelegt haben; bis sich dann P. S. Barto (Journal
of English and Germanic Philology 9, 293) ganz vom Wege verlor.
(Wertlos ist nach Boltes freundlicher Mitteilung Wattez, De legende
van T., Verslagen der k. vlaamsche Academie te Gent 1909, S. 127f.).
Wir müssen nun Tatsachen und Hypothesen unterscheiden.
1. Festgestellt ist durch die angeführten Forscher:
a) In Italien gab es früh die Ortssage von einem Berg der Sibylle.
Von ihm erzählte zuerst (nicht, wie Pfaff S. 106 meint Pietro Bersuire
gest. 1362, vgl. Kluge S. 32, sondern) Andrea dei Magnabotti in seinem
Roman Guerino il Meschino (vgl. Kluge S. 46 f., Dübi S. 250, Nyrop
S. 66f.) und besonders eingehend Antoine de la Säle (geb. 1387) in
seiner Salade „einer Erziehungsschrift für Johann von Anjou, den Sohn
des Königs Rene" (vgl. Kluge S. 37 f., Dübi S. 252 f., Nyrop 8. 46 f.).
Dieser hat 1420 seine Forschungsreise auf den Monte della Sibilla gemacht
und 1438 — 1442 sein Werk niedergeschrieben (Kluge S. 43, Nyrop S. 46).
Beide erzählen, dass in der Grotte dieses 'Paradieses der Sibylle', wie de
la Säle sagt (Dübi S. 253; vgl. Nyrop S. 53f.), die Sibylle mit ihren
1*
4 Meyer:
Frauen in grosser Pracht lebt. Dorthin kommt der Romanheld Guerino;
aber durch einige Einsiedler gewarnt, lässt er sich nicht verführen ein
ganzes Jahr dort zu bleiben — dann hätte er ewig bleiben müssen und
wäre am Jüngsten Tage verdammt worden. „Und bald beobachtet er.
wie die Bewohner des Feenreiches sich alle Samstage in Schlangen und
Nattern wandeln und erst Montags früh, wenn der Papst in Rom seine
Messe endet, wieder ihre menschliche Gestalt annehmen'1 (Kluge S. 48).
Alitome de la Säle berichtet von einem deutschen Ritter, der eindrang;
„man darf 9 oder 30 oder 330 Tage bleiben. AVer den letzten Termin
verstreichen lässt, muss ewia- im Berge bleiben" und würde verdammt
werden. „Jeden Freitag um Mitternacht werden die Königin Sibylle und
ihre Frauen zu Ottern und Schlangen und bleiben so 24: Stunden lang'-.
Am letzten erlaubten Tag entflieht der Ritter, dem seine Dame eine ver-
gette d'or (goldenes Stäbchen nach Kluge S. 44 und Erich Schmidt S. 29,
Ring nach Gaston Paris) mitgibt. Er pilgert zum Papst; nach dem einen
wäre dies Innocenz VI. v. J. 1352, nach dem andern Urban V. v. J. 1362
oder VII. v. J. 1377 gewesen." Der Papst, obwohl erfreut über die Reue,
verweigert, „um ihn noch mürber zu machen", die Absolution und jagt
ihn fort. Der Ritter, von seinem Knappen noch verhetzt, kehrt ins
Sibyllenparadies zurück und meldet dies Hirten, die er trifft und denen
er einen Brief an den Papst mitgibt (Dübi S. 254 f.).
Spätere Zeugen wie Luigi Pulci (1488) im 'Morgante Maggioiv"
und Bernardino Bonavoglia erzählen nur allgemein von Besuchen in
der Sibyllengrotte (Dübi S. 257, vgl. S. 57), worauf auch Ariosto, Are-
tino und andere anspielen (ebd. S. 258). Von solchen Besuchen zeugen
auch die durch de la Säle (Dübi S. 255, Erich Schmidt S. 28, Nyrop S. 60)
aufgezeichneten Felsinschriften, worunter die eines Her Hans Wauban-
burg (Msc.) oder Waubranburg (Druck). Man dächte gern an einen
Hans von Brandenburg — ja wenn Johann der Alchemist (geb. 1403, gest.
1464; vgl. Hirsch, AdB. 14, 153) je in Italien gewesen wäre! — Einige
dieser Besucher sollen nicht wiedergekehrt sein. In Deutschland wird
die Kunde von der Sibylle im Berg durch den Wartburgkrieg (Ende
13. Jahrh.) vorausgesetzt, der erwähnt, dass Felicia, Sibyllen Tochter, mit
Juno und Artus im hohlen Berg lebe (Dübi S. 250, vgl. S. 263 Anm.;
Nyrop S. 117, Barto S. 3 12 f.).
In keinem dieser Berichte werden Tannhäuser oder Frau Venus genannt;
wodurch ihre Identität mit dem deutschen Ritter oder der Sibylle natürlich
noch nicht prinzipiell ausgeschlossen ist.
Eine Bearbeitung dieser Sage mit offenbar persönlichen Zutaten gibt
Fra Leandro Alberti 1550 (Dübi S. 258), der von der Grotte, dem schönen
Freudenreich, den Abschiedsgeschenken wie andere berichtet, aber a) die
Frauen jede Nacht in Schlangen verwandelt und ß) eine Art von
Reminiszenz an das Labyrinth einflicht: „Keiner ist gezwungen, über ein
Tannhäuser und die Tannhäusersage. .">
Jahr zu bleiben, nur dass jedes 'Jahr einer von den Eingetretenen bleiben
muss" (ähnlich Bersuire beim Pilatusberg: Kluge S. 32). Schon der Satzr
dass „diejenigen, welche das Königreich betreten, sich zuerst die Lieb-
kosungen dieser scheusslichen Reptile gefallen lassen müssen'', läuft dem
Geist der Sage völlig zuwider und ist rein märchenhaft.
Wir wiederholen als charakteristisch die Stichworte: Grotte im Berg
— Sibylle und Paradies — Ritter — Schlaugeii — Erlösung am letzten
Tage der Frist.
1)) Gleichfalls in Italien, im Herzogtum Spoleto im Gebiet von Norcia,
unmittelbar dem Sibyllenberg benachbart (Kluge S. 38), ist ein sagen-
reicher .,Berg des Sees der Königin Sibylle" oder „Berg des Pilatus-
sees". Von diesem berichtet zuerst jener Benediktinermönch Pierre
Bersuire (Kluge S. 32). Auch diesen Berg hat de la Säle besucht
(Dübi S. 59); später 1497 will ihn der kölnische Patrizier Arnold
von Harff besucht haben (Kluge S. 35; vgl. Dübi S. 60, Nyrop S. 60).
Auf ihm treiben Nekromanten ihr Wesen: noch Goethe im Faust II
(v. 10 439) spielt auf diese Nekromanten von Norcia an (Kluge S. 33 Anm.).
Hier kann man mit dem Teufel seinen Pakt schliessen, oder auch schon
früher elend untergehen. Aber mit Tannhäuser und Venus oder Sibylle
hat dieser Berg nichts zu schaffen, den übrigens von Harff in Wirklich-
keit so wenig besucht hat (Kluge S. 137 Anm.) wie Pulci die Sibylle
(Dübi S. 252). — Spätere Zeugnisse stammen aus dem 17. Jahrh. (Del
Rio: Kluge S. 51), auch aus Deutschland (1(577: Dübi S. 63).
C) Drittens ist aber auch in Italien ein Venusberg bezeugt. Das
wichtige erste Zeugnis hat Dübi (S. 251) hervorgeholt: der Züricher Chor-
herr Felix Hemmerlin erzählt 1497 zunächst ebenfalls vom Pilatussee
und dem Sibyllenberg; fährt aber dann fort: „dieser Berg heisst gemeinig-
lich Venusberg, weil Venus hier ihr Wesen treibe. In den Grotten sind
dämonische Wesen, Incubi und Succubi, in der Gestalt schöner Weiber,
die von irgend woher gekommene Männer betören.'' Ein einfältiger Mann
aus Schwyz hat bekannt, in diesen Bergen bei den unsaubern Geistern
ein Jahr in Wollust zugebracht zu haben. Dort war er in einem para-
diesischen Garten in vollem Jubel. „Aber ein wohlmeinender Greis warnt
beim Eintritt den Schwyzer und seine Gefährten, nicht über ein Jahr zu
verweilen, sonst müssten sie immer in dem Berge bleiben. Kr wiederholt
die Warnung nach einem Jahre, das den Erschrockenen wie ein Monat
verflossen ist." (Diese doppelte Warnung ist offenbar ein später Zug:
nach Ablauf eines Jahres war der Berggast verloren). — Der arme .Mann
war sehr zerknirscht, weshalb Hemmerlin ihm Absolution vermittelte.
Wahrscheinlich war es aber wohl nur solch ein 'vindaere wilder maere'
von der Art derer, 'die mit den ketenen liegent und stumpfe sinne
triegent', wie Hans Wohlgestanden, der 151)9 in Luzern in den Turm
gelegt wurde, weil er im Venusberg gewesen sein wollte (Dübi S. 260),
0 Meyer:
oder die Fahrenden, die sonst damit renommierten wie Herigers propheta
.mit dem Aufenthalt im Himmel (vgl. Klug«' S. 67). Dennoch ist zu beachten.
dass der Schwyzer mit zwei Gefährten aus Alemannia eingedrungen sein
will (Dübi S. 252). — Hemmerlins Buch ist seit 1456 handschriftlich, seit
1497 allgemein verbreitet (ebd.), geht aber auf die Jahre 1410 — 141:»
zurück.
Es foh»t angeblich ein erlauchter Gewährsmann: Enea Silvio
Piccolomini, später Papst Pius II. (Kluge S. 31, Erich Schmidt S. 29,
Dübi S. 2.56, Nyrop S. 83). Ein kursächsischer Leibarzt hatte angefragt,
'an Veneris montem apud Italiam sciret; nam ibi magicas artes tradi."
Aber er weiss nichts davon und denkt nun an den Sibyllensee bei Norcia.
wo Nekromantie getrieben wird. Und so ist er eigentlich ein Zeuge
gegen den italienischen Yenusberg. — Dagegen berichtet der Zürcher
Dominikaner Felix Faber in seinem Evagatorium (nach 1483; Kluge
S. 57, Dübi S. 259, Nyrop S. 84), nach dem Muster eines ersten Venus-
berges auf Paphos sei unter andern auch von einem solchen in Toskana
gefabelt worden, „in welchem die Frau Venus mit Männern und Frauen
den Lüsten fröhne". Von ihm vielleicht abhängig erklärt 1486 Bernhard
v. Breitenbach, nur auf Cypern sei die wahre Venusgrotte und der
Venusberg, Tuscien habe Venus nie gesehen (Kluge S. 134), und ganz
ebenso der Luzerner Junker Melchior Zurgilgen noch 1519, der wieder
den hohen Frau-Venusberg für Paphos reklamiert: „wan da hat sy
gewonet und das lant Tustraam (lies Tusciam) also genant nie
gesehen" (Dübi S. 260).
Hemmerliu, Breitenbach, Zurgilgen erwähnen Tannhäuser nicht, wohl
aber Faber, der ausdrücklich „ein Volkslied, das allgemein in Deutsch-
land gesungen werde", auf den italienischen Venusberg bezieht und hierbei
den Helden für einen schwäbischen Ritter, Danhuser von Danhusen bei
Dünkelsbühl, erklärt (Dübi S. 259). Erst hier also haben wir den Anschluss
der italienischen Legende an die Tannhäusersage erreicht.
d) Früher als Faber Tannhäuser in den italienischen Venusberg
bannt, wird dieser in Deutschland (Dübi S. 257; Barto S. 302) ohne
Lokalisierung erwähnt, ohne Verbindung mit Taunhäuser schon 1357, in
Verbindung mit ihm zuerst 1453 in der 'Mörin' Hermanns von Sachsen -
heim (vgl. Nyrop S. 13), wo 'der Tanhuser uss Frankenlant' als Gemahl
der Königin Venus im Paradies des verzauberten Berges lebt und dir
treue Eckhart, „der eigentlich die Treue verteidigen sollte, die Untreue
verteidigt" (\V. Menzel, Deutsche Dichtung 1, 379). Die Lokalisieruni:
fehlt gleichfalls (Dübi; Barto S. 305) in dem Meisterlied von Tannhäuser,
„wo dieser seine Reue darüber ausspricht, dass er in den Venusberg ge-
gangen sei, und erzählt, der Papst Urban IV. habe ihm die Absolution
verweigert, er hoffe aber auf die Gnade Gottes." Das Meisterlied hat
(ioedeke ins 15. Jahrh. verlegt; Bolte hält dies aber (nach freundlicher
Tannhäuser und die Taiuihäusersage. 7
Mitteilung-) für irrig. „Dasselbe Lied 'Frau Venusin wie hastu mich' steht
nämlich in einer anderen Meisterliederhs. des 17. Jahrh. mit dem Datum 1541.'
d. 26. Mai (Nürnberger Stadtbibl. Will III, 782 fol. S. 1128: 'Der Dan-
häusser im Yenusberg. Im langen Ton Bangratz Danhäusers'), leider ohne
Verfassernamen. Dass es aber nicht von Haus Sachs herrühren kann, zeigt
das alphabetische Register im letzten Bande von Keller-Goetzes Ausgabe.
Man darf also nicht mit Goedeke das Meisterlied als ein Zeugnis für ein
frühes Stadium der Tannhäusersage ansehen, sondern für eine Schöpfung
des 16. Jahrh., die das Volkslied iu ähnlicher Weise ausnutzt wie der
Dialog bei Keller." Dieser Dialog „der Tanhauser der gibt eyn gut 1er"
(Fastnachtspiele, Nachlese 1858, S. 47), auf den mich Bolte freundlich
aufmerksam machte, hat zum Gegenüber Tannhäusers nicht Venus, sondern
Frau Welt. „Venus erscheint gesellt mit Welt und Asterot wie in der
bekannten mittelalterlichen Trias Mundus, Caro, Daemonia (R. Köhler,
Kl. Schriften 2, 141), und die Hervorhebung der hier allein das Wort
führenden Welt entspricht nicht bloss der von Wirnt von Gravenberg ge-
schilderten Gestalt der Frau Welt, sondern noch mehr den dramatischen
Dichtungen (Zs. f. d. Phil. 21, 479f.), in denen nicht Venus, sondern
(Herr oder Frau) Mundus als Wirt in dem verderblichen Hause der
irdischen Lüste erscheint; in dem 'Irdischen Pilger des Joh. Heros
(1562) tritt Venus als eine Tochter der Welt auf, und der Held ist eine
Art Tannhäuser".
So sicher hier auch Bolte den späten Ursprung der beiden Gedichte
nachweist, gute Tradition möchte ich doch nicht ganz in Abrede stellen.
Das Gedicht 'Tanhauser und die Welt1 besitzt nicht nur auffallend alter-
tümliche Formeln (v. 20: 'das hat mich in ein traueren bracht': Minnesangs
Frühling 35, 22), sondern die Situation selbst, Tannhäusers Abschied von
der Welt (bes. v. 21 f.) • scheint noch eine Erinnerung an die eigentliche
Wurzel der historischen Tannhäusersage (nach unserer Auffassung), an
das Busslied des Minnesängers zu bewahren. (Eine direkte Bezugnahme
auf das ihm zugeschriebene Lied der Weltflucht, v. d. Hagens Minne-
singer 3, 48, ist selbstverständlich nicht vorhanden.) — Ebenso könnte in
dem Meisterlied der Hinweis auf die Tafelfreuden (v. 15 auch find man da
nach luste freudenreiche den lust in aller speis gemein) einen Nachklang
an des Sängers Freudenliste (MSH. 2, 96; XIV Str. 3) enthalten; freilich
ist auch im Sibyllenberg des Wartburgkrieges für reichliche Bewirtung
iresoro-t. Im übrigen enthält die Schilderung der Freuden in beiden Ge-
dichten nur formelhafte Züge (Ähnlichkeiten in der Blumenpracht Tann-
häuser und Welt v. 14: MSH. 2, 84; III Str. 3) sind zufällig. Aber
immerhin stehen auch sie noch in der Tradition; und dass der Venusberg
noch nicht lokalisiert ist (Tannhäuser und Welt v. 27; vgl. im Meisterlie.l
v. 10 „im Yenusberg") spricht besonders für eine ältere Vorlage des
Dialogs. Ebenso mangelt die Annahme eines bestimmten Yenusberg'-
8 Meyer:
dem Volksliede (Nachträge bei Erich Schmidt S. 31 f.), um 1515 auf-
gezeichnet.
e) Später finden sich dagegen in Deutschland verschiedene Venus-
berge (Elster S. 7, Pfaff S. 105); zu Uffhausen bei Baden soll die Sage
noch fortleben (Dübi S. 26; vgl. Pfaff S. 109). Dagegen ist der Hörsel-
berg wahrscheinlich erst später in die Tannhäusersage gebracht worden
(Xyrop S. 115 f.; vgl. S. 99, Elster S. 7).
Zwei besondere Bestandteile der Sage müssen noch eigens betrachtet
werden: der treue Eckart und der Stab.
f) Eckart (vgl. Erich Schmidt S. 30, Kluge S. 54 und bes. S. 45,
Elster S. 10) wird zuerst von Hermann v. Sachsenheim ausdrücklich
genannt, später auch von Hans Sachs. Im Volkslied bezieht man auf ihn
(Kluge S. 45 Anm.) mit grosser Wahrscheinlichkeit den Vers 15, 4 (bei
Unland, Volkslieder Nr. 297 a).
Danhauser, ir sölt urlob hau,
mein lob das sölt ir preisen,
und wa ir in dem land um fart,
nemt urlob von dem greisen!
&x
oder noch deutlicher in der Fassung von 1550 (ebd. Xr. 297 b, 16, 2):
Danhuser, gi wilt orlof haen,
nemet orlof van dem grisen!
wor gi in den landen varen,
unse loff dat schölle gi prisen.
Immerhin ist die Beziehung nicht sicher, und die Verschiebung liesse
die Frage offen, ob nicht erst die spätere Interpretation aus dem Greisen
in die Welt draussen den im Berg gemacht hat. An eine allgemeine
W'eisheitsregel wie Parzival 127, 21 wird man ja nicht denken, wo dem
in der Welt fahrenden jungen Ritter Ehrfurcht vor den Greisen, die er
draussen treffen wird, anempfohlen wird. Wohl aber könnte ursprünglich
der Papst gemeint sein, auf den ja in der nächsten Strophe Tannhäuser
seine Hoffnung setzt. Der ursprüngliche Sinn von Str. 15 wäre dann:
„Ich verabschiede euch, Tannhäuser, damit ihr mein Lob verkündet, wo
ihr auch in der Welt umherfahrt, und von dem Greis draussen (Euphe-
mismus) euch wieder verabschiedet." Oder es könnte an einen Begleiter
Tannhäusers gedacht werden, wie denn de la Säle (vgl. Dübi S. 254) von
einem Knappen des Ritters erzählt, der im Berg zurückbleiben möchte.
Ich gebe aber gern zu, dass die Beziehung auf den WTarner im Berg, von
dessen Warnen wir freilich nichts erfahren, viel ungezwungener ist. Aber
dass es der getreue Eckart sei, wird jedenfalls nicht gesagt; so wenig
wie der Wilde Alexander in seiner schönen Elegie den Namen des war-
neiiden waltwisen (MSH. 3, 30b Lied 5, Str. 3) nennt. [Vgl. auch
Wickram, Werke 5, XLVIIIf.] — Die Eremiten, die den Guerino warnen
Tannhäuser und die Tannhäusersage. 9
(Kluge S. 46, Dübi S. 250, Nyrop S. 67), dürfen eben ihrer Mehrzahl
wegen mit dem Eckart der deutschen Sage nicht gleichgesetzt werden.
g) Der grünende Stab (vgl. Erich Schmidt S. 34, Elster S. 8, Pfaft
S. 107) fehlt bei de la Säle (Kluge S. 43) und kann mit der goldenen ver-
gette vielleicht (ebd. S. 44) verknüpft, jedenfalls nicht identifiziert wrerden.
Für die deutsche Tannhäusersage ist er zum besondern Kennzeichen ge-
worden, während er allen italienischen oder auf Italien bezüglichen Be-
richten mangelt. (Dass er dem Meisterlied fehlen muss, ist etwas ganz
anderes; vgl. u. S. 27).
Diese sieben Tatsachenbündel enthalten, soviel ich sehe, alle lite-
rarischen Fakta, die bis jetzt zur Entwicklung der Tannhäusersage vor-
gebracht sind. Zur bequemeren Übersicht lasse ich noch ein chronologisches
Verzeichnis der Belege folgen, wobei ich von den späten und unzweifel-
haft „gelehrten" Aussagen des 17. Jahrh. (vgl. Kluge S. 51, Dübi S. 63)
ebenso absehe wie natürlich von den dichterischen Bearbeitungen im
19. Jahrh. (vgl. Nyrop S. 40 Anm.).
1. Tannhäuser lebt etwa 1268. 9. Tannhäuser und die Welt?
2. Wartburgkrieg, Ende des 13. Jahrh. 10. Felix Paber 1480—83.
3. Pietro Bersuire, gest. 1362. 11. Bernhard v. Breitenbach i486.
4. Guerino il Meschino 1391. 12. Luigi Pulci 14H8.
5. Pelix Hemmerlin 1410—13. 13. Arnold v. Harff 1497.
6. Antoine de la Säle 1438—42. 14. Tannhäuserlied 1515.
7. Die Mörin 1453. 15. Zurgilgen 1519.
8. Vorlage des Meisterliedes von 16. Alberti 1550.
Tannhäuser? 17. Wohleestanden 1599.
■.-'
Das •Xichtzeucmis' des Enea Silvio fällt ins Jahr 1431.
2. Wir kommen zu den Vermutungen, die man an diese Berichte und
Tatsachen geknüpft hat. Es sind zwei Hauptgruppen zu scheiden.
a) An dem deutschen Ursprung halten insbesondere Erich Schmidt
(S. 30) uud Elster (S. 7) fest. Erich Schmidt „vermutet trotz G. Paris
mit Söderhjelm und Kluge Lokalisierung der vorhandenen Tannhäuser-
sage durch deutsche- Reisende, nicht Verpflanzung aus Italien". Doch ist
sein Standpunkt mit dem Kluges nicht identisch:
a) Erich Schmidt und Elster halten sowohl die Tannhäuser sage als
auch den Venusberg für autochthon.
ß) Kluge hält die Tannhäusersage für alt, den Venusberg aber (vgl.
S. 50) für Entlehnung; ähnlich, wie es scheint, Pfaff (S. 106f ).
b) Dagegen halten Dübi und Nyrop die gesamte Sage für gelehrtes
Lehngut, doch wieder mit verschiedenen Nuancen:
n) Dübi meint, dass die Tannhäusersage aus Italien durch die Schweiz
nach Deutschland gewandert sei (S. 264) unter Anknüpfung an den in
der Schweiz vorkommenden (Luzernischen) (ieschlechtsnamen Tannhuser
(S. 261).
10 Meyer:
ß) Nyrop glaubt an dieselbe Wanderung-, hält jedoch den Namen
Tannhäuser für einen rein äusserlichen Zufall (S. 76). Übrigens sucht er
über Italien noch weiter nach Frankreich und zu der keltischen Sage
zurückzugehen (S. 91: „für mich steht das über allem Zweifel" S. 99),
worauf wir hier nicht einzugehen haben.
y) Nur anhangsweise erwähne ich die dritte Nuance: Barto (bes.
S. 31 8 f.) leitet die gesamte Tannhäusersage in der willkürlichsten Weise
von der Grallegende ab, eigentlich nur, wreil auch in dieser (wie so oft
sonst) die Bergentrückung vorkommt: nach Dietrich von Niem (1410) ist
nahe bei Puteoli (im Neapolitanischen) ein Berg der hl. Barbara zu sehen,
'quem delusi multi Alemani in vulgari appellant der Gral, asserentes,
pro u t etiam in illis regionibus plerique autumant, quod in illo multi sunt
homines vivi et victuri usque ad diem iudicii, qui tripudiis et deliciis
sunt dediti, et ludibriis diabolicis perpetuo irretiti'. Barto selbst nimmt
(S. 316) Vermischung von Yenus- und Gralberg an und behauptet (wie
wir) mit ganz guten Gründen gegen Kluge (S. 307) den deutschen Ursprung
der Sage (S. 310). Seine Nachweise des Zusammenfliessens von Arthur
und Tannhäusersage etwa bei Fischart (S. 319) bringen nichts Neues, da
diese Tatsache ja längst durch den Wartburgkrieg (vgl. Barto S. 312)
bezeugt ist. Ein Versuch, das Eindringen Tannhäusers in den Venusberg
oder das Aufkommen des Namens Venusberg überhaupt zu erklären, wird
nicht gemacht. Es bleibt also von Bartos Behauptungen nichts übrig als
die Möglichkeit, dass Arthurs Entrückung in den Berg auf die italienischen
Sagen Einfluss ausgeübt haben kann: denn für diese ist das lustige Treiben
einer Masse bezeichnend, für die deutsche Tannhäusersage der Aufenthalt
des einzelnen Ritters in Venus' Armen. Somit dürfen wir von Barto ab-
sehen und uns auf jene vier Hypothesen (Ericli Schmidt-Elster, Kluge-
Pfaff, Dübi, Nyrop) beschränken.
Es ergeben sich somit zwei Hauptfragen: 1. Geht unsere Tannhäuser-
sage auf die Person des Dichters zurück? 2. Ist der Venusberg deutschen
oiler italienischen Ursprungs?
1. Tannhäusersage.
Es ist noch die Vorfrage zu beantworten, welche Bestandteile denn
die Tannhäusersage ausmachen? Hierauf antwortet Pfaff (S. 105):* drei
Grundstoffe: Erlebnisse des Tannhäuser, Sage vom Venusberg, Legende
vom Stabwunder. Allein diese Fassung, obwohl sie das Richtige meint,
setzt doch bereits voraus, dass biographische (oder pseudobiographische)
Motive aus dem Leben des Dichters verarbeitet sind; wir müssen deshalb
anders formulieren. — Die Tannhäusersage ist nach dem allgemeinen
Urteile vor allem in dem Volkslied enthalten. Auf dies gehen eben-
sowohl die späteren Ortssagen wie die neuere Dichtung zurück; und
schon Felix Faber bezieht die Sage auf das Lied. Für dessen Inhalt
Tannhäuser und die Tannliäusersage. 1 1
nun sind drei Motive wesentlich: die Erlebnisse des Ritters, der Venus-
berg, das Wunder des grünenden Stabs. Dies letztere vor allem gibt,
mit Paul Heyse zu reden, der Lovelle' ihren 'Falken*: wie der dürre
Srab ausschlägt, während der reuige Sünder schon wieder, Verstössen, in
das Sündenparadies zurückgekehrt ist.
Hino-eo-en dürfen wir den «-etreuen Warner nicht als gleich wesentlich
ansehen: er ist nur für die Frage der Filiation unserer Berichte wichtig.
Aber er ist in dem Lied nur eben angedeutet und hat übrigens auch bei
den späteren Dichtern, die wir als Interpreten der Legende nicht gering
schätzen dürfen, keine besondere Bedeutung errungen. Auch ist zu be-
denken, dass die Figur lange schwankt: Hemmerlins zweimalige Warnung
ist so sonderbar wie die Mehrzahl der warnenden Einsiedler bei de la Säle;
der Name taucht spät auf und ist nicht auf die Tannhäusersage beschränkt.
Ebensowenig dürfen wir die antipäpstliche Tendenz des Liedes
(Erich Schmidt S. 83, R. M. Meyer S. 387) für einen integrierenden Be-
standteil erklären, mag sie auch alt sein (Kluge S. 46); noch weniger
werden wir sie freilich mit Pfaff (S. 106) durch den Mythus vom ver-
derblichen Anblick des Heiligen wegerklären wollen.
Es bleibt also die Formel: ein Ritter weilt unter Freuden im Venus-
berg; ihn packt die Reue; er zieht zum Papst, der die Absolution ver-
weigert, weil sein Verbrechen so wenig zu sühnen sei, wie der dürre
>tab in der Hand des Stellvertreters Christi wieder blühen könne. Der
Ritter kehrt in den Berg zurück, und zu spät zeugt die blühende Gerte
für Gottes Milde.
Diese Formel passt unverändert auf das Volkslied; mit leisen Modi-
fikationen auf de la Sales deutschen Ritter (Dübi S. 254; vgl. Nyrop S. 65).
Hier sind allerlei Erweiterungen vorhanden: der Knappe; die Bedingung
einer bestimmten Frist (auch bei Guerino, ebd. S. 250); die Verwandlung
in Schlangen; der goldene Talisman; endlich des Papstes Absicht, den Ritter
zu absolvieren. Diesen letzteren Zug hat man wohl unzweifelhaft so auf-
zufassen, wie er von den Forschern aufgefasst worden ist: als einen (unge-
schickten) Versuch, den Papst zu exkulpieren. Die antipäpstliche Tendenz
wird vorausgesetzt, denn ohne ihr Vorhandensein wäre dieser ganze Intrigen-
roman von der missglückten Absicht des Papstes, der Intervention des Kar-
dinals, der betrügerischen List des Knappen; der Begegnung mit den Hirten
und dem Brief an den Stadthauptmann von Monte Monaco überflüssig; aber
sie soll beseitigt werden. — Auch die andern Züge widerstreiten dem
Inhalt des Volksliedes nicht; es sind nur eben epische Zusätze zur Ballade.
Der Ritter ohne Knappen erscheint nicht mehr denkbar; der Abscheu des
frommen Verfassers vor der Verführung muss so stark wie in Wirnt
von Gravenbergs Bild der Frau Welt akzentuiert werden; die Frist als Ersatz
der seelischen Regung könnte sogar leicht ursprünglicher sein als diese
(vgl. auch Meisterlied II v. 1 f.). Es verbleiben also nur zwei, wie es
12 Meyer:
scheint, unwesentliche Differenzen: der Name des deutschen Ritters bleibt
ungenannt, und statt Frau Yenus treffen wir die Sibylle. — Wir können daher
an einem Zusammenhang- zwischen dieser Erzählung und dem Tannhäuser-
lied allerdings nicht zweifeln. Aber auf eine Vergleichung dieser
beiden Berichte hat sich die Sagenkritik auch fast aus-
schliesslich zu stützen. Denn
1. Alberti (Dübi S. 258) gibt den gleichen Bericht, mit einigen
geringen Modifikationen (oben S. 12), wenn auch Nyrop S. 70 diesen Bericht
für 'ganz unabhängig' erklärt!
2. Hemmerlins (Dübi S. 251) Gewährsmann setzt ebensolche Be-
richte voraus und scheint durchaus abgeleitet.
3) Andrea daBarberino oder dei Magnabotti gibt ein absichtliches
Gegenstück „zu einem Helden, der in den Freuden des unterirdischen
Paradieses aufgeht und schliesslich dafür die ewige Seligkeit verwirkt"
(Kluge S. 48; ebenso Nyrop S. 69; vgl. Dübi S. 251).
Man darf also nicht mit der Masse der auf Italien weisenden Berichte
operieren; wir kennen vielmehr nur eine Version der italienischen Tann-
häusersaae, die bei de la Säle ziemlich rein, bei Alberti und Hemmerlin
wenig modifiziert, im Guerino wie in Spiegelschrift geschrieben vorliegt.
Die übrigen Berichte aber, der Vers des Wartburgkriegs, die Mörin, Arnold
v. Harffusw. kommen wohl für den Ursprung des Venusbergs in Betracht,
nicht aber für die Tannhäusersage als solche. Im wesentlichen ist also aus
de la Säle (und Andrea) einerseits, dem Volkslied andererseits die Frage
zu beantworten, ob der Ritter von vornherein „Tannhäuser" ist.
„Von vornherein" — aber auch hier ist auf diesem Pfad, wo überall
sagenvergleicherische Fussangeln liegen, eine Verwahrung nötig. Y\ tr
sprechen nur von der Tannhäusersage als solcher, wie unsere Formel sie
in nuce enthält. Nicht einzugehen ist auf ihre Vorgeschichte. Da kann
man über Nyrops lai au Guingamor (S. 94—108) und dessen keltische
Quellen (S. 99) noch weit zurückgehen, wie der dänische Forscher (S. 103)
auch selbst andeutet. Das Motiv des in seliger Gefangenschaft sich ver-
liegenden Helden ist uralt. Böhme (Altdeutsches Liederbuch S. 84) er-
innert gut an Odysseus bei Kalypso; aber in der Odyssee selbst wird das
gleiche Motiv bei den Lotophagen noch einmal gestreift. Wir finden es
in der heroischen Novellistik als Sieg der Zauberin über den Helden:
Herakles bei Omphale, Ingjald bei der Sachsenprinzess, Rinaldo bei
Armiden; es mag auch in der Überlistimg <\<>s Zeus durch die mit Aphro-
ditens Gürtel ausgerüstete Hera mitklingen. In anderer Gestalt liegt es
in der Verzauberung des Ritters vor, der ins Elfenland gerät, und so in
manchen Volksliedern, die Unland (Schriften 4, 263 f.) dem Tannhäuser-
lied angenähert hat. Aber eben: dies sind uralte Sagenschemata, die in
die Tannhäusersage als Elemente eingegangen sind: genau wie das Motiv
der blühenden (ierte. Wo also die „Verzauberung in den Berg der
Tannhiiuser und die Tannhäuseisage. 13
Wonne" oder das Stabwunder isoliert oder auch in anderer Verbindung-
vorliegen, da haben wir die Tannhäusersage nicht. Unsere Frage meint
also nur: Ist in der Erzählung von dem Ritter im Berg der Wonne, der
zum Papst vergeblich pilgert, aber dem Gott das Zeichen seiner Gnade
mit der blühenden Gerte gibt, ist in dieser Erzählung der Ritter von
vornherein Tannhäuser, oder ist sie erst später (sei es auf den Dichter, sei
es auf einen andern, z. B. schweizerischen) Tannhäuser übertragen worden?
Dass der Dichter des 13. Jahrb. gemeint sei, nehmen die meisten
Forscher als selbstverständlich an; so Erich Schmidt (S. 26), Elster
(S. 3. 9), Pfaff (S. 108); selbst Nyrop scheint (S. lf.) ursprünglich von
dieser Anschauuni;' ausgegangen zu sein. Mit dieser Annahme ist aber,
wie mir scheint (obwohl Pfaff diese Folgerung nicht sieht), über den
Ursprung entschieden; denn von dem Minnesinger wusste man nach einem
Jahrhundert, wenn er eben nicht in die Volkssage übergegangen war,
gewiss nicht genus;, um eine um 13!) 1 (wo Andrea die wahrscheinlich
frisch auftretende Sage parodiert) oder jedenfalls nicht lauge vor 1350
entstandene fremde Sage auf ihn zu übertragen. (Selbst Nyrop S. 66
setzt die italienische Legende nicht früher an). Wenn der Minnesinger
der Träger der Fabel ist, dann, scheint mir, ist ihr deutscher Ursprung
sicher — wenn auch damit noch keineswegs der einheimische Ursprung
des 'Venusbergs'.
Was spricht nun für und was gegen die Identität des Sagenhelden
mit dem Minnesinger?
a) Für die Identität glaube ich in meinem Aufsatz in der Allgem.
deutschen Biographie (37, 387) starke, ja durchschlagende Gründe ange-
führt zu haben. Freilich ist diese Arbeit nirgends beachtet worden, auch
nicht von Nyrop, der doch bei seiner radikalen Ansicht am sorgfältigsten
die Gegengründe hätte prüfen sollen. Aber wäre er ein Deutscher, hätte
er diese literarische 'Walhalla1 wahrscheinlich auch nicht aufgesucht, die
ebenso berühmt ist und ebenso sehr aus dem Weg gelegen scheint wie
die bei Regensburg!
Dass das Nebeneinander von sehr lockeren, epikureischen Liedern
und einem (echten oder unechten) Busslied vortrefflich (besonders auch zu
dem Dialoggedicht, siehe oben S. 7) stimmt, ist oft hervorgehoben worden,
am schönsten von Erich Schmidt (S. 28): „So erscheint er als romantischer
Herkules auf dem Scheideweg zwischen niederer und hoher, höllischer
und göttlicher Minne, zwischen der heidnischen Buhle, die allen sünd-
haften Reiz, und der [im Liede augerufenen] christlichen Himmelskönigin,
die alle sühnende Reinheit und emporflügelnde Heiligkeit des Ewig-
Weiblichen verkörpert."
Aber dieser Gegensatz war immerhin auch bei Neidhart vorhanden;
nur dass bei diesem die bäurische Minne eine bestimmte Entwicklungs-
tendenz der Sage vorzeichnete. Beim Tannhäuser gehen die Berührungen
] 4 M eyer :
mit unserm Sagenhelden weit über dies — an sieh entscheidende —
Grundmotiv hinaus. Er hat mit der beliebten Formel der 'unmöglichen
Frist' gern gespielt: die Dame will den Ritter erhören, wenn er den
Apfel des Paris bringt, oder den Gral (vgl. Elster S. 4). Er erzählt von
seinen Abenteuern im Walde; er erwähnt den Apfel der Venus.
Ferner: das Lied nennt Urban IV., der tatsächlich 1261 — 1264 re-
gierte und keineswegs so berühmt war, um hinein erfunden zu werden.
Dass de la Säle andere, spätere Päpste nennt, entkräftigt natürlich nicht das
Argument, wenn das Volkslied Urban IV. nenne, müsse es bald nach
Tannhäusers Zeit entstanden sein (so z. B. Erich Schmidt). Nur Nyrop
hat (S. 76) mit recht seltsamer Logik diese Folgerung zu erschüttern, ja
ganz zu leugnen gesucht. Erst meint er allgemein, solche Angaben seien
oft ganz zufällig oder willkürlich. Aber wenn sie gut stimmen, ist doch
einfacher anzunehmen, sie seien motiviert! Oder soll mit dem 'Prinz
Eugen* vor Belgrad nur gerade der von Savoyen nicht gemeint sein? Ja,
es stimmt aber auch nicht, fährt Nyrop fort; denn Tannhäuser ist um 1205
geboren und wäre also 1261 — 1269 zu alt gewesen, um vom Venusberg
nach Rom zu pilgern: „unzweifelhaft würde das Abenteuer zu einem be-
deutend jüngeren Mann besser passen". Das heisst denn doch recht vor-
urteilsvoll im ersten Satz Willkür zulassen und im zweiten Pedanterie
fordern. Tatsächlich liegt doch aber die Sache sehr einfach. Der Dichter
ist um 1268 gestorben, und die Sage ist. natürlich nicht vor seinem Ver-
schwinden entstanden, aber in einer Periode, in der man sich des Papstes
noch erinnerte, der zu seiner Zeit gelebt hatte — während Urbans
Reo-ierungszeit hätte man das Lied kaum mit seiner Verdammnis zu
schliessen gewagt. Möglich ist ia auch, dass Tannhäuser selbst einmal
den Namen des Papstes erwähnt hat; lieben doch die Fahrenden mit
Fürstennamen zu prunken.
Statt einer so einfachen Erklärung meint Nyrop, der Name Urbans
habe sich 'schon' in Italien mit der Sage verbunden, und 'zufällig sei in
Deutschland aus de la Sales Urban V. oder VII. Urban IV. geworden (S. 77).
Der Zufall ist, wie bei der Erklärung des Namens Tannhäuser (S. 76),
eine recht gewaltsame Erklärung. Warum sollte das Lied nicht einen
jener beiden Urbane beibehalten, warum überhaupt einen genannt haben?
Wogegen es sich leicht begreift, dass de la Säle den Namen auf einen ihm
zeitlich näher stehenden Urban umdeutete, neben denen er ja in seiner
Vorsicht noch einen Innocenz nennt. Auf den alten gleich gewaltsamen
Versuch, den Namen 'Urban' als den des 'Stadtmenschen* aus dem Gegen-
satz zu dem Waldbewohner 'Tannhäuser' abzuleiten (und warum dann
l rban der Vierte?) brauche ich nicht einzugehen.
Weiter: Sagen über Minnesinger sind, wie schon erwähnt, so zahl-
reich vorhanden, dass auch unter diesem Gesichtspunkt die herkömmliche
Auffassung eine grosse Wahrscheinlichkeit besitzt.
Tannhäuser und die Tannhäusersage. 15
Endlich: die fremden Berichte sprechen durchweg von einem Deutschen
im Venusberg; so de la Säle, der seine Tannhäusergeschichte von einem
deutschen Kitter erzählt, nachdem er schon vorher von zwei Deutschen
berichtet hatte, die vor der ehernen Tür umkehrten (Dübi S. 254); ähnlich
der Simplicianus des Hemmerlin, der selbst aus Schwyz ist, aber „mit
zwei Gefährten aus Alemannia" in die Grotte eingedrungen sein will
(ebd. S. 252). Man sucht das aus dem Nationalcharakter zu erklären: die
Deutschen sind auf solche Abenteuer besonders erpicht (Dübi S. 254 nach
de la Säle) und überhaupt besonders reiselustig (Nyrop S. 7), Ist es nicht
einfacher und methodisch richtiger, die Nennung des deutschen Mannes
damit zu erklären, dass die Sage eben ursprünglich von einem solchen
erzählt wurde?
Somit spricht vieles mit triftigen Gründen dafür, dass die Tannhäuser-
sage ursprünglich von dem deutschen Ritter Tannhäuser erzählt wurde.
Was spricht dagegen?
b) Nyrop, der radikalste Gegner der Tannhäuser-Hypothese, hat nur
einen guten Grund vorgebracht, über den gleich zu handeln: das späte
Auftauchen der Sage. Dagegen kann in seiner Manier mit dem 'Zufall' des
Namens Tannhäuser, und dem 'Zufall' des Namens Urban und dem 'Zufall'
ihres Zusammentreffens nicht gerechnet werden. Wohl aber bleiben zwei
Einwände:
a) Tannhäuser wird verschiedenen Landschaften zugeschrieben.
Allerdings äussert Felix Faber (Dübi S. 259) wohl nur seine persönliche
Vermutung-, wenn er das Volkslied auf einen schwäbischen Ritter von
Danhusen deutet. Aber Hermann von Sachsenheim nennt 'Tanhuser us
Frankenlant' (ebd. S. 257), und auch bei Hans Sachs (1557) ist Herr
Danhauser aus Frankenland geboren (Erich Schmidt S. '60). Indes
schmelzen zunächst wieder beide Angaben in eine zusammen, da der
fränkische Meistersinger im 'Hoffgesindt Veneris' selbst von dem
schwäbischen Ritter abhängig ist (ebd.). Diesem aber wird man wohl
keine Quellenkunde zuschreiben: er hielt, mit gut mittelalterlicher Philo-
logie, wie Erich Schmidt bemerkt, den Minnesinger für einen Franken,
weil dem 'fränkische Städte wohlvertraut' waren. Übrigens ist auch
Neidhart von Riuwental, über dessen bayrische Heimat kein Zweifel
herrscht, später zu einem 'edeln Franken' geworden. Auch scheint es
wie in Luzern (s. u.) in Franken Geschlechter gegeben haben, die
seinen Namen führten: die Nürnberger Handschrift nennt den Ton des
Meisterliedes ja nach „Pankraz Tannhäuser". Tannhäuser gehört wohl
sicher dem bayrisch- österreichischen Gebiet au1), aber er hat das
nicht, wie der von Riuwental, durch zahllose lokale Anspielungen be-
glaubigt.
1) (Eine andere Ansicht vertritt jetzt Kluckhohu, Zs. f. d. Alt. 52, L58 Aniu. l.j
\Q Meyer:
ß) Es bleibt ein gewichtiges Bedenken: dass die deutsche Sage erst
1515 in vollentwickelter Form, erst 1453 in Andeutung auftaucht. Hierauf
legt Nyrop (S. 75) grösstes Gewicht; obwohl er selbst für die italienische
Sage höheres Alter fordert, als die Belege ergeben (vgl. S. 66). Dübi
(S. 257) sagt gar betreffs Urbans IV.: „Jedenfalls ist diese Angabe spät
und vereinzelt, beweist also nichts für deutschen Ursprung der Sage." —
Das Bedenken hat Gewicht, und wen lockte es nicht zunächst, die An-
spielung von 1453, das Meisterlied und die weitere Entwicklung an
Andrea da Barbarino (1391) und de la Säle (1438 — 1442) sowie den Deutschen
Hemmerlin (1410—1413; verbreitet seit 1456, im Druck seit 14137; Dübi
S. 252) anzuschliessen? — Indes ist doch gegen die Loslösung des Tann-
häusers im Meister- und Volkslied von dem Minnesinger zu viel vor-
zubringen, als dass wir uns diesem Bedenken gefangen geben dürften.
Haben wir uns doch längst von der Anschauung frei gemacht, als sei alle
Sage sofort literarisch; dürfen wir doch ruhig eine längere mündliche,
prosaische Überlieferung annehmen. Dann aber ist zu bedenken, dass die
Tannhäusersage vielleicht von Anfang an (so z. B. Elster S. 6), jedenfalls
aber seit lange eine antipäpstliche Tendenz erhält, die zur Vorsicht bei
der Verbreitung zwang. Wie ängstlich hält sich de la Säle! AVas um 1515
gedruckt werden konnte, Hess sich hundert Jahre früher nicht ohne Gefahr
handschriftlich verbreiten. Überdies darf hier immer noch mit grösserem
Recht von 'Zufall' gesprochen werden. Wie spät taucht nach jahrhundert-
langem Schweigen das Hildebrandslied auf! Wie lange sind die italienischen
Zeugnisse selbst, um die es sich in unserm Fall handelt, unentdeckt oder
unbemerkt geblieben!
Wir dürfen demnach, glaube ich, mit Bescheidenheit die erste Haupt-
frage (vgl. oben S. 29) dahin beantworten: die Tannhäusersage geht aller-
dings auf die Person des Minnesingers zurück. Die Entwicklung haben
wir uns so vorzustellen, dass der Dichter noch bei Lebzeiten, wie
Neidhart, oder bald nach dem Tode, wie im Norden Bragi der Alte, der
Held sagenhafter Vorstellungen wurde, die an seine eigenen Erzählungen
anknüpften, wie bei Neidhart, wie bei Franeois Yillon, wie bei Lord
Byron. Diese 'älteste Form der Sage' (vgl. Elster S. 6) enthielt
jedenfalls folgende Elemente: der Ritter ist im Venusberg. (Von seiner
Ankunft wird nichts berichtet; er mag verlockt worden sein, den Berg
des Paradieses aufgesucht haben oder durch Zufall hineingeraten sein.
Das letzte, wie in den Liedern von Oluf u. dgl., ist das wahrscheinlichste,
lässt auch seine Sünde am ehesten als sühnbar erscheinen). Hier geniesst
er alle Freuden des Gatten, alle Ehren des Königs. Nach längerer Zeit
aber treibt es ihn in die Ferne. (Das Motiv kann die Reue und Angst
allein gewesen sein; oder wie bei de la Säle und Andreas Ritter die Furcht
vor einem bestimmten Termin, der den Aufenthalt unwiderruflich macht.
Für die erste Fassung spricht die wahrscheinliche Anknüpfung an Tann-
Tannhäuser und die Tannhäusersage. 17
häusers Busslied, für die zweite die Analogie ähnlicher Fabeln, die den
Aufenthalt unwiderruflich machen, wie z. B. der Granatapfel der Persephone).
Er pilgert, von Frau Venus ungern entlassen, zum Papst und beichtet.
Der Papst hält einen Stab in der Hand. (Nach Kluge S. 43 ist das Stab-
wunder ein sekundärer Zuwachs, ähnlich scheint Pfaff S. 108 zu denken,
der es nur für ein sagenhaftes 'Zeichen der Erwählung' erklärt, während
Kluo-e S. 44 und Nyrop S. 74 den Stab höchstwahrscheinlich aus der
verkette d*or ableiten, die doch nimmer blühen könnte. „Es ist immer
schon aufgefallen", sagt Kluge (S. 44), „wie der Papst im Volkslied dazu
kommt, bei der Beichte einen dürren Stab in der Hand zu halten". Aber
noch heut hält der Poenitentiar in der Peterskirche einen solchen bei der
Beichte in der Hand und berührt damit den Absolvierten, wie ich selbst
den Kardinal-Grosspoenitentiar habe tun sehen. Somit erklärt sich diese
crux höchst einfach; indes ist wohl zu begreifen, wie bei de la Säle aus
dem Stab des Papstes, der exkulpiert werden soll, die goldene Rute der
Venus wird (Dübi S. 254, vgl. oben S. 9), nicht aber das Umgekehrte.
An sich wäre deshalb auch bei dem Tannhäuserdialog und dem Meister-
lied ein späteres Fortlassen des antipäpstlich mindestens klingenden
Schlusses denkbar. Aber die Situation, die den Tannhäuser noch vor der
Pilgerfahrt ('Tannhäuser und die Welt') oder aber unmittelbar nach
der Rückkehr in den Berg, der Frau Venus gegenüber, die er anredet
(Meisterlied) zeigt, Hess beidemal eine Erwähnung des Stabwunders
gar nicht zu; so dass in dieser Hinsicht die beiden Gedichte weder für
noch gegen das Alter des Stabwunders in der Tannhäusersage zeugen
können. Der Papst erklärt, Tannhäusers Sünde sei unsühnbar, und drückt
das in einer Formel aus, die an Tannhäusers beliebte 'unmögliche Fristen'
(AdB. 37, 388) anklingt; da der Sänger seine Motive gern wiederholt
(ebd. S. 387), konnte er sogar in einem verlorenen Lied diese Wendung
selbst gebraucht haben: „Eh grünt ein dürrer Stab". — Tannhäuser ver-
zweifelt und kehrt zurück; aber der Stab blüht auf und bezeugt Gottes
unermessliche Milde. (Dieser Ausgang, von de la Säle wieder wegen seiner
als antipäpstlich empfundenen Tendenz beseitigt, braucht deshalb noch
nicht von vornherein mit den antipäpstlichen Schlussworten des Volks-
liedes ausgedrückt worden zu sein).
Ich glaube in dieser umständlichen Formulierung mit aller möglichen
Vorsicht das einio-ermassen Sichere und das nur Wahrscheinliche unter-
schieden zu haben. Im übrigen wiederhole ich (vgl. oben S. 12), dass
selbstverständlich auch diese 'Urform der Tannhäusersage1 noch ihre Vor-
geschichte hat. Die Literatur- und die Sagengeschichte treffen die Ele-
mente so selten rein und unverarbeitet an wie die Chemie. Jedes Motiv
der Sage hat seine eigene Vorgeschichte: der glückselige Berg in jenen
Träumen von einem glücklichen Land (Nyrop S. 101 f.), die von den
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1911 Heft l. -
[g Meyer:
grobmateriellen Formen des altirischen Schlaraffenlandes (Thurneysen,
Sagen aus dem alten Irland S. 126 f.) über das mohammedanische Paradies
der Huris bis zu dem reinen Idealismus des christlichen Himmels führen;
der wunderbare Stab in all jenen Mythen von Wiederbelebung der toten
Natur von Aarons Gerte an (ebd. S. 73). Vereinigt sind biographische
Kiemente (Taunhäusers Hand, sein Busslied) und literarische (die 'un-
möglichen Fristen"), ethische Momente (die Warnung vor der Verführung)
und theologische (die Rettung durch Gnade). Aber gerade solche Ver-
schmelzung beweist das organische Werden. Denn all diese disparaten
Elemente sind zwanglos und zwingend zugleich zusammengeschlossen. Sie
rinden ihre Einheit eben in dem Bild Taunhäusers.
Carl Spitteler wirft (in seinen 'Lachenden Wahrheiten") einmal die
spöttische Frage auf, worin denn eigentlich das 'Hamlet-Motiv' bestehe:
ob in der Unentschlossenheit, oder dem geistreichen Pessimismus, oder
der Liebe zu Ophelia. Worauf einfach zu antworten ist, dass wir eben
nicht von einem Hamlet -Motiv zu sprechen brauchten, wenn es mit einer
appellativischen Bezeichnung genügend ausgedrückt wäre. Durch seine
Gestalt schafft der Dichter eben einen neuen 'Begriff', psychologisch -
fest wie der des Geizes oder der Rachsucht. Diese Wirkung der
künstlerischen Anschaulichkeit pflegt in der Sagen- und Literaturgeschichte
bedeutend unterschätzt zu werden. Man sieht Hamlet, man sah Tann-
häuser oder Odysseus oder David mit einer Deutlichkeit, mit einer Hand-
eiflicrikeit, die eben eine blosse Allegorie nie erreicht. Will man aber
umschreiben, so kann man sagen. Tannhäuser sei im Christentum, wie
Prometheus in der Antike, der erste Vertreter eines Typus, der für die
Literaturgeschichte von grösster Bedeutung werden sollte: des edlen
Sünders. Deshalb darf er nicht untergehen, weil er den Erzählern
- mpathisch ist. Er sündigt aus der Vornehmheit seiner Natur heraus.
und _die göttliche Vorsicht-, wie Lessing von Faust sagt, „kann dem
Menschen nicht den edelsten der Triebe gegeben haben, um ihn ewiir
unglücklich zu machen."
:ürlieh hat auch dieser Typus seine Evolution, in der Tannhäuser
einen wichtigen Wendepunkt bedeutet. Vor ihm liegen die freigesprochenen
Büsser: die grosse Buhlerin Magdalena. Gregorius. der die heiligsten
Bande der Ehe und Familie brach. Sie haben büssen dürfen. Dem
Ritter, der das Christentum bei der heidnischen Zauberei verleugnet hat.
bleib: - igentüche Grausamkeit des Papstes nach der späteren
Auffassung) die Basse versagt — er wird gerettet durch Gnade. Dies ist
wirklich eine Führung der Handlung, die an Goethes Faust erinnert.
Tann . weil er stark genug war. sich solcher Erden-
_ zu entreissen. Modern ausgedrückt: Rettung und Sünde
. ihm aus der gleichen Quelle, sind Bekundungen der gleichen
: er zum Vorläufer der •Zerrissenen im
Tannhäuser und die Tannhäusersage. 19
19. Jahrh., und von Tannhäuser schlingt sich ein unsichtbares Band zu
Byrons Manfred, wie ein sichtbares Maria Magdalena mit Dostojewskis
Sonja verbindet.
Tannhäuser muss also gerettet werden; das liegt in der poetischen
Loo-ik, das folgt aus seinem Bild, wie es nun einmal sich gestaltet hatte.
Gerettet, und wenn auch durch ein Wunder. Nun aber muss man sich
meines Erachtens vor der Auffassung hüten, als liege darin von vornherein
eine 'protestantische' oder gar eine bewusst kirchenfeindliche Tendenz.
Vielmehr ist der theologische Gedanke zunächst nur der der unerschöpf-
lichen Gnade Gottes: Gott kann selbst den Sünder lossprechen, dessen
Sündenschwere seinen Vicarius zwingt, ihn zu Verstössen. Das entspricht
durchaus der herkömmlichen katholischen Bussordnung. Ganz leichte
Sünden kann jeder Beichtvater absolvieren: schwerere sind dem Bischof
reserviert; die schwersten dem Papst. Und so erfindet die Sage schliesslich
auch -reservierte Fälle', in denen nur Gott selbst lösen kann. Aber schon
dies ist allerdings ketzerisch, wenn auch unbewusst. Und sobald sich
Gegensätze gegen den Papst geltend machten, musste allerdings die latente
antipäpstliche Tendenz sich zur offenen auswachsen:
Do was er widrumb in den berg
und het sein lieb erkoren,
des mus der vierde bapst Urban
auch ewig sein verloren.
Wenn der Papst wirklich die Gewalt hätte, von Sünden loszusprechen,
sa»te Luther, dann verdiente er den schlimmsten Tod, falls er nur Eine
arme Seele in die Hölle gelangen Hesse — eine Auffassung, der schon
das Meisterlied (Dübi S. 257) nahe kommt.
So glaube ich denn allerdings, dass die literarische Gestaltung der
Sage mit einer starken geistigen Bewegung zusammenhängt — mit der-
selben national- christlichen Stimmung, die den Wartburgkrieg erzeugt
hat. Die Opposition gegen das ausserdeutsche asketische Ideal der
heiligen Elisabeth, die zur Ermordung des ersten und glücklicherweise
einzigen deutschen Inquisitors, des Konrad von Marburg, führte (vgl.
AdB. 37. 387) und der Kampf der einheimischen Dichter gegen die fremden,
französierenden Gäste auf der Wartburg, das geht Hand in Hand, wie in
der Zeit Ludwigs IL von Bayern der Kampf gegen die -protestantischen
Nordlichter' Geibel, Heyse. Sybel zugleich konfessionell und partikularistisch
gefärbt war. Heinrich von Ofterdingen, der wahrscheinlich doch historische
Dichter, wird zum Anwalt der thüringischen Dichterschule: Tannhäuser
wird zum Vertreter der altheimischen Frömmigkeit. Ich möchte deshalb
das Lied am liebsten auch in Thüringen entstanden denken, oder dort
wenigstens den "antipäpstlichen Schluss' angesetzt, den es nach Elster
(S. 8) erhielt: freilich möchte ich nicht mit ihm sagen, die ältesten Be-
20 Meyer:
standteile seien im päpstlich-pfäffischen Sinn gehalten, denn der Bann-
spruch gegen die sündhafte Minne ist doch allgemein christlich. Den
Hörselberg darf man freilich dafür nicht anrufen, der, wie erwähnt, in
der Sage erst jung ist (Dübi S. 249 f.)- — Aber manche Spuren weisen
auch auf fränkischen Ursprung; was denn zu jenem 'Tannhauser A'on
Frankenland" beigetragen haben könnte.
Alles scheint sich somit hier glatt und einfach zu fügen. Die Sage
dringt später, durch das Lied vermittelt (wie schon Hemmerlin meint)
nach Italien und wird dort lokalisiert.
Doch halt! da sind wrir schon im Bereich unserer, zweiten Haupt-
frage (vgl. oben S. 10):
2. Yenusberg.
Auch wenn die Taunhäusersage an den deutschen Ritter und Fahrenden
anknüpft, auch wenn sie deutschen Ursprungs ist, kann noch immer der
A^enusber«: aus Italien stammen. Wir müssen hier wieder zweierlei
Möglichkeiten scheiden; a priori sogar drei:
1. Eine autochthone italienische Sage vom Venusberg und dem Ritter
kann sich mit der deutschen Tannhäusersage vereinigt haben;
2. die deutsche Tannhäusersage kann Venus und den Venusberg
übernommen haben;
3. sie kann beides besessen, aber nach italienischen Quellen den
Venusberg benannt haben.
Die zuerst angeführte Möglichkeit ist aber doch zu gering; an der
Identität der 'Tannhäuserlegenden' bei Andrea da Barbarino und
de la Säle mit der deutschen ist ja gar nicht zu zweifeln (vgl. oben S. 12).
Es bleiben also die beiden andern; wobei ich meine Meinung gleich dahin
formulieren möchte, dass nicht der Berg der Venus entlehnt ist, vielleicht
aber der Venusb erg.
Das klingt spitzfindig; aber es enthält eine notwendige Unterscheidung,
die man bisher nicht hätte unterlassen sollen. Es ist zweierlei, ob von
vornherein der Berg der Wonne da war, und nur später mit einem
italienischen Venusberg gleichgesetzt wurde, oder ob dieser für die ganze
Konzeption der Sage wesentlich war.
Die erste Möglichkeit, dass nämlich Venus erst später ihren Einzug
in die Sage gehalten habe, scheint Elster (S. 5 f.) zu begünstigen. Er
greift auf alte Sagen vom Bund mit den Eibinnen zurück; erinnert an
(iottheiten, die wie Holda und Berchta mit stattlichem Hofstaat im Innern
der Berge hausen, und für Venus an ihre Wiederbelebung durch die
Vagantenpoesie. Allerdings schreibt er schon der ältesten Fassung die
Verbindung Tannhäusers mit Venus zu, scheint aber doch eine Tannhäuser-
sage vor Tannhauser und mit einer einheimischen Freudenkönigin an-
zudeuten. Hiergegen wendet Xyrop (S. 83) ein, dass Berchta und Holda
Tannhäuser und die Tannhäusersage. 21
beide von spätem Ursprung seien (aber doch wohl älter als das Tann-
häuserlied) und nichts mit Venus zu schaffen hätten — was aber die von
ihm empfohlene Sibylle noch viel weniger zu tun hat. Aber jedenfalls
ist festzuhalten: wo wir Tannhäuser genannt finden (in der Mörin, in
den Liedern und später), da ist er auch mit Venus verbunden. Nur in
den Formen der Sage, die ihn nicht nennen (Guerino, de la Säle) ist es die
Sibylle (Dübi S. 250, wo er irreführend 'Sibylle -Venus' sagt, und S. 259),
die den Ritter lockt und zieht.
Danach bleibt das Wahrscheinlichste, dass in der Tat in dem glück-
seligen Berg, den Tannhäuser betrat, von allem Anfang an Frau Venus sass.
Und was spricht dagegen? Sie ist nicht volkstümlich, antwortet man.
Das aber ist die Sibylle auch nicht, die Nyrop und Dübi, Kluge und
Pfaff für echt volkstümlich zu halten scheinen; bemerkt doch Kluge selbst,
der Name sei kein altes volkstümliches Erb wort: das müsste 'Sevella'
oder 'Sevolla' lauten (S. 52): „das Wort ist eine gelehrte Erneuerung aus
dem Altertum". Dann wäre der Name Venus sogar echter volkstümlich,
der nach Pfaff (S. 106) als der einer alten Abgöttin erhalten geblieben
wäre, so dass man auf sie die Eigenschaften der Holda, Berchta usw. hätte
übertragen können, — was ich nicht vertreten will. Vielmehr scheint es
mir bei Sibylla im Gebiet von Norcia, bei Frau Venus in Deutschland um
denselben Grad von Volkstümlichkeit zu handeln. Man muss nämlich durch-
weg im Mittelalter mit verschiedenen Graden der Volkstümlichkeit
rechnen. Es gibt eine Volkspoesie der Ungebildeten, eine gelehrte Volks-
poesie der Vaganten, eine höfische Volkspoesie, die alle drei mit einem
bestimmten Schatz von Motiven, Voraussetzungen, Formeln. Mitteln
arbeiten; man könnte, englische Ausdrücke uneigentlich verwendend, von
broad church, low church. high church sprechen. Sibylla gehört der
Volkspoesie und Volkssage der Vaganten an, wie Kluge schön und reichlich
(vgl. auch Bunte Blätter S. 61 f.) gezeigt hat; dass das eigentliche Volk
von ihr mehr gewusst hätte, als die Fahrenden ihm erzählten, ist nicht
nachzuweisen. Ganz dasselbe gilt aber auch nach Kluges eigenen Nach-
weisen (S. 59 f.) von Venus. Die Namengebung 'Monte della Sibilla' hat
ihr Gegenbild in deutschen Arenusbergen, bei denen zum Teil auch erst
die gelehrte Volksetymologie tätig war (Kluge S. 29) wie sie ähnlich sich
auch beim Pilatus versucht hat (Dübi S. 67). Was Sibyllen rocht ist. ist
Frau Venus billig; „eine gelehrte Benennung" (Nyrop S. 82) ist V enus-
berg' aber noch weniger als 'Berg der Sibylle1.
Und Tannhäuser selbst erwähnt Frau Venus, aber nicht die Sibylle;
und in dem Umkreis seiner eigenen gelehrttuenden und doch volkstümlichen
Poesie müssen wir uns Sage und Lied entstanden denken, wie die Neidhart-
legende unter den Neidhartiauern. Die breite Volkstümlichkeit erwarb
dem Lied wohl erst die 'urreformatorische' Tendenz: und sie ist durch
die Nennung der Frau A'enus keineswegs gehemmt worden.
22 Meyer:
Die deutsche Tannhäusersage hätte also Venus und ihren Berg bereits
zu eigen gehabt. Und dennoch könnte der Venusberg italienischer An-
regung verdankt werden. Dies ist die Meinung von Pfaff (S. 106):
„ Reisende hatten die Erzählung vom Sibyllenberg aus Italien mitgebracht.
Dieser ferne zauberhafte Berg ward nun in der deutschen Überlieferung
mit allen Eigenschaften des Venusbergs ausgestattet." Und so wäre denn
der italienische Berg der Sibylle zu dem ersten wirklich geographisch
fixierten Venusberg geworden, während das Tannhäuserlied und Hermann
von Sachsenheim den hohlen Berg noch nicht lokalisieren (Dübi S. 257).
Mir o-eht es hier wie bei der Vergleichung Guerinos und der Salade
mit dem Tannhäuserlied: eine Beziehung scheint mir auch diesmal un-
zweifelhaft vorhanden, aber auch diesmal führt sie meines Erachtens nicht
von Italien nach Deutschland, wie Dübi und Nyrop meinen, sondern um-
gekehrt von Deutschland nach Italien.
a) Die frühesten italienischen Berichte wissen nur von dem Pilatus-
oder Sibyllenberg. Den Venusberg kennt weder Pierre Bersuire (1362)
noch Facio degli Uberti (1367); auch viele spätere Gewährsmänner bei
Kluge (S. 32 f.) und Dübi (S. 256 f.) wissen nichts vom Venusberg. Kluge
(S. 34) nennt allerdings den Nekromantenberg den 'Venusberg der
fahrenden Schüler'; aber das ist er jedenfalls nicht von vornherein. Die
Nekromanten wenden sich an die Sibylle, die von Cumä nach Norcia ge-
wandert ist (Magnabotti bei Dübi S. 250) und deren prophetischer
Charakter sich erst allmählich verwischt (ebd. S. 252).
Wir geben Nyrop nochmals seine Frage zurück: was hat die Sibylle
mit Venus zu schaffen? Ferner aber scheinen mir folgende Erwägungen
zwingend, die uns kein Verfechter der transalpinischen Hypothese an-
gestellt zu haben scheint. Wenn es in Italien von vornherein oder
mindestens um die Wende des 14. Jahrh. eine ausgebildete Sage von
Tannhäuser im Venusberg gab, wie z. B. Dübi (S. 253) behauptet, wie
kommt es, dass de la Säle und Alberti und gar der in seiner Erfindung
völlig freie Andrea da Barbarino sie in den Sibyllenberg verlegen? Und
wenn die ältesten italienischen Zeugnisse, wie gesagt, Tann-
häuser nicht im Veuusberg, sondern nur im Sibyllenberg
kennen, wie ist es dann möglich, dass die aus Italien ein-
geführte Sage in Deutschland gar nichts von Tannhäuser im
Sibyllenberg weiss, sondern nur von Tannhäuser im Venus-
berg? Mir scheint diese Tatsache schon allein Nyrops zuversichtliche
Behauptung umzustossen, an der Tannhäusersage sei nichts germanisch
als der Name des Helden (S. 44) ein Satz, der wie seine Behauptungen
vom 'Zufall' in den deutschen Texten fast mit einer gewissen Schaden-
freude vorgebracht wird.
b) So muss er sich denn (S. 117) auch selbst berichtigen, wenn er
erklärt hat, deutsche Dichter hätten den Namen der römischen Göttin
Tannhäuser und die Tannhäusersage. 23
für die 'unbekannte Sibylle' eingeführt (S. 82). Denn man kannte in
Deutschland nicht nur die Sibylle (die ja auch der Tannhäuser selbst, und
zwar bald nach der Venus, erwähnt MSH. 2, 85; IV, 7), sondern sogar
den Sibyllenberg. Darauf bezieht sich doch unzweifelhaft die 'höchst
rätselhafte Stelle' im Wartburgkrieg:
Felicia, Sibillen kint,
Und Juno, die mit Artus in dein berge sint.
Felicia, Sibillen Tochter, und Juno sind Wesen von Fleisch and Bein,
sagt das Gedicht (ed. Simrock Str. 83); sie leben mit Artus im Berg
und die Massenie wird wohl gepflegt; es fehlt nicht an Trank und Speise,
Ross und Rüstung. Das hat St. Brandan verkündet (Str. 86). Auch ein
Geistlicher ist bei ihnen im Schloss des Berges (Str. 84). Das passt alles
vortrefflich zum Sibyllenberg; und so liegt denn auch (Dübi S. 263 Anm.)
in der Nähe des italienischen 'Venusberges' ein Castellum Felicitatis, in
der Nähe eines Schweizer Venusbergs eine Ruine Freudenberg. Die
Glückseligkeit im Sibyllenberg ist in Felicia verkörpert; und nicht einmal
hier erscheint neben Sibylla Venus, sondern Juno.
Jedenfalls aber beweist der Wartburgkrieg, den sogar Dübi (S. 250)
in seinem Unmut über das störende Zeugnis 'ein poetisch fast wertloses
Produkt des ausgehenden Minnesingertumes" schilt, dass Sibylla und der
Bero- in Deutschland Ende des 13. Jahrhunderts nicht unbekannt waren.
Und dennoch ging Tannhäuser nicht in den Sibyllenberg ein, wo er bei
Artus und Felicia so gut hätte leben mögen?
c) Nun aber folgen jene Zeugen für die Tanuhäusersage in Italien,
und alle lokalisieren sie gerade da, wo sie kein Deutscher lokalisiert: in
den Sibyllenberg. A)er von den Eremiten (vgl. den unterirdischen Abt
des Wartburgkriege?!) gewarnte Guerino, der deutsche Ritter des de la Säle,
und noch des Fra Leandro Alberti Grottenbesucher (Dübi S. 258) sind in
diesem Berg. Weshalb, wenn der Venusberg in Italien der Ursitz der
Legende ist?
d) Aber weiter: es wird ausdrücklich gegen den italienischen Venus-
berg protestiert, und zwar nicht im Sinn des Rationalismus, der einen
solchen überhaupt leugnet (was natürlich auch geschah, vgl. Kluge S. 35
Anm.), sondern aus besserer Kenntnis. Man hat aus Deutschland bei
Aeneas Sylvius angefragt, ob es in Italien einen Venusberg gebe (Dübi
S. 250). Der sächsische Astronom, der fragt, weiss also jedenfalls von
einem Venusberg. Piccolomini weiss durchaus nichts davon; er rät herum,
ob Porto Venere, oder ein der Venus in Sizilien geweihter Berg Eryx (von
dem sonst in diesem Zusammenhang nirgends die Rede ist) oder endlich
der Hexenberg bei Norcia (d. h. der Sibyllenberg) gemeint sei. Und
diesen Beleg hat man als Zeugnis für den italienischen Venusberg ver-
wandt!
24 Meyer:
Dasselbe tat merkwürdigerweise sogar Kluge (S. 34) mit der Aussage
Bernhards v. Breidenbach. Dieser aber spricht von dem Yenusberg
auf Cypern und leugnet den in Italien: „denn da (in Cypern) hat sie
gewohnet und das Land Tusciam genannt nie gesehen, da etlich Leut sie
vermeinen in einen Berg Verstössen sein und grosse Lust und Freud
darin haben, da es doch nichts ist". Da kann man doch wirklich nicht
sagen, der gelehrte Antiquar „bestätige den verbreiteten Glauben, dass
in Tuscia, d. h. in Italien unser Yenusberg liege". Ganz im Gegenteil;
Breidenbach, der Italien durchreist hat, erklärt den Glauben der Deutschen
an einen Yenusberg in Italien für irrig; es sei nichts damit. Ganz wörtlich
(wie schon bemerkt) wiederholt das Melchior Zurgilgen (Dübi S. 260),
nur dass er den Yenusberg bei Paphos weiss. Und auf den Yenusberg
im Orient bezieht sich auch die Schwindelei des Hans Wohlgestanden
(Dübi S. 260), der im Yenusberg gewesen, im Koten Meer gebadet und
im Jordan gewesen sein wollte.
Keins von diesen Zeugnissen von 1431 (Enea Silvio), 1486 (Breiden-
bach), 1519 (Zurgilgen), 1599 (Wohlgestanden) beweist für einen Yenus-
berg in Italien. Am deutlichsten aber spricht Breidenbachs Fahrt-
genosse Felix Faber. Auf Cypern bei Paphos liegt der Yenusberg.
.. Xach dem Beispiel dieses ersten Yenusberges und seiner Grotten seien
dann in heidnischer Zeit überall Yenusberge gesehen und in 'Historien'
o-enannt worden. Auch in 'moderner' Zeit fable das ungebildete Yolk von
einem Bers; in der Toskana, unweit Rom. in welchem die Frau Yenus
mit gewissen Männern und Frauen den Lüsten fröhne". Auf diesen soll
sich das in Deutschland gesungene Tannhäuserlied beziehen (Dübi S. 259).
Unmöglich kann ich in dieser wichtigen Stelle mit Dübi „Andeutungen
über das, was wir heute den Zusammenhang der Yenusr mit der Sibyllen-
sage nennen würden", erblicken. In Deutschland wird das Lied ge-
sungen, das sich auf einen Berg in Tuscien bezieht, der in Wirklichkeit
gar kein Yenusberg sei. Deutsche also, wie jener sächsische Leibarzt,
haben den Yenusberg nach Italien verlegt.
e) Es sind denn auch nur Deutsche, die den Sibyllenberg mit dem
Yenusberg gleichsetzen. Das tut zuerst 1497 Felix Hemmerlin (Dübi
S. 251). Er erzählt von dem Sibyllenberg und fährt fort: „der Berg heisst
gemeiniglich Yenusberg"; dann erzählt er seine simplicianische Tannhäuser-
>ai:e (vgl. oben S. 5). Und im selben Jahr hört Arnold v. Harff von
Frau Yenus Berg bei Norcia (oder Nocera? Kluge S. 35). Das sind die
einzigen, die in Italien von einem Yenusberg wissen. Kein italienischer
Zeuge ist dafür aufgebracht! Und Harff ist der denkbar unzuverlässigste
Zeuge (AdB. 10, 599, vgl. Kluge S. 37 Anm.).
f) Xun beachte man noch folgendes. Hermann von Sachsenheim,
der in der 'Mörin' Tannhäuser zuerst mit Frau Yenus gesellt, steht in
Beziehungen zur Erzherzogin Mathilde in Rottenburg (Yogt in Pauls
Tannhäuser und die Tannhäusersage. 25
Grundriss 2. Aufl. 2, 345). Zu deren geistigem Hofhalt gehört aber auch
Niklas von Wyl, der seinerseits mit Felix Hemmerlin und Aeneas
Sylvius Piccolomini befreundet ist. Hier treffen wir drei Namen, die für
unsere Frage wichtig sind: Enea Silvio, Hemmerlin, Sachsenheim.
Breidenbach (AdB. 3, 285) seinerseits ist von Jerusalem ab mit
Felix Faber (AdB. 6, 490) zusammen gereist. Faber stammt aus Zürich,
und in Zürich hab ich schon früh ein besonderes Interesse für unsern
Minnesinger vermutet, vielleicht durch die besondere Andacht der Zürcher
zu dem von Tannhäuser gefeierten Thomas a Becket von Canterbury ver-
mittelt (ADB. 36, 387), und Felix Hemmerlin lebt in Zürich und stellt somit
zwischen den beiden 'Tannhäusergruppen' eine Vorbindung her. Sie um-
fassen zusammen alle für unsere Fragen in Betracht kommenden deutschen
Namen mit der einzigen Ausnahme Arnolds v. Harff, der dafür aber
literarisch abhängig scheint. Was bedeutet diese merkwürdige Tatsache?
Zunächst, dass wiederum die Zahl der Zeugnisse einschrumpft, wie
vorhin (oben S. 12) die der Belege für die Schlangenweiber im Sibyllen-
berg. Es handelt sich bei den Reisegenossen Faber und Breidenbach
wesentlich um ein gemeinschaftliches Zeugnis, dem aber auch der Zürcher
Chorherr Hemmerlin und der spätere Papst nicht fern stehen. Aber
mir scheint überhaupt diese bisher übersehene Gruppenbildung noch
weiteres Licht auf die ganze Entwicklung der Sage zu werfen. Man be-
denke, dass zu dem Kreis der Erzherzogin Mathilde auch Jakob Puter ich
von Reicherzhausen (gest. um 1470) gehört. Dieser Name 'spricht Bände'.
Püterich ist nur der eifrigste Vertreter des neu erwachten, in Freiburg
und München zentralisierten Interesses für die ältere deutsche Dichtung.
Diese Sammlertätigkeit muss auch für die alte Tannhäuserdichtung neue
Teilnahme erweckt haben. Jedenfalls wurde dadurch Hermann von Sachsen-
heim darauf gebracht, halb ironisch den edlen Tannhäuser aus Franken-
land mit seiner Gattin Venus und dem treuen Eckart in seiner 'Mörin'
eine Hauptrolle spielen zu lassen; etwa wie Dr. Faustus in Arnims
•Kronen Wächtern' travestiert auftritt. Die gelehrteren Mitglieder des
Kreises aber begeben sich auf die Quellensuche. Felix Hemmerlin wird
iu Italien auf einen Pseudo-Tannhäuser im Sibyllenberg aufmerksam. Das
erregt weiterhin Aufmerksamkeit; aus Sachsen her fragt man bei Enea
Silvio an; gerade bei ihm, weil er der Korrespondent jenes 'altdeutschen'
Kreises in Italien geworden war. Aber Enea weiss nichts von einem
Venusberg in Italien. Es ist irrig, wenn Kluge (S. 31) oder Pfaff (S. 105)
meinen, „er habe gehört, dass der Venusberg bei Norcia liege"; er hat
gar nichts von einem Venusberg in Italien gehört.
Aber inzwischen müssen die deutschen Nachfragen doch ihre Wirkung
getan haben. Wie man etwa in Trimberg über den Minnesinger Süsskind
Dinge aus den Leuten herausgefragt hat, die auch ich gläubig annahm
(Zs. f. d. Alt. 38, 201 f.; vgl. Roethe, AdB. 36, 336f.) oder wie man die
2i; Meyer:
Sieo-friedsquelle im Odenwald glücklich erfragt hat, so setzte mau von
Deutschland aus auch einen Yenusberg in Italien durch. Solche Gerüchte
finden Hemmerlin, Faber, Breidenbach vor; worüber gleich mehr.
Diese Lokalisierung hatte Enea Silvio an die Hand gegeben; und sie
war o-eboten, weil tatsächlich die deutsche Tannhäusersage des 13. Jahrh.
im 14. Jahrh. im Sibyllenberg lokalisiert worden war. Nun zog sie zurück
und kehrte, wie Tannhäuser, in den deutschen Venusberg heim.
Schon Felix Hemmerlin fand im Sibyllenberge einen Pseudo-Tann-
häuser vor. Denn bereits hatte der Sibyllenberg den Namen Venusben;
erhalten (Dübi S. 251), — wir zweifeln nicht, dass es durch die vielen
Besucher 'de Alemannia' geschah, von denen er und de la Säle (Dübi
S. 255) u. a. berichten. In Deutschland war es längst üblich, dass Fahrende
behaupteten, im Venusberg gewesen zu sein — nämlich im deutschen
Venusberg, den Crusius 1544 und Hans Sachs 1556 (Kluge S. 63) doch
o-ewiss meinen. Nun setzt der simplicianus aus Schwyz das Geschäft bei
der neu errichteten Tannhäuser-Filiale im Herzogtum Spoleto erfolgreich
fort; gerade wie es schon früher auch dort in der Sibyllengrotte solche
Betrüger gegeben hatte (Dübi S. 256).
Aber die literarische Bemühung um die Heimat der Frau Venus
dauert fort. Den wahren Venusberg entdecken die Reisegenossen Felix
Faber und Bernhard v. Breidenbach: er ist nur auf Cypern. Es ist also
nichts mit dem in Tuscien, von dem ungebildete Leute, nun auch schon
in Italien selbst, fabeln. Und der Züricher Dominikaner setzt (Dübi
S. 259) hiuzu: das Tannhäuserlied beziehe sich ebenfalls auf diesen
falschen Venusberg. Der Anschluss an die moderne Hypothese ist erreicht:
Kluge, Dübi, Pfaff, Nyrop schliessen sich Felix Faber an. Und ebenso
ist schon für die späteren Gelehrten des 16. und 17. Jahrh. der italienische
Venusberg zur Tatsache geworden: für Paracelsus (1588) oder Del Rio
(1606; vgl. Kluge S. 31).
Dies scheint mir eine einfache, in ihren Hauptpunkten, vor allem
durch Enea Silvios Brief deutlich bezeugte Entwicklung. Der 'Venus-
berg der Deutschen' (Kluge S. 50) und besonders der deutschen Fahrenden
(ebd. S. 31. 33) ist ursprünglich einfach der 'Berg der Venus' gewesen:
der unbekannt wo liegende Berg, in dem Tannhäuser und Venus noch in
der 'Mörin' oder den Tannhäuserliedern leben, er wird allmählich mit
dem Sibyllenberg identifiziert, durch gelehrte Nachfrage identifiziert —
wir haben kein direktes volkstümliches Zeugnis für den Venusberg in
Italien, wie wir solche für den italienischen Sibyllen- und Pilatusberg
oder für den deutschen Berg der Venus besitzen. Nicht, wie Nyrop
meint, die Venus der deutschen Sage, sondern der Venusberg der italienischen
ist gelehrtes Machwerk.
g) Man wird jenen langgestreckten Bemühungen des 15. Jahrh. aber
noch eine andere Wirkung zuschreiben müssen.
Tannhäuser und die Tannhüusersage. 27
Dass die Tannhüusersage gleich an das Leben des Dichters an-
schliesst, hoffen wir erwiesen zu haben. Dass sie noch im 14. Jahrh.
literarisch ward, ist mindestens sehr wahrscheinlich. Nun aber regt sie
sich von neuem, sei es, dass die Sammler auf die Dichtung wirkten,
sei es, was ich eher glaube, dass ihnen ein neues Leben der Sage
entgegenkam. Nun entsteht etwa gleichzeitig mit der 'Mörhv das Meister-
lied von Tannhäuser (Germania 28, 44): ein Monolog des heimgekehrten
Ritters in der Form des Selbstberichtes, an die Tradition des Tageliedes
(II, 11 f.) angeknüpft. Es setzt das Tannhäuserlied durchaus voraus, das
es seltsam entstellt: aus jenem Vers „uemt urlob von dem greisen"
wird (III, 4):
wo ir seit in dem lant, das merket zware,
so habt euch Urlaub von dem grünen reise.
Es gehört zu den wunderlichen Entgleisungen, ■ an denen die Tann-
häuserforschung nicht arm ist, dass der Herausgeber Karl Goedeke be-
merkt: „Das Meisterlied scheint von allen das älteste zu sein, da es nur
Sünde und Reue kennt, aber noch nicht das Wunder des grünenden
Stabes, das die Verzeihung, die hier nur erhofft wird, verbürgen sollte"
(Germ. 28, 44), was ihm vielfach nachgesprochen worden ist. Aber der Tann-
häuser, der im Venusberg Gott anfleht, kann ja doch noch gar nicht erlöst
sein! Es wäre ja gegen alle Logik, wenn er schon von dem Wunder in
Rom wüsste!
Nun kommt auch endlich (1515) das alte Volkslied zum Druck und
gewinnt eine weite Verbreitung, von der vorreformatorischen und refor-
matorischen Stimmung der Zeit gefördert. Aber auch hier fliesst keine
Andeutung ein, die auf das Land Tuscia, auf Norcia oder sonst auf Italien
wiese; Frau Venusberg im Volkslied bleibt wie der Venusberg im Meister-
lied ein mythisches Irgendwo, so wenig lokalisiert wie 'Elfenhöh' oder
der 'dunkle Tann' der Edda (vgl. meine Altgermanische Religionsgeschichte
S. 46!>, 10). Der Venusberg der Tannhäusersage ist niemals anders als
durch den Glauben gelehrter Forscher in das Land jenseits der Alpen
versetzt worden. —
Unsere Untersuchung hat also auf beide Hauptfragen zu überein-
stimmenden Antworten geführt: die Tannhäusersage bezieht sich auf den
Minnesinger und ist in Deutschland entstanden; der Venusberg gehört ihr
von Anfang an und ist erst spät durch gelehrte Forschung (und Char-
latanerie der Fahrenden) mit dem Sibyllenberg gleichgesetzt worden.
Wie der Venusberg über die Alpen getragen wurde, glauben wir erklärt
zu haben; aber es bleibt noch ein Punkt aufzuhellen. Die Identifizierung
war möglich, weil in dem Sibyllenberg schon längst, zur Zeit des Magna-
botti, des de la Säle, die deutsche Tannhäusersage eine zweite Niederlassung
hatte (oben S. 26). Aber wie ist sie dahin gekommen?
•_>8 Meyer:
'Das frühe Auftreten der Sage vom deutschen Ritter im Sibyllen-
berg' (Kluge S. 51) ist ja das Hauptmotiv für diejenigen Forscher, die
die ganze Sage von Italien nach Deutschland wandern Hessen. E^ass es
für diese Route nicht zeugt, glaube ich dargetan zu haben. Aber merk-
würdig ist es ja doch, wie die Sage nach Welschland gelangte, ehe sie
auch daheim deutliche Spuren hinterlassen hatte. Doch führten wir schon
(i runde an. die das lange Schweigen der deutschen Quellen erklärlich
machen helfen (oben S. 15).
Das wichtigste ist, dass in der "Verherrlichung von Gottes Gnade
gegenüber der Strenge des Papstes doch eben gleich eine, wenn auch
zunächst latente, Ketzerei lag. Die Sage von dem Ritter, den Gott erlöst,
obwohl er sich der Frau Venus ergeben hatte, war in dieser Form für
die Orthodoxie im Lande des Papstes unmöglich. Es musste ein viel
stärkerer Ausdruck des Abscheues gegenüber der Sünde gefordert werden.
Frau Venus kommt in den Tannhäuserliedern viel zu gut fort. Wohl ist
sie 'eine Teufelin'; aber von ihrem roten Mund und ihrem stolzen Leib
ist doch mehr die Rede als von ihrer Abscheulichkeit. Ganz anders in
den italienischen Tannhäuserberichten. Da wird sie samt ihren Frauen
jeden Freitag (de la Säle bei Dübi S. 254) oder Samstag (Guerino, ebd.
S. 251) oder gar jede Nacht (Leandro Alberti, ebd. S. 258) eine greuliche
Schlange. Eben dieser Zug kehrt nun in der St. Gallischen Version
wieder:
Tanhuser war ein wundrige Knab,
Gross Wunder geht er zu schauen,
Er gell woll uf Fru Vrenes Berg
Zu den dri schöne Jungfraue.
Die sind die ganze Woche gar schön,
Mit Gold und Side behänge,
Hand Halsgeschmeid an und Maienkron —
Am Samtig sind Otre und Schlange.
Von seinem Standpunkt aus musste Kluge (S. 53) hier 'den alten
Zug mit bewunderungswürdiger Treue gewahrt' sehen, Dübi ebenso (S. 263)
besonders 'deutliche Spuren der italienischen Legende' als Beweis der
Wanderung aus Italien durch die Schweiz nach Deutschland auffassen,
Nyrop (S. 72) liier die ursprüngliche und vollständige Fassung der Sage
entdecken. Auch ist ja hier wiederum der Zusammenhang, um Nyrops
Lieblingswort (S. 44, 99 u. ö.) zu gebrauchen, 'unzweifelhaft'. Aber nicht
so wieder die Interpretation.
Sieht man von den Beziehungen zu den drei (oder zwei) italienischen
Versionen ab, so wäre wohl kaum jemand auf den Gedanken gekommen,
gerade die St. Gallische Fassung für besonders alt zu erklären. 'Romantisch
heildunkel und sprunghaft', sagt Erich Schmidt (S. 36), künden diese
Schweizerlieder, Altes und Neues mischend, die Geschichte des Helden —
Tannhäuser und die Tannlniusersage. 29
man denke nur an die rhetorische Anapher der vorletzten Strophe im
Entlibucher Lied! Dass Tannhäuser zu den drei schönen Jungfrauen
geht, stimmt weder zu den andern Berichten (auch nicht zu Felicia und
Juno bei der Sibylle im Wartburgkriege!), noch ist es mit der Sage als
solcher in Übereinstimmung zu bringen, die überall eine grosse Vertreterin
der Weltlust in den Vordergrund stellt. (Auf die Verschiebung des
Schlangentages leg ich wenig Gewicht, da auch schon Andrea und de la Säle
differieren; immerhin liegt auch hier ein Missverständnis vor, da der
Sonntag durch des Papstes Messe den Unholdinnen gerade Freiheit
gewährt). Die mannigfachen späten Beziehungen, die Dübi (S. 263) auf-
zählt, beweisen auch eben nur, dass die Tannhäusersage hier wie an
andern Orten (vgl. ebd. S. 261; Elster S. 7) lokalisiert worden war. Und
vor allem nun: was beweist jener wichtige Zug selbst?
Auch hier hat man die Frage aufzuwerfen, ob das Weglassen so
leicht zu erklären wäre wie der Zusatz. Ich glaube: nein. Wir ver-
stehen, dass jener sagenhafte Zug eingefügt wurde, um das Grauen vor
den höllischen Gestalten zu vermehren. Die erbauliche Tendenz im
Guerino (Kluge S. 48) hat die Ottern vielleicht erst in den Liebesgarten
gebracht: 'latet anguis in herba\ Weshalb aber sollte das Lied
sie ausscheiden, wenn es sie vorfand? Sie hätten den Eindruck der
unsühnbar-sühnbaren Sünde ja nur gesteigert!
Wir glauben also: wie in der Vorgeschichte, die die Berichte vom
Sibyllenberg bringen müssen, während die deutschen Lieder die sagen-
hafte Situation voraussetzen können, so liegt auch hier ein fremder Zusatz
vor. Die schweizerische Lesart beweist nichts für die Heimat, aber viel
für die Wege der Sage.
Die Schweiz ist der natürliche Vermittler, und andere Sagen, die
diesen Weg eingeschlagen haben, sie vielleicht wirklich in südnördlicher
Richtung, fehlen nicht (Dübi S. 48). Wir können aber vielleicht die
Umschlagstelle noch genauer bezeichnen. In Zürich beweist die starke
Vertretung Tannhäusers in der Heidelberger Handschrift, die denn doch
wohl die Manessische ist, für ein besonderes Interesse an dem Minne-
singer (vgl. oben S. 25). In der Schweiz ist das Lied mehrfach verbreitet,
die Sage mehrfach lokalisiert (Dübi S. 260 f.); in Luzern liegen Hans
Wohlgestanden (ebd. S. 260) und Hans Sager (S. 261) wegen angeblicher
Venusbergfahrt im Turm. In Zürich ist Hemmerlin Chorherr, Faber,
aus altem patrizischem Geschlecht der Schmied (dem später der von
0. F. Meyer besungene Komthur angehört), Dominikanermönch. Aus Luzern
stammen der Junker Zurgilgen (Dübi S. 260f.) und die Entlibucher Fassung;
die beiden andern aus St. Gallen und Aargau. In der deutschesten Ecke
der Schweiz haben wir das Verbreitungsgebiet der Tannhäusersage —
um den Vierwaldstättersee, im Aargau, St. Gallen, weniger schon im
Bernischen. In Luzern wird, wie wir nun sagen dürfen, der Name des
3() Meyer: Tannhäuser und die Tannhäusersage.
Helden zu einem Geschlechtsnamen (Dübi S. 261). Aber in demjenigen
Teile der Schweiz, der nach Italien neigt, finden wir keine Sparen der
ano-eblich von dort nach der Schweiz eingeführten Sage; schon das
romanischem Einfluss zugängliche Baselland fällt aus. Das schweizerische
Zentralgebiet der Tannhäusersage schliesst an das süddeutsche (mit Frei-
burg im Breisgau) unmittelbar an.
Xun wird man sagen: da doch die Schweiz jedenfalls vermittle, be-
weise diese Sage nichts für die Richtung der Übermittlung. Aber das
trifft keineswegs zu. Jenseits der Alpen haben wir nur vereinzelte
Spuren der Tannhäusersage — derartig vereinzelt, dass sie bis auf Gaston
Paris und Söderhjelm völlig übersehen werden konnten. Solche spär-
lichen 'Spritzer konnten durch jede beliebige Anregung vermittelt werden.
Diesseits haben wir eine starke und breite Vertretung in zahlreichen
Liedern, Anspielungen, Lokalisierungen. Wäre diese reiche Saat aus den
Körnern erwachsen, die in der italienischen Heimat auf steinigen Boden
fielen (was an sich ja nicht undenkbar wäre), so müssten wir auf dem
Weg diesseits der Grenze mehr Anzeichen der Wanderung finden, als
Dübis Pleiss aufspüren konnte.
Ich glaube, wir dürfen daran festhalten, dass die Hauptstadt der
'deutschesten Schweiz' die Tannhäusersage an Italien abgegeben hat. In
Zürich lebte schon zur Zeit des Manesse ein besonderes Interesse für den
Sänger; aus Zürich kommen im 15. Jahrh. die ersten 'Tannhäuserforscher'
und insbesondere Felix Faber begründet die (sit venia verbo) Venus-
bergphilologie, in deren Nebenzweig, die Forschung über den Sibyllen-
berg, übrigens sogar Goethe eingetreten ist: im Anhang zum 'Cellini'
verweist er zu des Künstlers nekromantischen Abenteuern auf „ein
italienisches Märchen, Guerino Meschino, und ein altes französisches W^erk",
jedenfalls de la Säle (Weimarer Ausg. 44, 359; vgl. Kluge S. 53 Anm.). —
Zwischen Rüdiger Manesse und Felix Faber wird sich wohl noch irgend
ein Zürcher gefunden haben, der ein Augenmerk auf Tannhäuser hatte,
oder sonst jemand de Alemannia. Dem fiel bei dem obligatorischen
Besuch des Sibyllenbergs (und des für die Urkantone besonders inter-
essanten Pilatusbergs) der Venusberg ein: Dämonen und Zauber hier und
dort, hier und dort gefährlicher Eintritt, weil unsicherster Ausgang. Und
Andrea dei Maguabotti aus Barbarino, maestro di canto und Vielschreiber
(Gaspary, Gesch. der ital. Lit. 2, 262), der von überall her Kuriositäten
aufrafft, „die Sitten der Einwohner, die Pflanzen und Spezereien, die Un-
geheuer" (ebd. S. 265), griff das auf. Und so pflanzte er vielleicht das
erste Reis der Tannhäusersage in welscher Zunge; doch sollte dieser
dürre Stab keine Blüten tragen. Denn wenn auch Nyrop von der Sage
nur den Kamen des Helden für germanisch hält — den er dann auch
noch mit dem treuen Aventin (Erich Schmidt S. 31) aus 'Thanauses"
hätte ableiten mö^en — die Erfahrung der Jahrhunderte hat doch gezeigt,
Loewe: "Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 31
dass diese Legende nur dem germanischen Geist entspricht. Selbst die
germanischen Nachbarländer haben sich dieser tiefsinnigen Sage ver-
schlossen, — das Lied ward „von den Dänen unerfreulich bearbeitet, in
Holland frei umgetauft, mit Bewahrung manches alten Zuges umgestaltet
in der Schweiz", urteilt ein Kenner wie Erich Schmidt (S. 31). Ich denke,
schliesslich beweist auch dies nicht wenig für die Ursprungsfrage. Gewiss,
auch Sagen können adoptiert werden, und ein deutscher Tondichter hat
aus der spanischen Don Juan-Fabel, ein deutscher Poet sogar aus der
antiken Legende von Amphitryon das Letzte und Tiefste herausgeholt.
Dass aber den Kern einer Sage nur die Entlehnenden fühlen und er-
halten, die Nation dagegen, der sie entsprungen sein soll, nur Spuk und
Zauberschein damit zu verbinden weiss, das wäre denn doch gar zu
paradox. Nein, Heinrich Heine und Richard Wagner sind auch Zeugen
für den deutschen Ursprung der Tannhäusersage, wie es Goethe trotz
Theophilus für den der Faustsage und Schiller trotz Eigil für den der
Tellsage sein könnte.
Doch solche Argumente soll man nur als Schlussstein bringen. Ich
bin absichtlich so umständlich und mit pedantischen Wiederholungen,
breiten Analysen nicht sparsam vorgegangen. Der Pfad, den Meister der
Methode wie Ludwig Uhland, Gaston Paris, Erich Schmidt freigelegt, den
Forscher wie Werner Söderhjelm, Friedrich Kluge, Heinrich Dübi, Ernst
Elster, Fridrich Pfaff mit Glück weiter gebahnt haben, soll nicht durch
das tumultuarische Vorgehen einer allzu populären Schrift unwegsam
gemacht werden. Gerade weil Nyrop temperamentvoll und geistreich
schreibt, mag er viel Schüler in den Sibyllenberg locken; im Venusberg
aber ist er nie gewesen.
Berlin.
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben.
Von Richard Loewe.
(Vgl. oben 18, 1. 151.)
Mein früherer Bericht über die heutigen volkstümlichen Anschauungen
und Erzählungen über Rübezahl konnte wegen der Kürze der Zeit,
die mir für meine Sammlungen zu Gebote gestanden hatte, nur ein
sehr unvollständiger sein, weshalb ich im Juli und August 1909 — und
zwar diesmal auf mehr als fünf Wochen — abermals eine Reise in das
Riesengebirge unternahm. Meinen Plan, möglichst in allen Teilen dieses
Gebietes Sammlungen vorzunehmen, konnte ich freilich auch diesmal nicht
32 Loewe:
vollständig durchführen, wie ich denn in dessen östlichstem Striche um
Landeshut überhaupt nicht gewesen bin; dagegen habe ich, um der geo-
graphischen Verbreitung der Rübezahlsage nachzugehen, die Grenzen des
eigentlichen Rieseugebirges überschritten, und zwar westlich desselben fast
das ganze Isergebirge durchquert, östlich davon aber wenigstens noch das
kleine Rabengebirge besucht; ausserdem aber habe ich zufällig noch ein
Rübezahlmärchen, das noch viel weiter östlich, im Eulengebirge, erzählt
wurde, in einem Riesengebirgsdorfe gehört und anderwärts auch noch über
Rübezahl geltende Anschauungen aus dem nördlich vom Riesengebirge
liegenden Bober-Katzbachgebirge und wieder anderwärts solche aus dem
weit nördlich vom Eulengebirge gelegenen Zobtengebirge erfahren. Im
übrigen ist es mir noch besonders wichtig erschienen, möglichst in der
Nähe der Hauptlokalisierungsstätte Rübezahls auf dem Brunnberg, d. h. in
den zur Gemeinde Petzer (Gross- Aupa III) gehörigen Häusergruppen des
Riesengrundes, des Stumpengrundes, des Blaugrundes und der Richter-
bauden Material zu gewinnen.
An meiner Absicht, meine Forschungen im Riesengebirge fortzusetzen,
hatte mich auch der Angriff nicht irremachen können, den Prof. Dr.
Theodor Siebs, Mitteilungen der schlesischen Gesellschaft für Volkskunde,
Heft XX S. 128 ff., gegen den Wert meiner Sammlungen gerichtet hat.
Siebs behauptet, es sei von vornherein höchst unwahrscheinlich, dass
„einem Sommerfrischler, sobald er ins Riesengebirge hineinschaut, in
Hülle und Fülle die Sagen zuströmen sollten, wo sie den besten Kennern,
die im Gebirge heimisch sind, verborgen blieben". Nun, ich habe meine
zweite Riesengebirgsreise, die des Jahres 1907, keineswegs als Sommer-
frischler, sondern lediglich zum Zwecke der Rübezahlforschung unter-
nommen, wenn ich auch, durch Regell und Cogho irregeführt, ursprüng-
lich nur die Absicht hatte, mich über die Lage der Punkte, an denen die
Erzählungen von Rübezahl spielen, genauer zu orientieren. Auch sind
mir die Sagen keineswegs in Hülle und Fülle zugeströmt, sondern ich
habe mir dieselben bei den Leuten, die noch über Rübezahl zu erzählen
imstande und zugleich willens sind, mühsam zusammensuchen müssen.
Ich habe aber auch Regell und Cogho nicht kurzweg 'gute Kenner', wie
Siebs mich zitiert, sondern 'gute Kenner des Riesengebirges' genannt,
womit ja nicht gesagt ist, dass ich sie auch für gute Kenner der Riesen-
gebirgsbewohner halte. Was speziell Cogho betrifft, so hätte er sehr
wohl von zwei Leuten, die, wie sie mir erzählten, ihm Auskunft über
Sasen «;aben, von Gottlieb Leder in Agnetendorf, den ich 1907 (vgl. oben
18, 15) und von Robert Fleiss in Krummhübel, den ich 1909 befragt
habe, erfahren können, dass das Volk sehr wohl von Rübezahl spricht.
Freilich soll nun die Äusserung, dass das Volk von Rübezahl nichts
wisse, jetzt in dem Sinne gemeint sein, dass „die Forscher sowie auch
die Leute im Gebirge, die als Träger echten und wertvollen Sagenstoffes
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 33
gelten köünen, die sichere Empfindung haben, dass es sieh hier eben
nicht um altes echtes Gut handle". Von dieser Empfindung habe ich
allerdings bei Leder und Fleiss, die doch Cogho als Träger echten Sagen-
stoffes augesehen hat, nichts bemerkt; Cogho scheint überhaupt zu seiner
Ansicht, wie später auch Siebs, nur durch Regell gebracht worden zu sein,
vor dem kein Forscher je behauptet hat, dass das Volk von Rübezahl
nichts wisse. Regell beruft sich in einem an Siebs gerichteten und von
diesem S. 130 f. veröffentlichten Briefe auf einen jetzt verstorbenen Mann
namens Rose aus Klein-Aupa, der, selbst ein gläubiger und eifriger Ver-
treter des Volksglaubens, das Vorhandensein eines solchen Berggeistes und
irgendwelchen Glauben an ihn sehr entschieden geleugnet habe; das gleiche
behauptet er auch von seinen andern Gewährsmännern, die er nicht mit
Namen nennt. Da ich diesen „wurzelechten Vertretern unseres Volks-
glaubens" bisher „keine gleichwertig erprobten Zeugen gegenübergestellt"
hätte, so habe er alle Veranlassung, an seiner bisherigen Überzeugung
festzuhalten und nehme an, dass die von mir „ausgekundeten Rübezahl-
märchen nicht auf heimischem Boden gewachsen, sondern von aussen,
wahrscheinlich auf literarischem Wege, angeflogen sind".
Warum freilich die von mir ausgefragten Riesengebirgsbewohner nicht
auch als „wurzelechte Vertreter unseres Volksglaubens" gelten sollen, ver-
mag ich nicht einzusehen. Es befinden sich darunter solche, die wie
Carolina Buchberger aus dem Riesengrunde (1908 S. 4) und Augustin
Braun1) aus Gross-Aupa (1908 S. 3) des Lesens und Schreibens unkundig
und überhaupt nur im Dialekt zu sprechen imstande sind. Es befindet
sich darunter auch ein eifriger Schatzsucher und Kenner von Schatzsagen
wie der oben genannte Gewährsmann Coghos, Gottlieb Leder aus Agneten-
dorf. Dazu kommt, dass mir von den verschiedensten Leuten aus dem
Volke im Riesengebirge gesagt wurde, dass früher in ihrer Heimat sehr
viel über Rübezahl, vielfach auch, dass dort von ihm mehr als von anderen
Geistern gesprochen worden sei. Ist es aber bei solcher Lage der Dinge
wirklich denkbar, dass einzelne stark wundergläubige Riesengebirgsbe-
wohner nicht auch von Rübezahl gewusst oder aber eine Empfindung da-
für gehabt haben sollen, dass der Rübezahl, von dem andere Leute ihres
Gebirges erzählten, nicht eigentlich der Volkssage angehörte? WTenn
wirklich der betreffende Rose und die übrigen Gewährsleute Regells „eine
Gleichstellung ihrer Mitteilungen mit den Rübezahlsagen geradezu als
eine perfide Kränkung, als einen Zweifel an ihrer eigenen Glaubwürdigkeit"
auffassten, so muss der Grund dafür in etwas anderem zu suchen sein als darin,
dass die Rübezahlsage im Riesengebirge nicht bodenständig gewesen wäre.
Ich habe ja schon oben 18, 12 darauf hingewiesen, dass zu der Scheu,
speziell von Rübezahl zu sprechen, schon die Schule beigetragen haben
1) Irrtümlich von mir Valentin Braun genannt.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1911. Heft 1.
34
Loewe:
wird, in der die von diesem erzählten Geschichten als 'Märchen' oder
'Sagen' bezeichnet werden, während von Geistern wie dem Nachtjäger
oder dem grossen Leuchter doch in der Schule überhaupt nicht die Rede
ist. Dazu kam gewiss, dass gerade die Fremden im Riesengebirge viel
nach Rübezahl fragten oder wenigstens, wie mir ein Fremdenführer be-
richtete, ihren Kindern dort von demselben erzählen Hessen, wobei sie sich
in den meisten Fällen gewiss nicht gescheut haben werden, selbst über
Kübezahl als einen Aberglauben zu lächeln. Gerade dadurch, dass die
Rübezahlsage auf literarischem Wege in Deutschland so bekannt geworden
ist, waren die Riesengebirgsbewohner überhaupt dem Spotte ausgesetzt;
so sagte mir der 1839 in Wolfshau geborene, jetzt in Brückenberg wohn-
hafte Benjamin Wolf, dass beim Militär Leute, die wie er selbst aus dem
Riesengebirge gebürtig waren, mit Rübezahl gehänselt wurden. Und als
sich im Riesens-ebirge Bücher mit Titeln wie 'Märchen von Rübezahl'
verbreiteten, mussten doch auch diese dazu beitragen, die Figur Rübezahls
in noch höherem Grade als andere Geister, von denen man im Riesen-
gebirge sprach, als. einen Aberglauben empfinden zu lassen. Unter solchen
Umständen ist es doch aber gewiss nicht zu verwundern, wenn einzelne
Leute, die sonst aus ihrem Geister- und Wunderglauben keinerlei Hehl
machten, doch gerade von Rübezahl durchaus nichts wissen wollten.
Ein Beispiel dafür, wie Leute, die mit Rübezahl sehr wohl Bescheid
wussten, doch einem Fremden gegenüber nichts von ihm zu wissen be-
haupteten, während sie sonst ihren Wunderglauben nicht verbargen, habe
ich ja schon oben 18, 12 angeführt. Dass dieser alte Mann - es war der
jetzt verstorbene, damals vierundachtzigj ährige Bradler aus St. Peter, der
Schwiegervater von Vincenz Hollmann aus der Scharfbaude (18, 11) — in
Wirklichkeit sehr wohl von Rübezahl wusste, beweist auch die Dialekt-
form Ribezäl, deren er sich bediente (18, 158). Etwas Ähnliches, wohl
noch Bezeichnenderes kann ich jetzt von meiner letzten Reise aus den
Bradlerbauden berichten. Dort erzählte mir der daselbst 1836 geborene
Gastwirt Vincenz Hollmann zunächst ganz unbefangen und gläubig vom
Nachtjäger, vom Drachen und vom Wassermann; als ich ihn aber darauf
nach Rübezahl fragte, wollte er zunächst nicht mit der Sprache heraus.
Als ich dann weiter in ihn drang, sagte er, dass er von Rübezahl nur auf
der schlesischen Seite des Gebirges gehört habe; dort hätte man be-
hauptet, dass bei den Schneegruben Rübezahls Kammer sein sollte, wo
sich dieser in einer Schlucht des Felsens aufhielte. Nun ist aber eine
Kammer Rübezahls bei den Schneegruben sonst ganz unbekannt; wohl
aber gibt es auf der böhmischen Seite des Gebirges am Pantschefalle,
also ziemlich nahe bei den Bradlerbauden selbst, eine Schlucht, die von
den Umwohnern 'Rübezahls Schatzkammer' genannt und als ein Auf-
enthaltsort Rübezahls gedacht wird. Offenbar hatte Hollmann diese
Schlucht im Sinne, verlegte sie aber mit etwas verändertem Namen auf
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 35
die schlesische Seite, um die Bewohner seiner eigenen Heimat und be-
sonders sich selbst nicht in den Verdacht zu bringen, an Kübezahl zu
glauben. Er erzählte mir dann auch eine Geschichte (die ich weiter
unten wiedergebe) von jemandem, der in den grossen Teich stieg, und
nannte dabei den Betreffenden zunächst nur einen 'Mann1, gab dann aber
auf Befragen zu, dass es in Wirklichkeit Rübezahl war; die Erzählung
deckt sich in der Hauptsache auch mit einem mir auf derselben Reise
zuvor vom Schuhmacher Hertrampf in Arnsdorf berichteten Rübezahl-
märchen. Auch wenn ich in Kiesewald und Petersdorf auf Leute ge-
stossen bin, die mir sagten, dass dort zwar früher vom Nachtjäger usw.,
aber nicht von Rübezahl gesprochen worden sei (18, 17 ff.), so führe ich
das jetzt nicht mehr auf den Umstand zurück, dass manche Leute in
diesen Dörfern wirklich mehr von anderen Geistern als von Rübezahl
gesprochen haben, sondern vielmehr darauf, dass meine Berichterstatter
in dem Glauben an Rübezahl, von dem ja in Wirklichkeit allerwärts im
Riesengebirge und weit darüber hinaus (wenn auch in verschieden starkem
Masse) erzählt wurde, einen stärkeren Aberglauben als in den Vorstellungen
von anderen Geistern sahen.
Bei solcher Sachlage kann ich allerdings Siebs' Rate nicht folgen, zu
meinen früheren mir von Regell eingegebenen Zweifeln zurückzukehren.
Siebs meint allerdings, dass Regell als Sohn des schlesischen Stammes für
•das Echte bei diesem ein ganz besonderes Gefühl hätte, das der Fremde
bei allem Eifer sich niemals aneignen könnte. Nun, Karl Weinhold war
doch auch ein Schlesier und über volkskundliche Dinge mindestens so ur-
teilsfähig wie Regell und Cogho, hat aber im Gegensatz zu diesen und in
Übereinstimmung mit Ulrich Jahn an der Bodenständigkeit der Rübezahl-
sage im Riesen- und Isergebirge keinerlei Zweifel gehegt (oben (5, 332),
wobei es srar nichts ausmacht, dass er wie letzterer dem Prätorius eine
selbständige Übertragung einer grossen Menge von Sagen auf Rübezahl
zuschreibt; verweist er doch auch ausdrücklich auf den von Jahn im Iser-
gebirsre gefundenen Namen Geigenfriedel oder Fiedelfritz für Rübezahl,
und hat er auch selbst die von diesem Forscher dort gesammelten Rübe-
zahlmärchen später (oben 11, 336 f.) veröffentlicht. Gegenüber der Meinung
Regells aber, der doch wohl nicht speziell aus dem Riesengebirge ge-
bürtig ist, möchte ich mich hier noch weiter auf das Urteil einiger Lehrer
berufen, die in diesem Gebirge selbst geboren sind und dort stetig oder
grösstenteils gelebt haben. So sagte mir der 1858 in Trautenau geborene
und seit 1889 in Gross-Aupa amtierende Oberlehrer Joseph Kohl folgendes:
„Ich habe den Eindruck, dass es sich bei Rübezahl um eine ganz volkstüm-
liche Sage handelt, die nicht erst durch die Literatur in das Volk gekommen ist.
Rübezahl ist den Bewohnern von Gross-Aupa sogar vertrauter als der Nachtjäger,
der Feuermann und andere Geister. Bücher über Rübezahl waren im böhmischen
Riesengebirge nur sehr selten zu finden; im letzten Jahrzehnt hat allerdings der
Riesengebirgsverein solche verbreitet. Seit Anfang der 18*0 er Jahre gibt es Rübe-
3*
3c Loewe:
zahlbücher in den Schulbibliotheken; einiges über Rübezahl steht auch in den
Schullesebüchern. Doch besteht erst seit 1869 der Schulzwang in Österreich; vor-
her gingen viele Kinder im Riesengebirge gar nicht zur Schule, die anderen meist
nur im Winter. Es gab daher sehr viele Analphabeten."
Ferner sagte mir der 1866 gleichfalls in Trautenau geborene und jetzt gleich-
falls in Gross-Aupa amtierende Lehrer Alfred Burger, dass er durchaus den Ein-
druck habe, dass es sich bei Rübezahl um eine durch und durch volkstümliche
Sage ohne Einwirkung irgendwelcher Literatur handele, wozu er noch bemerkte,
dass die Sage auch in Trautenau selbst noch lebendig sei. Das gleiche Urteil
hörte ich auch von dem 1881 in Ober-Altstadt geborenen Rudolf Hofmann, der
seit 1905 in Petzer Lehrer ist. Derselbe teilte mir im einzelnen noch folgendes mit:
„In Ober-Altstadt sprechen alte Leute jetzt noch von Rübezahl, und zwar mehr
als vom Feuermann und vom Nachtjäger. Was man vom Nachtjäger erzählt, ver-
legt man immer südlich von Trautenau, wo früher die Ober-Altstädter Hauern nach
Prag fuhren. Die Geschichten von Rübezabl lässt man dagegen entweder im
Hochgebirge oder um Ober-Altstadt selbst spielen."
Auf der schlesischen Seite des Riesengebirges berichtete mir der 1860 in
Lomnitz geborene Kantor Prescher in Arnsdorf, der auch, durch mich angeregt, in
seiner Klasse die Kinder fragte, ob sie etwas über Rübezahl wüssten, folgendes:
„Die geeignete Zeit, viel über Rübezahl zu erfahren, ist leider vorüber; vor
ungefähr zehn Jahren lebten noch die alten Gebirgler, die an den sogenannten
Lichtenabenden die Geschichten von ihm erzählten. Heute ist die Sache ver-
schwunden; die Menschen haben die alten Sitten und Gebräuche abgelegt. Die
Rübezahlerzählungen sind auf jeden Fall eine echt volkstümliche Angelegenheit;
literarischen Einflüssen ist das hiesige Volk wenig zugänglich; auch würde dann
die Sache keine solche Allgemeinheit erlangt haben. Die ältesten Rübezahlbücher
habe ich bei meinen Schulkindern vor etwa fünfzehn Jahren gefunden; ich selbst
habe als Kind solche Bücher nicht gelesen ; Erwachsene lasen sie erst recht nicht.
Bei einer Nachfrage in meiner Klasse meldeten sich fünf oder sechs Kinder, die
als ihre Quellen Bücher über Rübezahl angaben. Dagegen erzählte die 1897 in
Fellhammer geborene Martha Meier eine Rübezahlgeschichte, die sie von ihrer in
Silberberg geborenen Grossmutter Emma Menzel hatte1). Ferner sagte die 1898
geborene Margarethe Seifert, eine Enkelin des vor einigen Jahren gestorbenen
Teichbaudenwirts Häring, dass Rübezahl den Kräutersuchern am kleinen Teich er-
schienen sei."
Dass an den Lichtenabenden viel von Rübezahl erzählt wurde, ist mir auch
sonst mehrfach gesagt worden. Ferner berichteten mir auch auf der schlesischen
Seite des Riesengebirges verschiedene alte Leute, dass es früher auch dort trotz
des preussischen Schulzwanges viele Analphabeten gab, weil die Kinder im Sommer
meist die Kühe hüten mussten, im Winter aber wegen der schlechten Wege nicht
zur Schule gehen konnten.
Ausser den genannten Lehrern bezeichneten von Gebildeten, die im Riesen-
gebirge aufgewachsen waren und sich für das Volksleben ihrer Heimat sehr inter-
essierten, die Rübezahlsage als echt volkstümlich der in Krummhübel geborene
Bergverwalter Teichmann (vgl. oben 18, 13. 159) sowie der 1864 als Sohn eines
Arztes in Wurzelsdorf geborene Kunstmaler Franz Rösler in Wien, der jetzt noch
die Sommer in seinem Heimatsdorfe zubringt. Letzterer sagte mir auch, dass
Bücher über Rübezahl erst seit 25 Jahren im Riesengebirge verbreitet wären, und
führte mich dann in Wurzelsdorf zu Leuten, die mir vortreffliche Auskunft gaben.
1) Diese Geschichte steht gegen Schluss dieses Aufsatzes.
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 37
Aus eigener Erinnerung teilte er mir noch mit, dass Rübezahl mit Kräutern zu
Heilzwecken hausiert und dass er Gewitter gemacht haben soll.
Auch die Leute aus dem Volke, welche mir über Rübezahl Auskunft erteilten,
nannten fast durchweg die Erzählungen älterer Personen als die Quellen ihrer
Kenntnis. Eine Ausnahme machten fast nur der Schneidermeister Bönsch in Mar-
schendorf und der Uhrmacher Tschiedel in Weisbach, die beide über Rübezahl
zugleich gehört und gelesen haben wollten. Doch schienen mir die Angaben des
ersteren zum Teil selbständig von ihm vorgenommene Übertragungen auf Rübe-
zahl zu sein, so, dass sich dieser auch in einen Hirsch oder Rehbock mit einem
Kreuz auf der Stirn verwandeln könnte, der, wenn der Jäger auf ihn schiessen
wollte, verschwinde; die Geschichte von Rübezahl als Gläubiger berichtete er so,
dass sein Schuldner die Unterschrift mit Blut machen musste, das er sich aus dem
Finger geritzt hatte. Bei Tschiedel fiel es auf, dass er auch über den Nachtjäger
und die Buschweiber nicht nur gehört, sondern auch gelesen haben wollte. Der
1833 geborene Feldgärtner Mitlöhner in Gross-Aupa behauptete, schon im Alter von
20 — 25 Jahren ein Buch über Rübezahl, das ein anderer Gross-Aupaer besass, ge-
lesen zu haben, bekannte aber, dass er nicht viel davon behalten hätte. Der 1827
in Niederhof geborene Johann Erben sagte mir, dass er etwa erst vor zehn Jahren
ein Buch über Rübezahl, das sein Enkel aus der Schulbibliothek mitgebracht, ge-
lesen habe, aus dem er mir aber nichts erzählte. Im übrigen berichtete mir von
meinen Gewährsleuten nur noch der Klein-Aupaer Florian Klein, dass er ein Buch
über Rübezahl gelesen hätte, das er seit etwa 30 Jahren im Hause hat (Rübezahl-
Märlein für Klein und Gross von Ludwig Bowitsch, Wien 1877); doch setzte er
hinzu, dass er die Geschichten des Buches nicht im Kopfe behalten hätte und mir
nur nach den Erzählungen seines Vaters berichte: auch fände man sonst solche
Bücher kaum in Klein-Aupa.
Wenn also die sonst so wundergläubigen Gewährsleute Regells sich
der Rübezahlsage gegenüber 'durchaus ungläubig und ablehnend' ver-
halten haben, so kann der Grund dafür unmöglich der gewesen sein, dass
sie die Rübezahlsage nur aus der Literatur kannten oder doch der
Meinung waren, dass dies mit denjenigen Riesengebirglern, die von Rübe-
zahl erzählten, der Fall war. Wären sie wirklich dieser Ansicht gewesen,
so hätten sie auch schwerlich „eine Gleichstellung ihrer Mitteilungen mit
den Rübezahlsagen geradezu als eine persönliche Kränkung, als einen
Zweifel an ihrer eigenen Glaubwürdigkeit'' aufgefasst, wo das gedruckte
W ort doch auch bei dem Manne aus dem Volke eher mehr als weniger
Glauben als das gesprochene findet, zumal es doch auch Zaub erblicher,
S.liatzsucherbücher und dergleichen gibt (dass solche auch im Riesen-
gebirge nicht unbekannt sind, zeigte mir eine Mitteiluni;- von Coghos Ge-
währsmann Leder, wonach er selbst ein Schatzsucherbuch, in dem auch
von der Abendburg die Rede war, besessen hatte). Mindestens aber hätte
zu der Entrüstung von Regells Gewährsleuten über die Zumutung, an
Rübezahl zu glauben, in diesem Falle gar keine Veranlassung vorgelegen.
Wohl aber wird diese Entrüstung verständlich, wenn die betreffen-
den Leute irgendwelche Fremde über Rübezahl hatten spötteln hören oder
doch in der Schule gelernt hatten, dass Rübezahl dem Aberglauben an-
gehörte. An andere Geister, über welche weder die Fremden sprachen,
38
Loewe :
noch auf welche die Schule aufmerksam machte, konuteu sie sehr wohl
weiter glauben. Dass Wundergläubige einzelnes, was sonst Volksglaube
ist, doch für Aberglauben halten können, dafür habe ich ja oben 18. 18
und 21 Beispiele angeführt.
Noch viel weniger würde sich die Stellungnahme von Regells
Gewährsleuten daraus erklären lassen, dass die Rübezahlsage einmal in
früheren Zeiten aus der Literatur in den Volksmuud übergegangen wäre.
Denn die Leute aus dem Volke können höchstens unterscheiden zwischen
dem, was sie selbst gelesen, und dem, was sie selbst gehört, aber inner-
halb des letzteren doch sicher niemals zwischen dem, was schon ihre Vor-
fahren gehört, und dem, was diese gelesen haben.
Aus den oben gegebenen Darlegungen geht auch soviel deutlich her-
vor, dass Rübezahl mindestens schon seit einigen Menschenaltern eine
vollständig volkstümliche Sagenfigur des Riesengebirges bildet. Dass er
dies nicht erst durch Musäus und seine Nachfolger geworden ist, darauf
weist auch deutlich der Umstand, dass er in Abweichung von dieser jungen
Literatur in der heutigen Volkssage bisweilen auch als böser Geist auf-
tritt und mit dem Teufel identifiziert wird, so in der weit verbreiteten
Sage von seiner Absicht, Schlesien zu üb erschwemm pn; merkwürdig ist
ganz besonders noch, dass die Auffassung von Rübezahl als einem über-
haupt bösen Geiste gerade an seiner Hauptlokalisierungsstätte, im Riesen-
srunde, herrscht. Dafür, dass Rübezahl mindestens schon vor Musäus dem
Volke im Riesengebirge durchaus bekannt war, spricht auch vor allem
noch seine dort jetzt noch weit verbreitete, zu Prätorius stimmende
Namensform Ribenzäl, deren „n" der von Musäus und seinen Nachfolgern
gewählten Form fehlt.
Wollte man nun aber aus irgendwelchen Gründen annehmen, dass
Rübezahl in noch früherer Zeit aus der Literatur in die Volkssage des
Kiesengebirges übergegangen wäre, so ergibt sich dabei zunächst die
Schwierigkeit, dass damals die Zahl der Analphabeten noch bedeutend
grösser als im 19. Jahrhundert gewesen sein muss, und dass auch bei den
wenigen Leuten, die etwa lesen konnten, die noch heute im Riesengebirge
bestehende Scheu, Geld für Bücher auszugeben (von der mir dort wieder-
holt erzählt worden ist), gleichfalls schon bestanden haben wird. Ein
wichtigeres Kriterium aber als diese Erwägung bieten wieder die volks-
tümlichen Namensformen für Rübezahl, und zwar in diesem Falle die
Vokalverhältnisse des zweiten Bestandteils.
Die Form mit einem nach ö hinklingenden ä (Ribenzäl, Ribazäl) ist
die im Südosten des Riesengebirges, d.h. im Riesengrunde, in Gross-Aupa,
Johaunisbad usw. volksübliche entsprechend der dort geltenden Vertretung
von mhd. age durch ein solches ä z. B. in trän 'tragen*, wän 'Wagen', näl
Nagel*. Weiter westlich jedoch, in St. Peter und Spindelmühle sowie in
Niederhof und Hackelsdorf, sagen die alten Leute Ribezäl entsprechend
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 39
der Vertretung von mhd. age durch ä, z. B. in trän 'tragen', wän
'Wao'en' näl 'Nao-eF. Geht man weiter nach Westen, d. h. nach Witko-
witz, Wurzelsdorf usw., so stösst man wieder auf Rlbezäl in Überein-
stimmung mit den Dialektformen trän, wän, näl usw. (nur mit dunklem
ä). So lautet es auch noch nordwestlich hiervon in Klein-Iser im Iser-
o'ebir°-e; geht man jedoch noch weiter nordwestlich nach Weisbach, so
findet man dort die Form Ribzöil neben tröin, wöin, nöil. Weiter nörd-
lich, wie in Schönwald und Bullendorf, sagt man Ribzoil, entsprechend
troiu, woin, noil und so auch wieder weiter östlich noch in Grünau im
Bober-Katzbachgebirge Ribezoil neben troin, woin, noil.
Wären die Dialektformen für Rübezahls Namen nur aus der Lite-
ratursprache umgeformt worden, so hätte das einzig durch volksetymo-
logische Anlehnung an zäl, zäl, zöil, zoil, das allerdings in der Bedeutung
'penis' noch vorkommt, geschehen können. Nun findet sich aber in der
heutigen Gestalt der Yolkssage, wenigstens im Riesengebirge selbst, kein
einziger Zug, der den Berggeist Rübezahl irgendwie zum männlichen
Gliede in Beziehung setzte. Aus dem Westen des Isergebirges, aus Ras-
penau und Mildenau, gibt allerdings Ulrich Jahn, oben 11, 336", die Mit-
teilung wieder: „Ruft man ihn Rübenzal, was Rübenschwanz bedeutet, so
hört er allerdings sofort, doch fühlt er sich schwer beleidigt " Hier dürfte
es sich aber um eine Form Ribenzoil oder Ribenzöil, die nur dem Fremden
gegenüber an die Literatur- und Schulform angeglichen wurde, handeln,
da im nahen W^eisbach dialektgemäss Ribzöil herrscht. Die Form war
hier den Worten 'Zahl, zählen' zu unähnlich, als dass sich hier die volks-
etymologische Sage von der Herkunft des Namens Rübezahl vom Rüben-
zählen hätte verbreiten können, so dass die alte Etymologie, die ja in
dem Vorhandensein von zoil, zöil 'penis' (vielleicht auch noch allgemein
'Schwanz') eine Stütze behalten hatte, in der Volksvorstellung bestehen
blieb. Dagegen bin ich nirgends mehr im Riesengebirge selbst auf ein
Bewusstsein von der wirklichen Herkunft des Namens Rübezahl gestossen.
Vielmehr gehört dort die Sage, dass Rübezahl nach dem Rübenzählen be-
nannt worden sei, zu den am weitesten verbreiteten (auch im Raben-
gebirge habe ich sie noch gefunden) und wird sowohl in dessen östlichem
wie in dessen westlichem Teile, der mhd. age durch ä vertreten hat, aber
auch in dessen mittlerem, in dem dafür ä steht, erzählt. Diese volks-
ftymologische Sage zeigt ja deutlich, dass wenigstens im eigentlichem
Rieseno-ebiroe die Identität des zweiten Bestandteils des Namens Rübe-
zahl mit zäl 'penis' entweder vergessen worden war oder doch unan-
genehm empfunden wurde. Eine lautliche Umformung ist freilich auf der
böhmischen Seite des Riesengebirges (auf der schlesischen Seite desselben,
wo ich zuerst gewesen bin, habe ich leider auf die Dialektformen noch
nicht geachtet) nirgends durch die Sage hervorgerufen worden; denn auch
im Gebiete von Spindelmühle und Niederhof, wo 'Zahl' zäl (ä nach 0 hin
40 Loewe:
gesprochen) und 'zählen" zelen (mit geschlossenem e) heisst, ist die laut-
aesetzliche Form Ribezäl die bei alten Leuten aus dem Volke allein
übliche. Hat aber die so weit verbreitete volksetymologische Sage keine
Änderung der Wortform veranlasst, so würde das doch sicher erst recht
nicht die Anlehnung au ein Wort vermocht haben, zu dem das Volk Rübe-
zahl von neuem hätte iu Beziehung setzen müssen, wovon sich aber nirgends
eine Spur in den heutigen A'olksanschauungen des Riesengebirges selbst findet.
Aus den voranstehenden Erörterungen geht also hervor, dass Rübe-
zahl dem Volke des Riesengebirges schon zu einer Zeit bekannt war, als
der zweite Bestandteil des Namens noch -zagel lautete. Da bereits Prä-
torius im Titel seines Hauptwerkes den Rübezahl Ribenzalius nennt, so
kann auch nicht er es gewesen sein, der den Berggeist im Riesengebirge
bekannt gemacht hat; zeigen doch die Erwähnungen Rübezahls im
16. Jahrh. bereits die Form auf -zäl. Rübezahl wird also spätestens schon
im 15. Jahrh. im Volksglauben des Riesengebirges existiert haben1).
Leider habe ich nicht mehr ermitteln können, wie weit sich Dialekt-
formen für Rübezahls Namen noch über das Riesengebirge hinaus er-
strecken. Verschweigen darf ich hier allerdings nicht, dass mir aus Rogau-
Rosenau im Zobtengebirge eine nicht zur Lautvertretung des Dialekts
stimmende Form dafür mitgeteilt wurde. Danach spricht man dort
wöin, tröin, nöil (mit offenem ö), aber Ribezäl (mit einem ä, das diesem
ö fast gleicht) wie zäl 'Zahl1. Da mir indes diese Mitteilung nur von
einem sehr jungen Manne gemacht wurde, so ist es nicht ganz sicher, ob
nicht eine Form Ribezöil hier doch noch bei den alten Leuten existiert.
Sollte jedoch Ribezäl hier von alters her gebräuchlich sein, so braucht die
Form doch deswegen keineswegs erst aus der Literatur zu stammen, viel-
mehr wäre es in diesem Falle auch sehr wohl möglich, dass die Volkssage
bei ihrem Vordringen das Zobtengebirge erst zu einer Zeit erreicht hätte,
in der bereits in den einzelnen schlesischen Mundarten mhd. age in ver-
schiedener Weise kontrahiert worden war. Auch die Sage vom Rüben-
zählen, die meinem Gewährsmann bekannt war, könnte sich mit der
Namensform zugleich vom Riesengebirge hierhin ausgebreitet haben; un-
bekannt war ihm ein Wort wie zöil oder zäl für 'penis' oder 'Schwanz'.
Jedenfalls hat sich aber die Rübezahlsage schon sehr früh von ihrem
Zentrum, dem Riesengrunde, aus nach allen Seiten hin verbreitet, wie
besonders die übrigen von mir ermittelten mundartlichen Formen lehren.
1) Diese Feststellung schliesst freilich keineswegs die Richtigkeit von Regells Be-
hauptung aus, dass es oberdeutsche und romanische Goldsucher gewesen sind, die zuerst
im Jtiesengebirge von einem Rübezahl gesprochen haben. Aber es ist doch gewiss auch
schon an und für sich eine unwahrscheinliche Annahme, dass Rübezahl aus den Vor-
stellungen der fremden Goldsucher des Riesengebirges in die allgemeiue deutsche Literatur
und erst aus dieser wieder in den Glauben der Riesengebirgler selbst übergegangen wäre.
Viel einfacher ist es doch anzunehmen, dass die Bewohner des Riesengebirges ihren
Glauben direkt von den in ihre Heimat gekommenen fremden Goldsuchern erhalten haben.
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 41
Bei der schon vor Jahrhunderten entstandenen kontinuierlichen Ausbreitung
der Rübezahlsage im Volke wird man auch nicht mit Regell ohne weiteres
behaupten dürfen, dass, wo sich eine Spur dieser Sage noch in der
schlesischen Ebene findet, „ja wohl kein Zweifel sein kann, dass es sich
um literarischen Flugsamen handelt". Aber selbst wenn letzteres der
Fall sein sollte, so bewiese das doch absolut nichts gegen die Boden-
ständigkeit der Sage im Riesengebirge selbst und könnte höchstens für
die Richtigkeit der Annahme wenigstens eines literarischen Einflusses auf
die schon bestehende Volkssage in das Gewicht fallen. Da aber Bücher
über Rübezahl im Riesengebirge selbst früher kaum vorhanden waren, so
glaube ich jetzt auch kaum noch irgend einen Einfluss der Rübezahl-
literatur auf die Rübezahlsage, wie sie sich im Volkmunde erhalten hat,
annehmen zu dürfen.
Für verfehlt ist auch Siebs' Argument zu halten, dass die Rübezahl-
sagen der Literatur deshalb, weil sie eine so gewaltige Verbreitung wie
wenige andere Sagen gefunden haben, doch nicht allein im Riesengebirge,
wo sie doch spielen, unbekannt geblieben sein können. Denn durch die
Literatur wurde Rübezahl im wesentlichen doch nur den Gebildeten und
erst in neuerer Zeit auch den Schulkindern aus den unteren Volksschichten
bekannt; diese wissen zwar von dem Berggeiste, aber erzählen doch kaum
von ihm und glauben noch weniger an seine Existenz. Im Riesengebirge
hat man aber noch vor wenigen Jahrzehnten im Volke nicht nur von
Rübezahl viel erzählt, sondern auch vielfach an ihn als den Geist des
Gebirges geglaubt. Bei dem schlechten Schulbesuche, der daselbst herrschte,
wird man von ihm in früheren Zeiten dort im wesentlichen überhaupt
nur in den Städten, d. h. in Hirschberg, Schmiedeberg, Trautenau und
Hohenelbe gelesen haben; vielleicht aber bestand auch hier keine grosse
Xeio-ungr, über Rübezahl noch etwas aus der Literatur zu erfahren, da
man ja schon genug von ihm reden hörte.
Nach Siebs S. 128 würde freilich in Schlesien auch die Sage vom
Kynast ein bekanntes Beispiel dafür bilden, dass eine literarisch über-
lieferte Sage in das Volk übergegangen wäre. Ob das Volk aber wirklich
viel von dieser Sage erzählt, erscheint mir sehr zweifelhaft; wenigstens
sagte mir der frühere Gebirgsführer Hermann Liebig aus Hermsdorf
unterm Kynast, dass die Geschichte von der Prinzessin Kunigunde, die
ihre Freier auf der Mauer der Burg auf dem Kynast herumreiten Hess,
nur für die Fremden erzählt wurde, während über Rübezahl auch von
den Leuten in Hermsdorf selbst, und zwar mehr als über den Nachtjäger,
die weisse Frau und den grossen Leuchter gesprochen worden sei.
Auch darin kann ich Siebs nicht zustimmen, wenn er S. 129 den
„Rübezahlfiguren, mit denen die Industrie im Gebirge sich breitmacht1-,
einen stärkeren Einfluss auf die Anschauungen der Gebirgsbewohner über
Rübezahl zuschreibt. Wer meine früheren und jetzigen Mitteilungen
42 Loewe:
genau durchliest, wird darin auch Vorstellungen über das Aussehen
des Berggeistes finden, die nirgends bei den Rübezahlfiguren zum
Ausdruck gekommen sind. "Wenn aber diese Figuren doch denjenigen
Vorstellungen über Rübezahls Aussehen gleichen, welche die weiteste
Verbreitung im Riesengebirge haben, so sind sie eben diesen Vor-
stellungen nachgebildet worden, nicht aber die Vorstellungen den
Figuren, gerade so wie die griechischen Bildhauer die Attribute der von
ihnen dargestellten Götter «lern griechischen Volksglauben entnommen
haben und nicht umgekehrt.
Siebs bemerkt freilich spöttisch im Hinblick darauf, dass in einem
von mir mitgeteilten Volksmärchen sich Rübezahl Moos in die Pfeife
stopft und so auch figürlich dargestellt wird, dass er doch „das Tabak-
rauchen nicht als ein notwendiges Kriterium echter Gestalten der deutschen
Mythologie" ansehen möchte. Als ob sich nicht jüngere Züge an eine
alte Sagenfigur in der Volksvorstellung ganz von selbst ansetzen könnten!
Merkwürdig ist auch, was Siebs vom „alten Bradler auf dem Tannenstein"
berichtet: „und einmal habe er [Bradler] ihn [Rübezahl] auch wirklich
gesehen: er hatte einen langen grauen Bart wie Baumflechten und sah
schrecklich aus, und er hatte eine Tabakspfeife im Munde, und man habe
(so ging, glaube ich, die Geschichte weiter) ein Geldstück hineingesteckt —
also es war wohl eine Art Automat, wie ihn auch Loewe (S. 24) erwähnt".
Es ist sehr bedauerlich, dass Siebs sich hier nicht mehr bestimmt an die
Art der Aussage seines Gewährsmanns erinnert. Sollte derselbe wirklich
gesagt haben, dass er „einmal wirklich" Rübezahl, der „schrecklich
aussah", gesehen und dass man „ein Geldstück hineingesteckt" habe, so
hat er allerdings nicht im Ernst über Rübezahl gesprochen, wie denn
ja auch Siebs selbst sagt, dass er über Rübezahl „im Ernst niemals"
habe reden hören. Aber mit aller Bestimmtheit muss ich darauf hin-
weisen, dass mein Gewährsmann, der mich zuerst auf den Automaten
aufmerksam gemacht hat, Ernst Friedrich aus Petersdorf, diese von ihm
gesehene Figur auf das allerschärfste von dem in den Bergen lebenden
Rübezahl unterschied, von dem ihm alte Leute seines Heimatsdorfes
erzählt hatten. Und ebenso verwunderlich muss ich es finden, wenn Siebs
an solchen Automaten lebhaft erinnert wird bei Erzählung der Carolina
Buchberger, wie Rübezahl mit seinem Graubart so, wie er an den Fichten
hängt, am Lichtenabend zu ihres Vaters Grossvater kam, dort seinen Hut
von Rinde niederlegte, kein Wort sprach und nur Bewegungen machte,
als ob er auch spänne, dabei aber wieder nur Graubart spann, während
ringsum die Leute in stummer Furcht dasassen. Diese Erzählung muss
doch wohl auf jeden Unbefangenen einen echt volkstümlichen Eindruck
machen; um so mehr musste sie das aber auf mich, der ich die Buch-
berger, die nicht lesen und schreiben kann, nicht nur in ihrem reinen
Dialekt habe zu mir sprechen hören, sondern sie dabei auch dem Rübezahl
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 43
die Bewegungen des Spinnens, die dieser aber nicht am Rocken, sondern
in der Luft gemacht hätte, habe nachahmen sehen.
Es ist ferner wohl kaum ein Zufall, dass fast alle meine Gewährs-
leute, die entweder selbst den Rübezahl gesehen haben wollen oder einen
bestimmten Fall dafür anzuführen wussten, dass ihn einer ihrer Vorfahren
gesehen hätte, aus der nächsten Umgebung von dessen Hauptlokalisierungs-
stätte, d. h. aus dem Riesengrunde, dem Stumpengrunde, dem Blaugrunde
oder Gross- Aupa gebürtig waren. Besonders möchte ich hierbei noch
einmal auf Barbara Gleisner hinweisen, die, als sie mich im Logierhause
der Frau Marie Gleisner (jetzt in zweiter Ehe Richter) den Handarbeiter
Wilhelm Gleisner nach Rübezahl fragen hörte, ganz von selbst die
Äusserung tat, dass sie Rübezahl oft auf den Bergen gesehen hätte, wie
er eine Hucke trug, aber verschwunden sei, wenn er sich von ihr bemerkt
sah, die aber, als sie wahrnahm, dass ich mir Notizen machte, nicht zu
bewegen war, mir weitere Auskunft zu geben (vgl. oben 18, 7). Die aus
dem so abgeschlossen liegenden und von Fremden früher kaum besuchten
Blaugrunde gebürtige Maria Wimmer fing gleichfalls ganz von selbst an
zu erzählen, wie sie Rübezahl gesehen hätte, als ich den im Hause ihres
Mannes wohnhaften Aiigustiii Braun nach diesem fragte; freilich legte sie
sich keinerlei Zurückhaltung auf, als sie mich Notizen machen sah, sondern
sprach in lebhafter Weise weiter (oben 18, 9).
Unter solchen Umständen habe ich es denn doch der Mühe für wert
gehalten, dem 'RübezahlschwindeF noch einmal nachzugehen, um über
die bekannteste Gestalt der deutschen Volkssage so viel zu erfahren, wie
es nur irgend noch möglich war. Die mir gemachten Mitteilungen, die
sich ja beinahe alle in denselben Anschauungen und Gedankenkreisen
bewegen, haben auch fast durchweg den Eindruck voller Wahrhaftigkeit
auf mich gemacht. Nur bei einem einzigen Manne wichen dieselben so
sehr von den übrigen ab, dass ich hier bewusste Täuschung annehmen
musste, weshalb ich auch seine Aussagen hier nicht mitanführen werde.
Yon meinen übrigen Gewährsleuten hat auch wohl nur ein einziger
selbständige Übertragungen von anderen Sagenfiguren auf Rübezahl vor-
genommen (vgl. S. 37). Sonst könnten mir einige falsche Angaben kaum
noch aus einer anderen Ursache als infolge meiner Fragestellungen gemacht
worden sein; wo mir dies nachträglich möglich schien, habe ich die be-
treffenden Antworten hier fortgelassen oder doch nur anmerkungsweise
mit der nötigen Reserve wiedergegeben; etwas zahlreicher waren aber
solche Möglichkeiten nur bei Stefan Trömer aus Krummhübel, der mir im
übrigen sehr reiche Auskunft gab.
Meine Gewährsleute waren auf der schlesischen Seite des Gebirges
diesmal zum Teil ehemalige Fremdenführer (darunter auch der eine erwähnte
Gewährsmann Coghos, Robert Fleiss), wie denn in einigen Dörfern andere
Leute, die über Rübezahl Auskunft geben konnten oder wollten, überhaupt
44 Rhamm:
nicht melir zu finden waren. Dass unter den Mitteilungen der früheren
Gebirgsführer oder ihrer Kinder die ikonischen Sagen sowie kurze An-
gaben über bestimmte nach Rübezahl benannte Ortlichkeiten oder Steine
eine besondere Rolle spielen, ist gewiss nicht zu verwundern. Es wäre
auch nicht unmöglich, dass einiges hiervon auf Erfindung der Führer selbst
beruhte: doch zeigen Übereinstimmungen zwischen mehreren solchen Mit-
teilungen, dass sich hier mindestens unter diesen selbst schon eine ge-
wisse Tradition gebildet hatte. Dagegen kann nicht das geringste Bedenken
obwalten, den Fremdenführern bei Erzählungen und Mitteilungen anderer
Art über Rübezahl, die sich ja auch in den Rahmen seines sonstigen
Bildes beim Volke fügen, zu misstrauen. Die Fremdenführer waren eben
durch ihren Beruf dazu gekommen, Hüter der Rübezahl-Tradition zu
werden, die auf der schlesischen Seite des Gebirges sonst im allgemeinen
noch viel mehr als auf der böhmischen verblasst ist.
In meiner nun folgenden Einzeldarstellung habe ich wieder die
geographische Anordnung gewählt sowie Alter, Name und Herkunft
meiner Gewährsleute angegeben, womit ja für jedermann nicht nur eine
Kontrolle ermöglicht, sondern auch der philologischen Forderung nach
genauer Quellenangabe auch bei einer Sammlung aus dem Volksmunde
entsprochen wird.
(Schluss folgt.)
Die altoermanische Wirkgrube auf slawischem Boden,
Von Karl Rhamm.
Unter den dürftigen Nachrichten, welche die Römer uns über die
Bauten unserer Vorfahren hiuterliessen, sind die eingehendsten und ver-
ständlichsten noch diejenigen, welche die Wirkgrube (Dung) betreffen,
die in besonderem Grade ihre Aufmerksamkeit rege gemacht hatte.
Schon aus diesem Grunde geht es nicht an, den 'Dung' mit Erdgruben
zusammenzuwerfen, wie sie auch im Altertum bei anderen Völkern nicht
selten vorkamen. Ebensowenig aber ist es zulässig, mit Stephani in dem
Dung eine veraltete Form des Wohnhauses selbst zu sehen, die erst infolge
der Entwicklung und Aufstockung des letzteren zu einem Nebenzweck
abseits gestellt ward. Vielmehr war der Dung von dem Augenblicke
seine- Bestehens an ein Nebengebäude des altgermanischen Hofes, über
dessen ursprüngliche Einrichtung und Bestimmung die Nachrichten der
Die altgermanische Wirkgrube auf slawischem Boden. 45
Alten, ergänzt durch spätere Hinweise, keinen Zweifel lassen. Da meine Aus-
führungen über die germanische Wirkgrube nur als Einleitung zu ähnlichen
Einrichtungen auf slawischer Seite gelten sollen, verweise ich auf die sprach-
liche Untersuchung von Rautenberg (Sprachliche Nachweise zur Kunde
des germ. Altertums S. 15 ff.), und die sachliche von Stephani (Der älteste
deutsche Wohnbau 1, 92 f.).
In bezug auf die Verbreitung schreiben die römischen Quellen die
Wirkgrube allgemein den Germanen zu, wobei man freilich zunächst an
die ihnen benachbarten zu denken hat, in bezug auf die Benennung
scheiden sich die Stämme; tunc althochdeutsch, tunc, dune mittelhoch-
deutsch gilt zunächst für Oberdeutschland, wie denn heute noch in Nürn-
berg und Augsburg tung und düng eine kellerartige Weberwerkstatt be-
deuten; dazu kommen die unten folgenden Zeugnisse für Thüringen; für
Skandinavien ist dyngja in derselben Bedeutung aus Island bezeugt; bei
den Franken und Friesen tritt ein anderes Wort ein: screona, noch später
französisch e(s)craigne1).
Von dem Ausdruck düng ist soviel sicher, dass er mit unserem düng
(stercus) und düngen zusammenhängt; darüber lässt die Angabe des
Tacitus, nach der das Wesen der Wirkgrube, das sie von andern Gruben
unterscheidet, in ihrer Bedeckung oder Umhüllung mit Mist, fimus, besteht,
keinen Zweifel. Alles weitere, was man für die Herleitung beigebracht
hat, bleibt unsicher, und wenn z. B. Rautenberg für eine allgemeinere
Bedeutung wie 'Anhäufung einer weichen, schmierbaren Masse' (nach einer
im Sanskrit, Griechischen und Lateinischen wiederkehrenden Wurzel
dih usw.), sich auch auf die im Altnordischen gelegentlich bezeugte Be-
deutung 'Haufen' beruft (vgl. Gudmundsson, Privatboligen pä Island i
Sagatiden S. 245), so könnte man auf der anderen Seite aus der englischen
Wurzel dig (graben) mit Bezug auf die im Althochdeutschen für tunc ge-
gebenen Bedeutungen 'Höhle eines Hermelins, Höllenhund' die Bedeutung
einer 'Grube' ableiten. Der Dung hat eben ein doppeltes Gesicht und kann
demgemäss Ableitungen nach beiden Seiten entwickeln. Als älteste
erreichbare Bedeutung wäre vielleicht anzusetzen Mist (d. h. Unrat in
Vermischung mit Stroh oder Laub) in technischer Verwendung.
Aus jener Zwiespältigkeit scheint hervorzugehen, dass man zwei Be-
standteile der Einrichtung scharf auseinanderhalten muss: die Grube und
den Misthaufen. Die Annahme von Heyne (Deutsches Wohnungswesen S. 47),
dass der Dung 'ein halb unterirdischer Rundbau gewesen', und das
Holzwerk, mit dem die Grube verkleidet war, sich, wenn auch nicht eben
beträchtlich, noch über die Oberfläche erhoben habe, möchte ich für die
1) Daraus, dass dies Wort auch aus Burgund bezeugt ist, möchte ich doch nicht
ohne weiteres schliessen, dass es den Burgundern angehört hätte; gerade in Burgund sind
schon von den Römern zahlreiche ■westgermanische laeti angesetzt, abgesehen von den
Warasci in der Franche Comte.
46 Rhanim:
ursprüngliche Anlage nicht teilen. Wenn die isländische dyngja der Saga-
zeit nach Gudmundsson ein wirkliches Gebäude war, das sich von den
anderen nur durch ein gewisses Eingraben in die Erde unterschied, so
beweist das nichts für die älteste Zeit: eine Vertiefung im Erdboden
kommt auch noch weit später für das Hauptgebäude, die stofa. vor, und
es liegt nur in der Richtung der natürlichen Entwicklung, dass derartige
Erdbauten sich im Verlauf der Zeit herausarbeiten, zumal wenn gewisse
von Tacitus angedeutete Nebenzwecke, wie zum Versteck in Notfällen,
wegfallen.
Die Angaben von Tacitus1) und von Plinius (Hist. natur. 19, 1: in
Germania autem defossi atque sub terra id opus [texendi] agunt) stehen,
ohne sich gerade zu widersprechen, nicht in vollem Einklang, ja man
könnte im Hinblick auf die unten zu erörternden Fälle aus Bulgarien
zweifelhaft sein, ob nicht bei jenen Angaben verschiedene Gruben gemeint
wären, wenn nicht der mistbedeckte Dung durch die spätere Überlieferung
als Wirkraum gesichert wäre. Tacitus wiederum gibt mit dem doppelten
Amt, das er der Dunggrube zuschreibt, Anlass zu anderen Bedenken,
denen man, wie noch Heyne, dadurch zu begegnen sucht, dass man eine
Querteilung der Grube annimmt, wobei die untere Abteilung zur Ver-
wahrung dient. Indes, einmal ist die Berufung auf die sogenannten Mar-
delle, trichterförmige Gruben, die Andeutungen einer ähnlichen Abscheidung
erkennen lassen, neuerdings als unzulässig erkannt, und man kann Stephani
nicht Unrecht geben, wenn er meint, dass Tacitus hier Verschiedenartiges
vermengt hat, da eine derartige Unterkellerung des eigentlichen Dung
höchst umständlich herzustellen und weit zweckmässiger durch eine zweite
Grube zu ersetzen sei. Dafür begegnen sich beide, Heyne und Stephani,
in der Annahme, dass der Dung im Winter dem gesamten Hausvolk als
Zuflucht und Wohnung gedient hätte. Das halte ich für vollständig
ausgeschlossen, dazu war der Dung seinem ganzen Wesen nach schon
viel zu enge; der Zweck der Anlage war nicht Erwärmung schlechthin —
das besorgte auch das Herdfeuer im Wohnhause — , sondern die Be-
schaffung eines warmen und dabei rauchfreien Raumes für die Wirk-
arbeit der Weiber. Die allgemeinere Äusseruug des Tacitus muss durch
die genauere des Plinius und das, was wir von der altnordischen dyngja
wissen, eingebessert werden; auch letztere war zunächst ein Frauen-
gemach, und auch aus den slawischen Zeugnissen geht hervor, dass der
Zutritt dem männlichen Geschlecht, wo nicht ganz verboten, doch nur
bedingt gestattet war. Ehe ich aber auf letztere eingehe, will ich die
Ermittelungen wiedergeben, die sich auf die Rückstände des 'Dung' bei
1) Germania, c. 16: solent et subterraneos specus aperire eosque multo insuper fimo
onerant suffugium biemis et receptaculum frugibus, quia rigorem frigoris ejusmodi locis
molliunt et si quando hostis advenit, aperta populatur, abdita autem et det'ossa . . igno-
rantur.
Die altgermanische Wirkgrube auf slawischem Boden. 47
uns auf dem flachen Lande beziehen, wo er meines Wissens bisher nicht
nachgewiesen ist. Ich habe den Dung an zwei Stellen gefunden, in Tirol
und in Thüringen.
Im Stanzertal dicht vor Landeck besah ich ein Bauernhaus, bei dem
die Wohnung im oberen Stock lag. Das Erdgeschoss war durch einen
querlaufenden Gang in zwei Teile geteilt, den Stall und den Keller; neben
letzterem, an der Längswand des Hauses, befand sich noch ein schmaler
Vorraum, der den Zugang zu dem Keller vermittelte, dnngeme, wie ich zu
hören glaubte. Um sicher zu gehen, habe ich mich nachträglich nach
zwei Ortschaften der gleichen Gegend gewandt, Strengen und Pettnen.
Danach wird das Wort in beiden Orten tuama gesprochen; in Strengen
bedeutet es ein Vorraum bzw. Zugang zu einem Keller (in der Gegend
von Landeck auch einen kleinen hölzernen Zubau zu einem Heustadel
auf der Wiese zur Aufbewahrung der Feldgeräte), in Pettnen einen Durch-
gang oder Vorraum im Erdgeschoss. „Dieser Begriff hat sich erweitert
auf Räume im Erdgeschoss, die dunkel (wenig licht) sind und keinem
bestimmten Zwecke dienen, wo abgebrauchte Hausgeräte beiseite gestellt
werden." Trotzdem diese Gegenden stark romanisch getärbt sind, möchte
ich auch mit Rücksicht auf die hervorgehobene Dunkelheit dieser Räume,
die Möglichkeit einer Ableitung von düng nicht fallen lassen: zwischen
dem u und a im tuama kann ein schwacher Nasal verschollen sein; die
Verhärtung der anlautenden media ist nichts Besonderes.
In Thüringen habe ich vor 20 Jahren auf einer WTanderun«; von Erfurt
nach Gotha mehrfach Spuren des düng gefunden. Hier meine Notizen.
Egstedt: düng ist eine Art Kellerraum, ein dunkler Behälter im Hause,
ein Butze für Gerumpel (im Verschwinden). Rockhausen: düng ge-
wöhnlich ein lochartiges Gelass, oft unter der Treppe, für allerlei Fässer
und Gerumpel. Asbach: ein älterer Mann kennt das Wort nicht, wohl die
Frau: eine Art Kellergelass, aber ohne Fenster, dunkel (dies wird stets
betont) mit einer Tür für alte Butten, Wannen. Nach einem jungen
Manne ist der düng in der Gegend von Orla unter dem Pferdestall, nicht
tief, zwei Stufen hinab. Im Wirtshause höre ich noch, dass der düng
hier herum meist in einer Kammer angebracht ist, ein Loch mit Fallbrett
für Kartoffeln. Man sieht, dass der düng im Thüringischen bis auf unsere
Zeit noch ziemlich lebendig ist: ein dunkles Loch ohne Licht im oder
unter dem Hause — auch der Pferdestall befindet sich ja im Wohnhause —
zu untergeordneten Verwahrungszwecken; merkwürdig ist seine Ver-
bindung mit dem Pferdestall, wo er unter dem Mist zu liegen kommt.
Niemals aber erscheint der Dung als eigentlicher Keller.
Um zu meinem eigentlichen Vorwurf zu kommen, finden sicli Spuren
der Wirkgrube unter den Slawen nur auf der Balkanhalbinsel, hier aber
bei beiden daselbst angesessenen Stämmen, bei den Südslawen und bei
den Bulgaren. Wrir beginnen mit den ersteren. Im Rahmen des von
48 Rhanim:
<ler serbischen Akademie herausgegebenen Sammelwerkes Srpski Etno-
grafski Zbornik ist in den letzten Jahren eine besondere Abteilung unter
dem Titel Naselja srpskih zemalja (Siedelungen der serbischen Lande)
erschienen, worin unter der wissenschaftlichen Leitung und Bearbeitung
von Cvijic eine Reihe von sehr eingehenden Einzeluntersuchungen zu-
sammengestellt und durch Pläne und Figurentafeln erläutert ist. Unter
diesen befindet sich eine tief aus dem Innern der Halbinsel, die die
Gebäude am Südabhang des Kara Dagh gegen Üsküp (Skoplje) und
Kumanovo zu, dicht an den Grenzen des serbischen Volkstums nach
Süden, behandelt, also schon auf der macedonischen Seite (Skopska
Crnagora von Svetozar Tomic in Naselja III, S. 407 ff.).
Unter der Mehrzahl von kleinen Nebengebäuden wird eine kucarica,
auch djevojacka kucarica, Mägde-kuearica, aufgeführt (S. 444, 445, dazu
die Figur auf dem dazu gehörigen Atlas, Tafel XXIX). „Dies ist," heisst
es, „eine Art Grube. Sie wird von den Jungfrauen ohne männliche Hilfe
im Mist auf dem Düngerhaufen nach dem Mitrov dan (26. Oktober, wo die
Feldarbeit beendigt ist) hergerichtet und einige Tage nach dem Djurjev
dan (23. April) niedergelegt. Im Mist wird eine kreisförmige Grube aus-
gehoben, aber nicht bis auf das Erdreich hinab, so dass unten eine dicke
Lage Mist bleibt. Die Grube ist etwa 1 bis 1,5 m tief und so weit, dass
höchstens vier Mägde darin Platz haben, gewöhnlich nur zwei bis drei.
Durch den Mist wird eine kleine Tür gelassen, dann am Ende der Grube
einige Pfähle von etwa 1j2 wi Höhe eingeschlagen und um diese Mist
gehäuft: das sind die Wände. Über den Wänden kreuzen sich einige
Schleissen, darauf kommt Roggenstroh, dann wieder Mist, das ist das
Dach. Wegen schöneren Aussehens und damit der Mist nicht zutage tritt,
werden einige Garben oben in ein Büschel gebunden, nach unten gespreizt
auf das Dach gesetzt und oben darauf eine Hühnerfeder. So hat das Dach
ein becherförmiges Aussehen. Das Licht fällt durch die Tür ein. Feuer
wird nicht angemacht. In dieser kucarica bringen die jungen Mädchen
vom achten Lebensjahre bis zur Heirat den ganzen Winter zu; denn im
Winter arbeiten sie nichts im Hause. Des Morgens frühstücken sie und
gehen dann in die kucarica bis zum Abend. Die Alteren unterweisen die
Jüngeren in der Arbeit. Sie sticken und nähen alles, was im Hause nötig
ist; am zeitraubendsten ist das Sticken der Hemden, was bei dem Staats-
hemde mindestens sechs Monat dauert; wenn eine das fertig bringt, gilt
sie für sehr tüchtig und heiratet noch dasselbe Jahr. Verheiratete Frauen
dürfen nicht in die kucarica hineinspähen (sie sticken nicht mehr, das
wird vor der Verheiratung abgemacht)".
Hier haben wir also die Wirkgrube in einer Gestalt, wie sie noch
über die Andeutungen des Tacitus hinausgeht, insofern sie nicht nur mit
Dung bedeckt, sondern ganz in den Dung hineingebaut ist, wTas natürlich
voraussetzt, dass der Mist in einer tiefen Grube aufbewahrt wird.
Die altgermauische Wirkgrube auf slawischem Boden. 49
Ganz anders liegen die Verhältnisse in dem nordwestlichen Bulgarien,
etwa zwischen der Osma und der serbischen Grenze, wohin uns die Be-
richte von Marinoff führen (Ziva Starina I S. 24, 25 und Zbornik za na-
rodni umotvorenija, Bd. 18, II Materiali S. Off.)1). Hier in diesen flachen,
baumlosen, im Winter ohne Schutz den scharfen Ostwinden preisgegebenen
Geländen sind sämmtliche Gebäude in den Erdboden versenkt, vier an
der Zahl. Wir beginnen mit dem Hauptgebäude, einmal des Vergleichs
wegen, und weil Marinoff bei Beschreibung der später folgenden zwei
Gebäude, die uns näher angehen, auf jenes Bezug nimmt. Die kasta
(genauer kasta üzem, Haus in der Erde, gegenüber der kasta näzem, dem
Hause auf der Erde im Gebirge), oder iza, besteht aus einer 2— 21/„ m
tiefen Grube, über der ein Dach errichtet ist, dessen Firstbaum in den
Giebeln auf je einem Giebelpfosten (socha) ruht-, in den vier Ecken stehen
vier einfache Pfosten für die Rahmschwellen, auf welche die Sparren
hinablaufen, die Bekleidung des Daches besteht aus Stroh, worauf noch
eine Erdschicht kommt. Das Dach ruht also nicht unmittelbar auf der
Erde. Leider lässt sich der Verfasser nicht darüber aus, ob die Wände
aus der Erde noch heraufsteigen, was bei der Tiefe der Eingrabung und
dem Fehlen einer Decke ja nicht erforderlich ist, doch scheint dies aus
der Einrichtung des Vorderhauses (grivica) hervorzugehen. Der an einer
Ecke der Langwand befindliche Zugang wird nämlich durch einen etwa
mannshohen, umbauten und gedeckten Gang, eben die grivica, geschützt,
von dem bemerkt wird, dass sein Firstholz auf der Rahmschwelle der kasta
aufliegt. Der innere Raum der kasta würde dabei eine Wandhöhe von
wenigstens 4 m erhalten, was indessen für bäuerliche Verhältnisse unglaublich
ist, auch wenn man den ganzen Zweck der Anlage weniger in der Erwärmung,
als in dem Holzmangel sucht. Eine zweite Grube, ähnlich gebaut wie die
Wohngrube, ist die pivnica, der Keller für Getränk, Wein und Raki. Die
dritte Grube ist der zimnik, zyvnik (S. 26), das 'Winterhaus' (zima
'Winter'), es dient als Stall, im Winter schlafen hier die Burschen der
Hausgenossenschaft, im Herbst, wenn die Feldarbeiten beendet sind, ver-
sammeln sich hier die Mädchen, um zu arbeiten, zu spinnen, flechten
oder nähen, in diesem oder jenem Hause, abends bis gegen Mitter-
nacht. Doch haben nur Verwandte oder Nachbarn Zutritt, da der Raum
ohnehin nicht mehr als fünf bis sechs Personen fasst. Hier findet auch
die sedenka statt, eine Art Spinnstube, zu der aber nur die Geladenen
kommen. Auch ist der Zutritt der Burschen wegen des engen Zusammen-
seins nicht so frei, besonders heutzutage, wo nicht, wie ehedem, auch
ältere Weiber sich beteiligten; die Burschen müssen in der Nähe warten,
1) In der früher als selbständiges Werk erschienenen Ziva Stanna verweist Verfasser
für die Schilderung der Baulichkeiten auf den noch nicht vorliegenden 5. Teil des Bandes,
dafür tritt der Aufsatz in dem Zbornik ein.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1911. Heft 1. 1
50 Rhamm :
bis die Mädchen, „wenn die Luft rein ist", d. i. wenn die Alten zur Ruhe
gegangen sind, ein Zeichen geben. Ausserdem dient der zimnik aber noch
zu anderen Zwecken. Hier weicht die Darstellung, die Marinoff' in der
Ziva Starina gibt, von der in dem Zbornik etwas ab. Nach der ersteren
verwahrt man hier die zimnina, die Wintervorräte der zadruga, Zwiebeln,
Pfeffer, Topfen, Grünzeug usw. In den kleineren Haushaltungen werden auch
Büffel hier untergebracht, die keine grosse Wärme verlangen, aber auch
keinen Frost vertragen. Nach der Darstellung des Sbornik dient der zimnik
auch als Stall, besonders für das Zugvieh, doch auch Kühe, dagegen wird von
Verwahrung der zimnina nichts gesagt. Sodann schlafen hier alle Burschen
der zadruga, doch nur zur Winterzeit, im Sommer schläft man im Freien.
Der zimnik ist ebenso gebaut, wie die kasta, nur fehlt bei dem Eingang
der grivica die socha, damit das Vieh hinein kann und wird durch zwei säbel-
förmige oben zusammengebogene Hölzer ersetzt.
Endlich die vierte Grube, die izba (Zb. S. 26); sie ist 2 m und mehr
tief, 1,5 m breit, 3 m lang, ähnlich gebaut, oben wird sie mit Erde be-
deckt, wie die iza, sie hat nur eine Öffnung, die zugleich als Tür und Fenster
dient und durch die man mittels eines versetzbaren (wohl eingekerbten)
Pfostens hinabsteigt. Hier weben die Weiber und verrichten andere Woll-
arbeit. Die izba ist im Verschwinden, neue werden nicht mehr gebaut,
und die alten sind so verfallen, dass in zehn Jahren vielleicht keine mehr
übrig sein wird1).
Die Beurteilung dieser Verhältnisse und der zwei Baulichkeiten, die
für uns in Frage kommen, des zimnik und der izba, ist dadurch wesent-
lich erschwert, dass auch das eigentliche Wohnhaus, kasta, ebenso tief ein-
gegraben ist, wozu noch kommt, dass Marinoff bei der Behandlung der
bergigen Gelände nur das Haus, kasta näzem, beschreibt, ohne sich dar-
über auszulassen, ob beide Gruben hier in derselben Weise vorkommen
oder ganz fehlen, denn dass sie durch entsprechende besondere Gebäude
vertreten würden, hätte er wohl angeführt. Dass sie eine weitere Ver-
breitung nicht haben, darf man indessen daraus schliessen, dass das bul- >
garische Wörterbuch von Duvernois sie nicht kennt; zimnik fehlt über-
haupt, und izba hat er nur aus einigen mazedonischen Grenzstrichen in
der Bedeutuug eines Kellers.
Wollen wir uns für die Frage des Dung mit diesen zwei Gruben-
bauten auseinandersetzen, wobei wir auch die kucarica als vorbildlich
heranziehen dürfen, so isf kein Zweifel, dass nur die izba mit ihm ver-
glichen werden kann. Die izba dient als Weberaum, gleich dem Dung,
und zwar bei Tageslicht, wie auch die kucarica, wogegen in dem zimnik
umgekehrt nur des Abends bis in die Nacht hinein, also bei künstlicher Be-
leuchtung andere Handarbeiten verrichtet werden. Auch scheinen ursprüng-
1) Weder der zimnik, noch die izba werden erwärmt, auch nicht wie andere Neben-
ränme durch Hineinsetzen eines Kohlenbeckens, mangal (S. 36).
Die altgermanische Wirkgrube auf slawischem Boden. .~>1
lieh die Mädchen in der izba geschlafen zu haben; wenn auf S. 21 bemerkt
wird, dass die Mädchen im zimnik oder der izba schlafen, so ist der zimnik
wohl an Stelle der im Verschwinden begriffenen izba getreten. Die izba kennt
keine andere Benutzung und verschwindet vielleicht aus diesem Grunde mit
der Abnahme der Hausweberei1), wogegen der zimnik noch zu einer ganzen
Anzahl anderer Ämter sich hergeben muss, als Schlafstätte, Speicher, Stall.
Bei der offen liegenden Übereinstimmung der izba mit dem düng möchte
ich mich auch daran nicht stossen, dass die eine Hauptsache, die Be-
kleidung mit Mist, fehlt, zumal es möglich bleibt, dass diese schon früher
abhanden gekommen ist, als die izba selbst, die ja nach dem Verfasser in
verfallenem Zustande sind und wohl gar nicht mehr gebraucht werden.
Anders steht es mit dem Namen izba selbst, der unmöglich von Anfang
an der technische Ausdruck für die Wirkgrube gewesen sein kann, da izba
(altslowenisch istiiba, entlehnt aus dem germanischen stofa, unsere Stube)
-der Name für die altslawische Wohnung selbst war und nur durch Zufällig-
keiten sich auf diese Einrichtung niedergeschlagen haben kann. Einerlei,
wo wir die Heimat dieser Grube zu suchen haben, izba kann ihr ursprüng-
licher Name nicht gewesen sein. Dies führt uns auf die Frage, ob die
Wirkgrube, wo sie sich heute bei den Balkanslawen findet, kucarica, wie
izba, auch slawischer Herkunft ist. Ich möchte dies stark in Zweifel
ziehen. In der alten Heimat der Slawen, in Osteuropa, ist, soweit meine
Kenntnis der Literatur reicht, nicht die geringste Spur einer ähnlichen An-
lage zu entdecken, weder bei den Russen, noch auch bei den benachbarten
finnisch-ugrischen Stämmen, die doch schon in älterer Zeit russische
Einrichtungen entlehnt und mehrfach in einer noch unentwickelteren Gestalt
bewahrt haben, trotzdem sogar bei verschiedenen dieser Stämme, wie den
Wogulen, Permiern, Überlieferungen von Wohngruben vorliegen. Ebenso-
wenig findet sich auf slawischer Seite aus älterer oder jüngerer Zeit irgendein
Wort, das man für eine derartige Einrichtung in Anspruch nehmen könnte,
und das sich, wenn auch in verschobener Bedeutung, hier und da erhalten
hätte; auch die Benennung kucarica kann dafür nicht herangezogen
werden; denn das südslawische Grundwort kucara, kucar (kucarica
ist ein Deminutiv) bezeichnet keine Grube, sondern eine Hütte zu
verschiedenen Zwecken2). Man darf unter diesen Umständen der Ver-
mutung Raum geben, dass die Slawen die Wirkgrube erst bei ihrer Nieder-
lassung auf der Balkanhalbinsel kennen gelernt und hier so, dort anders
benannt haben8).
1) Während .ALarinoff auf S. 2<J die izba behandelt, redet er auf S. 21 von dem zimnik
oder izba, was sich wohl dadurch erklärt, dass mit dem Auflassen der eigentlichen izba
dieser Name auch auf den zimnik angewandt wurde.
2) Vgl. dazu M. Murko, Zur Geschichte des volkstümlichen Hauses bei den Süd-
slawen, Mitt. d. Anthr. Ges. Wien 3G, 31 f.
3) Da die Slawen nach meiner Annahme ihre alte, mit einem Rauchofen ausgestatt-t^
Wohnung unter den veränderten Verhältnissen, wie sie sie auf dem Balkan vorfanden, auf
4*
50 Rhamm: Die altgermanische Wirkgrube auf slawischem Boden.
Main wird dabei zunächst an die vorgefundenen Provinzialen denken,
deren Nachkommen unter der slawischen Benennung 'Wlachen' bis zum
Ende des Mittelalters noch häufig erwähnt werden und bis auf den heutigen
Tag in den Namen von örtlichkeiten und einzelnen heute slawisch redenden
Volksteilen ihre Spuren hinterlassen haben. Und gerade in der Heimat
der kucarica machen sich diese Spuren bemerklich. Der Verfasser der
Nachricht über die kucarica spricht die Vermutung aus (S. 434), dass sich
die Wlachen, wie anderwärts, bei dem Eindringen der Serben in die Ge-
birge o-ezoo-en hätten, worauf noch Namen deuten, wie das mehrfach vor-
kommende vlachov katun (wlachische Sennerei), ein vlachov grob, dazu
gewisse Überlieferungen1). Da es indessen nicht sehr wahrscheinlich ge-
nannt werden kann, dass eine Einrichtung, die von den Römern als
eigens o-ermanisch bezeichnet wurde, auch auf einem so alten Kulturboden,
wie die Balkanhalbinsel es im Verhältnis war, heimisch gewesen sein
sollte, und da sie offenbar weder in Mazedonien, noch bei den Albanesen
vorkommt, auch gerade im Nordwesten Bulgariens von wlachischen
Spuren sonst nichts verlautet, so liegt der Gedanke an eine germanische
Entlehnung nicht zu ferne, am wenigsten für die bulgarische izba, sofern
dies ziemlich dieselben Striche des alten Mösiens sind, in denen ein Zweig
der Westgoten, die sogenannten Mösogoten, zurückblieb, und da man eine
Nachricht hat, dass noch im 9. Jahrhundert in der Gegend von Nikopolis
gotisch gepredigt wurde, müssen diese Reste, nachdem sie die schweren
Völkerstürme, auch den letzten der Bulgaren, überdauert, erst allmählich
slawisiert sein. Für die kucarica ist freilich mit dieser Annahme nichts
gewonnen, denn der Gedanke, dass ein Rest der Ostgoten, die eine Zeit-
lang das benachbarte Illyrien in Besitz hatten, sich hierher gezogen, hat
wenig Wahrscheinlichkeit*).
Graz.
gaben zugunsten eines Herdhauses, eben der bulgarischen kasta, so wurde der Ausdruck
izba zu anderer Verwenduug frei, und für die Übertragung auf einen Grubenbau liisst sich
eine gewisse Anknüpfung in der Einrichtung der nordrussischen izba finden. Vgl. darüber
den 3. Band meiner „Ethnogr. Beiträge" usw. unter dem Titel 'Germ. Altertümer aus der
slawisch-finnischen Urheimat' S. 191 — 195. Ich bemerke bei dieser Gelegenheit, dass die
von 0. Schrader oben 20, 332ff. und 450 erhobenen Einwände trotz ihres zuversichtlichen
Tones mich keineswegs überzeugt haben, dass ich vielmehr seinerzeit in einem besonderen
Aufsatze die Fragen auch nach der lautgesetzlichen Seite behandeln werde.
1) Das Wort katun selbst stammt aus den alten Sprachen der Halbinsel und gehört
auch dem Albanesischen an; in dem benachbarten Montenegro gibt es eine danach be-
nannte katunska nahia (n. = Kreis).
*) Zu diesen Ausführungen vgl. die Abbildung am Schlüsse dieses Heftes.
Storck: Kleine Mitteilungen. 53
Kleine Mitteilungen.
Der Spruch der Toten an die Lebenden.
Der Spruch der Toten an die Lebenden 'Was wir sind, das werdet ihr, was
ihr seid, das waren wir' entspringt dem allgemeinen Gedanken, dass uns alle
einmal der Tod hinwegrafft. Er verdankt seine Entstehung in erster Linie der
Sepulkralpoesie, und wurde früh auf Grabsteinen angebracht als Mahnung des
einzelnen Toten an den vorübergehenden Wanderer:
Quisquis ades, qui morte cades, sta perlege, plora!
Sum quod eris, quod es ante fui, pro me precor ora.
In ersten Keimen ist er schon in verschiedenen antiken Sprüchen vorhanden,
und die frühmittelalterliche Zeit knüpft zum mindestens formal an antike Typen an1).
Er erscheint mit mannigfachen Variationen in allen Kulturländern Europas,
Frankreich, Deutschland, England, Italien, Schweden, Spanien, Russland. Auch
in der arabischen Poesie begegnen wir dem Spruch in ähnlicher Form wie bei
den mittelalterlichen Legenden. R. Köhler trug zuerst einiges Material zusammen
(1860), das in seinen Gesammelten Schriften 2 (1900) von Joh. Bolte beträchtlich
vermehrt wurde. Ich stelle im folgenden das mir bekannt gewordene Material
zusammen, das ich nicht wie Köhler nach lokalen Gesichtspunkten, sondern mehr
nach sachlichen anordne. Denn der Spruch behielt seine Bedeutung bis in unsere
Zeit nicht nur als Sepulkralspruch, sondern kehrt an den verschiedensten Orten
der Volks- und Kunstpoesie wieder, findet eine Stätte an den Eingängen von Kirch-
höfen und Beinhäusern, zeigt sich auf Kunstwerken mit Darstellungen von Alle-
gorien der Vergänglichkeit und ähnlichem. Im 19. Jahrhundert trifft man ihn
besonders in Süddeutschland auf Leichenbrettern. Schliesslich bildet er den Kern
und wohl auch Ausgangspunkt der Legende von den drei Lebenden und den drei
Toten2), die neuerdings verdiente, nicht aber erschöpfende Beachtung gefunden
hat und mit Unrecht als Ausgangspunkt der Totentänze betrachtet worden ist.
Das Material, das den Spruch in der Dichtung, Kunst, auf Grabsteinen, Kirch-
höfen usw. verfolgt, mag für seine Verbreitung, Differenzierung und Fortleben aus
sich selbst sprechen.
1) Lier hat neuerdings das antike Material zusammengestellt und die Umwandlung
zu unserem Spruch angedeutet (Philologus 62, 591). Auch Sauer hat (Freiburger Diöcesan-
archiv 1909) nachdrücklich auf Zusammenhänge mit spätantiker Dichtung hingewiesen.
Besonders bedeutsam ist der unten mitgeteilte Spruch aus Mainz (Nr. 63).
2) Die Behauptung, der Totentanz habe sich aus der Legende entwickelt, wie sie
neuerdings von Künstle wieder zu begründen versucht wurde, hält einer kritischen Prüfung
in keiner Weise stand, obwohl sie in einer übereilten Kritik verfrüht akzeptiert wurde.
Mein demnächst erscheinendes Buch über 'die Legende von den drei Lebenden und den
drei Toten und das Problem des Totentanzes' wird, wie ich hoffe, die ausführliche Wider-
legung bringen, die ich in der Literarischen Rundschau 1910, 344—348 nur kurz an-
gedeutet habe.
54
Storck:
Allgemeine Literatur.
Athenaeum, 1872, 1, 777; 1878, 2, 110. — Draheim, Deutsche Reime (Berlin 1883).
— Dreselly, Grabschriften, Sprüche auf Marterln usw. (Salzburg 1898). — W. Grimm,
Abhandlungen der Berliner Akademie 1849, 384 (= Kl. Schriften 4, 63). — Hallbauer,
Sammlung Teutscher Inscriptionen (Jena 172.")). - Halm, Totenbretter im bayrischen
Walde (Beitr. zur Anthropologie und Urgeschichte Bayerns 12, 86. 1897). — Hein,
Mitt. der anthropologischen Gesellschaft in Wien 21, 94. 24, 59. — L. v. Hör mann,
Grabschriften und Marterln 1-3 (Leipzig 1896-1908). — R. Köhler, Germania 5, 226
(= Kl. Schriften, hs. von J. Bolte 2, 27 ff.). — F. X. Kraus, Die frühchristlichen In-
schriften der Rheinlande 1—2 (Freiburg 1894—98). — Künstle, Die Legende der drei
Lebenden und der drei Toten und der Totentanz (Freiburg i. B. 1908). — Li er, Topica
carminum sepulcralium latinorum (Philologus 62, 591. 1903). — Lovatelli, Thanatos (Rom
188S). — Massmann, Serapeum 8, 137 f. (1847). — Otte, Kirchliche Kunstarchäologie
5. Aufl. (1883). — Petak, Grabschriften aus Österreich (Zs. f. österr. Volksk. 10, 2. Suppl.
1904). — Pettigrew, Chronicles of tombs (London 1864). — Pistorius, Thesaurus
paroemiarum germanico juridicarum (Leipzig 1724). — Richea, Theatrum funebre
(Argentor. 1673) 1—3. — Stephens, Academy, 1884, 23. aug. p. 122; 22. nov. p. 341. —
Fr. Swertius, Epitaphia joco-seria latina, gallica (Colon. 1613 u. 1645); Monumenta
sepulchralia et inscriptiones . . . Ducatus Brabantis (Antwerpen 1613); Selectae Christi-
ani orbis Deliciae ex urbibus, templis, bibliothecis (Colonia 1(149). — Vigo, Le danze
macabre (2. Aufl. Livorno 1902). — Wackernagel, Zs. f. d. Alt. 9, 333 (= Kl. Schriften
1, 338). — Zincgref, Teutscher Nation klug ausgesprochene Weisheit (1—2, 1683/5
Frankfurt/Leipzig): 3—4, 1683 von Weidner besorgt. Teutscher Nation Apophthegmata.
Quid sis, quid fueras quidque manere
queas.
(Mon. Germ. Scr. rer. Merov. 4, 461.)
5. Chastoiment d'un pere ä son fils
(12. Jh.).
Itel com tu es, itel fui
Et tel seras come je sui.
(Lovatelli, Thanatos p. 63.) Vgl. Nr. 14.
6. Freidank 22, 12 (13. Jh.).
Swer driu dinc bedaehte
der vermite gotes aehte:
Waz er was und waz er ist
Und waz er wirt in kurzer vrist.
Sus sprechent die da sint begraben
Beide zen alten und zen knaben:
Daz ir da sit daz wären wir;
Daz wir nü sin, daz werdet ir.
(W. Grimm, Anz. 1834, 22.)
7. Hugo von Trimberg, Renner v. .'!7<i7.
Nieman so sere sich trösten sol
Libes guotes friunde oder kunst
Oder siner genaedegen herren gunst,
Er gedenke mit flize doch dabi,
Was er muoz werden oder waz er si.
I. Der Spruch in der Literatur.
1. Modhadh Ben Amru (3. Jh.).
0 Menschen ziehet ein, denn eines Morgens
Da ziehet ihr in den Palast nicht ein!
Treibt eure Pferde an, lasst frei den Zügel
Eh' daß euch noch erreichen wird
Freund Hain!
Wir waren einstens Männer, wie ihr seid,
Ihr werdet, was wir waren, auch einst sein.
(Hammer-Purgstall, Literaturgeschichte
der Araber 1, 1, 94. Wien 1850.)
2. Adi ibn. Zaid (6. Jh.).
Wir waren, was ihr seid;
Doch kommen wird die Zeit
Und kommen wird sie euch geschwind,
Wo ihr seyn werdet, was wir sind.
(Hammer-Purgstall 1. 1, 183; Monatsber.
d. Berl. Akad. d. Wiss. 1858, 012.)
3. Alcuin (9. Jh.).
Quod nunc es fueram, famosus in orbe
viator,
et quod nunc ego sum tuque futurus eris.
(Mon. Germ. Scr. 1,350 Alcuini c. 123,5.)
1. Vita Haimhrammi (11. Jh.).
Quisque legas hominum, mentem
traetanda revolvo
8. Als Mittelpunkt uud eigentlicher Kern
erscheint der Spruch, wie angedeutet, in ver-
Kleine Mitteilungen.
55
schiedenen Fassungen der Legende, die in
meinem Buche eingehend behandelt werden.
So in dem frühesten französischen Dit des
Baudouin de Conde (13. Jh.):
Segnours regardes nous a vis
et puis as cors nous qui a sommes.
Aviens l'avoir, voiies quel sommes;
Tel serez vous et tel comme ore
Estes, fumes
9. Bei Nichole de Marginal (13. Jh.).
Tel serons nous c'est chose fine;
II n'est riens vivans ki ne fine . .
10. Anonymer Dit (13. Jh.).
Tels come vous, ung temps nous fumes
Tels vous serez comme nous sommes.
(Montaiglon, L'alphabet de la mort de
Hans Holbein 1856.)
11. Italienisches Gedicht (14. Jh.).
uno fuimo come vuy syte
ora simo vile, cussi vui tornarite.
(Giornale di filol. romanza 1, 245.)
12. Van den doden Koningen und van
den leuenden Koningen (14. Jh.).
Dat wir syn, dat moist ir werden,
want ir moist zo der erden.
(Gräter, Bragur 1, 375. 1791.)
13. Van dren Koningen (14. Jh.).
Wat gy sint, dat were wy,
Wat wy sint, dat werde gy.
(Staphorst, Hamburg.
Kirchengeschichte I, 4, S. 2G4. 1731.)
14. Petrus Alfonsi, Disciplina clericalis
47, 3. (12 Jh.)
Sum quod eris; quod es fui ipse
Mortis, dum licuit pace invante frui.
(Chauvin, Bibliographie arabe 9, 37.)
15. Von des Lebens Nichtigkeit
(14. bis 15. Jh.).
Als uns nu ist, als was och jn.
derisor amarae, als jn nun ist, als werden wir.
(Lassberg, Liedersaal 3, 573.) *
16. Mariengrüsse v. 512.
Vrewe dich unde vrewe mir armen
die sele und lä dich erbarme
Wir sin stoup und erde üz erden
Daz si sint, daz sol wir werden.
(Zs. f. d. Altertum 8, 290.)
17. Dis ist der werlte Ion
(15. Jh.).
Wir sint dot, so lebent ir,
Der ir sint, der worent wir.
(Künstle, Die Legende usw., S. 38.)
18. Dritter Prediger (München Cod. germ.
2927. 1446).
0 mensch sich an mich
Waz du pist das waz ich
Ouch sich, wy recht jämmerlich
Dy wuerm peissent umb mein fleisch.
(Zs. f. Bücherfreunde 2, 452. 1899.)
19. Französisches Gedicht (15. Jh. in
Valenciennes).
Ne vous espantes point de nous, '
Tel que nous sommes seres vous
Tel que vous estes fumes nous
Tu qui es d'humaine nature,
En tems que ta nature dure.
Advise toy, le temps se va
II n'est arbre, tant ayt verdure
Que enfin ne viengne ä pouriture
Et jamais ne raverdirat.
(Catal. general des mss. des bibl. publ.
de France 25, 205.)
20. Zitglögglin (Basel 1512, Bl. 193h).
Als ich icz bin, also waren sie;
Als sie icz sind, also wird ich auch.
(Zs. f. vgl. Sprachforschung 15, 284.)
21. Danse macabre (Troyes, Paris 1528).
Comme nous sommes,
telz serez vous.
22. Heures de Thielman K erver
(Paris 1525).
Nous auons bien este en chance
Autrefoys comme estes a present
Mais vous viendrez a nostre dance
Comme nous sommes maintenant.
Nous sommes en gloire et honneur
Remplis de tous biens et cheuance
Au monde mettant notre cueur
En y prenaut nostre plaisance.
56
Storck:
23. Antonio Alamanni (II earro della
morte 155V)).
Morti siam, corae vedete,
Cosi morti vedrem voi!
Fummo gia come voi siete.
Voi sarete come noi;
E di la non giova poi,
Dopo il mal, far peuitenza.
(Tutti i trionfi, carri o canti carnas-
cialeschi etc. Parte I, 146.)
24. N. Mercator, Spü van dem Dode
unde van dem Leuende (um 1500).
Minsche, sü an mick,
Dat du bist, dat was ick.
(Seelmann, Mnd. Fastnachtsspiele
1S85 S. 31.)
25. Jakob Bälde, Choreae mortuales
(1643).
Nos quicunque vides plaudere Manibus,
Cantabis similis tu quoque naenias.
Quod nunc es, fuimus, Quod sumus, hoc
eris:
Praemissos sequere et vale!
(Bälde, Lyrica 2, 33 [ed. Müller 1844.]
Serapeum S, 138.)
26. F. Petri, Der Teutschen Weisheit
(1605).
All die ihr hier vorübergeht,
Denkt wie die Sach jetzt um uns steht!
Was wir sind werdet ihr noch werden,
Was ihr seid waren wir auf Erden.
(Hoffmann v. Fallersieben, Spenden zur
Literaturgeschichte 1, 10).
27. Georg Greflinger, Poetische Rosen
und Dörner, Hülsen und Körner (Hamburg
L655) Epigrainmata Bl. A4a: Todes Ge-
dancken.
Was du bist, war auch ich, und was ich
jetzo bin,
Das würst auch du nach mir.
28. Conrad Goltzius.
Ein Jüngling, vor dem inmitten eines Kirch-
hofes ein Toter sitzt, auf dessen Grabstein
die Worte:
Quod es fui,
Quod sunt eris.
29* München er Cod. germ. 1001, Bl. 267 a
(17. Jh.).
Gedenkh was wir sein und weiden
So wir da faulen in der erden.
(Serapeum 8, 138.)
30. G. W. Sacer, Anredung eines ab-
gelebten Menschen.
Komm Sterblicher, betrachte mich:
Du lebst, ich lebt' auf Erden.
Was du jetzt bist, das war auch ich,
Was ich bin, wirst du werden,
Du musst hernach, ich bin vorhin:
Gedenke nicht in deinem Sinn,
Daß du nicht dürftest sterben!
(Sacer, Geistl. liebl. Lieder Gotha 1714
S. 89 = Fischer- Tümpel, Kirchenlied
des 17. Jh. 4, 506.)
31. Weikard, Biogr. W. F. v. Gleichen
genannt Russworm (1783).
Was ich heut bin, das bist du morgen.
(Köhler 2, 34.)
32. Herder, Terpsichore 1, 376: Der
Schattentauz (nach Bälde).
Der du, Sterblicher, nachts unsere Stimmen
hörst,
Bald wirst du sie mit uns flüstern. Wir
waren auch,
AVas du bist, und du wirst werden, was
wir jetzt sind.
(Herder, Werke ed. Hempel 3, 88)
vgl. oben Nr. 25.
2. Der Spruch bei Kunstwerken.
33. In Italien (14. bis 15. Jh. \
Dove vai per via
Dell' anima mia.
Siccome tu se, ego fui,
Sicut ego sum, tu devi essere.
(Vigo, Le danze inacabre S. 88.)
34. Badenweiler, Fresko (Anfang 15. Jh.).
Was erschrik du ab mir?
Der wir sint, das werdent ir.
Hier tritt der Spruch zu der illustrativen
Darstellung der Legende der drei Lebenden
und der drei Toten. Ähnliche Sprüche be-
gleiten dieselbe z. B. in Überlingen und
Zeitz : die meisten Inschriften sind heute zum
Teil ausgelöscht und schwer lesbar, so in
Frankreich Ferneres -Haut Clocher, Jersey,
(Zs. f. Bücherfrde. 2, 2, 452. 1899.) St. Riquier usw., in England Ampney Crucis,
Kloine Mitteilungen.
57
Beiton usw., in Holland Zant-Bommel, in
Dänemark Skibby und Tudse. Der Cata-
logue raisonne meines Buches wird alle
Inschriften, soweit deutbar, enthalten.
35. Speculum humanae salvationis
(München Cgm. 3974, Bl. 59b) und
36. Mittelrhein. Holzschnitt
(15. Jh. Berlin).
Sie weren wer sie weren:
Wir magen uns ir wol weren.
Sint sie menschen gewesen glich
Sich das wondirt auch:
Goit durch din wonder manigfalt
Wie sint die dric also gestalt.
Ez sal uch nit wonder han
Das wir drie sint also gethan
Das ir siet das waren wir
Das wir sint das werdent ir
Sin wir iß hude ir siet is morn
Ich me}'nen uch alle drie da vorn.
(Serapeum S, 137: Wessely, Gestalten
des Todes und Teufels 187G S. 20;
Schreiber, Manuel de l'amateur de la
gravure sur bois 6, 270 Nr. 1899.)
37. Holzschnitt aus der Abtei s. Truyden
in Lüttich.
Drei Gerippe tanzen vor dem vierten,
pfeifenden.
Siste graduni, quod es ipse fui, fortassis
eris cras.
Quod sum, cadaver putridum.
(Serapeum 8, 133.)
38. Kreuzigung und Allegorie der
Vergänglichkeit (Meister von Frankfurt.
16. Jh., Städelsches Institut).
Vos qui transitis
mei memores estis.
Quod sumus, hoc eritis
Fuimus quandoque quod estis.
(Zs. f. christl. Kunst 10, 1. 1897.) Vgl. Nr. GS.
39. Fensterscheibe. Früher im Besitz
der Frau Gräfin Benzel-Sternau auf
Emmerichshofen. (15G8.)
Die Toten sprechen:
Geschow min kleid und angesicht.
Das wirt dir und anders nicht
Die ir said die waren wir
Die wir yetz sind die werdend ir.
(Serapeum 8, 136.)
10. Holzschnitt (16. Jh. Nürnberg,
Germ. Mus.).
Tod mit einem Sarg in der Hand:
Siehe an mich und nit dich,
Dann das du bist das war ich.
Jung, Edel, starck, reich wolgestalt
Mit ehren in lusten mannigfalt
Jetzund bin ich, wie du siehst mich
Thue auff, ich komm und hole dich.
41. Kupferstich von J. v. d. Heiden
(1616).
Der Tod mit den zehn Lebensaltern. Auf
dem Mauergesims rechts: Sum quod eris /
es quod fui.
(Zs. f. Volkskunde 17, 27 2.)
42. Kupferstich eines Schädels (1617).
Sum quod eris.
Was du bist, war vordeß auch ich,
Was ich bin wirstu seyn endlich.
(A. Bretschneider, Pratum emblematicum
1617. Nr. 47.)
3. Der Spruch an Kirchhöfen, Beinhäusern,
Kirchen usw.
43. Rom, Chiesa dei Santi Quattro Coronati.
Cod estis fui et quod sum essere abetis.
(Du Cange, sub 'essere'. Gruter, Inscr.
Rom. 1616 p. 1062.)
44. Clermont-Ferrand (1270).
Tu que la vas tu boca clauza
Guarda est cors qu'aisi repauza
Tal co tu iest e ieu si fui
E tu seras tal co iea Lui.
(Mcm. de l'Acad. de Clermont 16, 123; Revue
des 1. rom. 11, 146. 35, 394; Romania 6, 303.)
45. Pisa, Camposanto (14. Jh.).
Adspice qui transis, miserabilis inspice
qui sis;
Talis namque domo, clauditur omnis homo.
Quisquis ades, qui morte cades, sta, per-
lege, plora.
Sum quod eris, quod es ipse fui, per me
precor ora.
(Vigo, S. 88.)
46. Betzimmer einer andalusischen
E de lfr au.
Lo que eres fui.
Lo que soy, seras.
(Caballero, Clemencia 1, 190. Köhler 2, 3 I |
58
Storck:
5<
IT. Avignon, Kirchhoftür.
Nous etions ce que vous etes
Et vous serez ce que nous sommes.
(Serapeum 8, 138. Germ. 5, 222.)
IS. Udine, Chiesa dei Capuccini.
0 tu che guardi in su
Sic fu come sei tu
Tu sarai come son'io
Pensa a questa e va con Dio.
(Vigo, S. 88.)
49. Eilenhurg, Kirchhof.
Was ir seid, das waren wir
Was wir sind das werdet ihr.
(Blätter für literar. Unterhaltung 1834, 1381.
Bezzenberger zu Freidank 22, 16.)
50. Te plitz, Kirchhof.
Was wir waren das seid ir
Was wir sind das werden wir.
(Serapeum 8, 138.)
51. Naumburg.
Id quod sum, tu eris
Quod tu es, ego fui.
(Mitzschke, Naumburger Inschriften 1877 S.73.)
52. Kiewitten (Ermeland).
Was ihr seid, das waren wir
Was wir sind, das werdet ihr.
(Illustr. Zeitg. 1882, 252 c.)
53. Muflatal, Kapelle.
Links: Nische mit grinsenden Schädeln:
Was du heute bist, war ich gestern.
Rechts:
Was ich heute bin, wirst du morgen sein.
54. Andernach.
0 vos omnes qui transitis |
per viam, attendite et vide- |
te, si est dolor similis |
sicnt dolor meus. [Lament. Jerem. 1,12.]
55. Deterville (Calvados).
Wie Nr. 51.
(Male, L'art religieux de la iin du
moyen äge 1908, S. 380.)
56. Moulins (16. Jh.).
Olim formoso fueram qui corpore, putri
Nunc sum; tu similis corpore, lector, eris.
(Male S. 380.)
Kloster von Neu-Athos (Kaukasus).
Wie Nr. 51 in russischer Sprache. Der
Spruch kommt auch sonst in Russland häufig
vor, wie mir mein Freund Dr. A. von Trubnikov
(Petersburg) versichert.
58. Bern, Manuels Totentanz.
Hie liegend also unsere bein,
Zu uns her tanzen d gross und klein,
Die jhr jetz sind, die waren wir,
Die wir jetz sind, die werden ir.
(Massmann, Die Basler Totentänze.)
59. Lauchstädt, Gottesacker (1601).
Alle die ihr fürüber geht,
Denkt wie die Sach mit uns itz steht:
Was wir itz sind, werd ihr werden
Was ihr itz seid, warn wir auf Erden.
(Draheim S. 81.)
60. Mittelborn, Beinhaus (18. Jh.).
Liebe Brüder und Schwestern,
Wir waren noch gestern,
Stark und gesund wie ihr
0 seht, morgen seyd ihr wie wir.
(Kraus, Kunstdenkmäler von Elsass-
Lothringen 3, 786.)
61. Villingen, Gottesacker (18. Jh.)1).
Hier liegt der Herr und auch der Knecht.
Ihr weltlichen Menschen, betracht uns
recht!
Was wir jez sein gewest auf Erden,
Das werdet mit der Zeit ihr auch gewiss
werden.
(Alemannia 27, 151.)
4. Der Spruch auf Grabsteinen.
62. Rom, Lateran.
Quisquis ades, qui morte cades, sta,
perlege, plora!
Sum quod eris, quod es ante fui; pro me
precor ora.
(Lovatelli S. 10 nach de Rossi 2, 223.)
1) Die Mitteilung dieses Spruches (sowie der Nrn. 99, 103, 107, 112) verdanke ich
nebst weiteren wertvollen Hinweisen der Güte des Herrn Prof. Dr. J. Bolte.
Kleine Mitteilungen.
59
63. Mainz, St. Alban (9. Jh.).
Siste viator iter, per me tu gnoti seauton!
Nam quod es hoc fueram, quod sum
nunc et eris.
Non mihi Liudolfo totus suffecerat orbis,
Nunc specus hoc cineri sui'ficit hicque
sat est.
Hinc ut is eternam requiem mihi det,
rogo dicas,
Omnia qui fecit meque vehi voluit.
Inschrift Liudolfs, des Sohnes Ottos I.
(Kraus 1, 99.)
64. Verona.
Tu qui adstitisti mei monumenti
ambula et te esse horainem fac,
quod nunc ego sum tuque futurus eris.
(Lovatelli S. 10 nach Maffei,
Verona illustrata.)
65. Petrus Damiani (t 1072),
Grabschrift.
Quod nunc es fuimus; es quod sumus
ipse futurus.
His sit nulla fides, quae peritura vides.
(Germ. 5, 224. Eichea 1, 73.)
66. Obizo, Magister u. Arzt,
Grabschrift (12. Jh.).
Respice qui transis et quid sis disce vel
unde
Quod fuimus nunc es, quod sumus
illud eris.
(Neues Archiv 11, 606.)
67. Petrus Comestor (f 1179), Grab-
schrift.
Quod sumus, iste fuit; erimus quandoque
quod hie est.
(Hist. litter. de France 15, 14.)
68. Neuweiler, Stiftskirche (13. Jh.).
Vos qui transitis, nostri memores rogo
sitis
quod sum, hoc eritis, fuimus quandoque
quod estis.
(Kraus 2, 53.)
69. Grabschrift (13. Jh.).
Comes tes teil fumes nos
Comes soumes teil ceres vos.
Por amor deu pries por nos
Si aies merci de vos.
(Lovatelli S. 63.)
70. Volkenroda (Sachsen), Grabstein.
Hie jaceo funus
Victurorum tarnen, unus;
Quod mihi nunc, tibi cras:
Non te salvabit Ino cras.
(Anz. f. Kunde der d. Vorzeit 10, 43<>.)
71. Laurviks Amt (Norwegen).
Plora; sum quod eris:
Fueram quod es;
Pro me precor ora.
(Academy 1884 S. 341.) Auch Saem,
Jarlsbergs (13. Jh.)
72. Abt Silvester (f 1267).
Ego sum, quod hie fuit: quod hie est, ego
ero. (Brev. Rom. 26. XI.)
(Künstle S. 29.)
73. Grabmal einer Frau (13. Jh.).
Ce qu'or est je la fui
Est vous serez ce qu'or je sui
Priey pour nous
Celle qui dit ces vers
est mangiee des vers
et serez vous.
(Lovatelli S. 63.)
74. John Warren, Earl of Surrey
(t 1304), Grabmal.
En vie come vous estis jadis fu,
Et vous tiel serietz come je su.
(Pettigrew S. 24.)
75. Gregorius Arminensis (f 1358)
(Wien, Augustinerkirche.)
Wie Nr. 62; vgl. 135.
(Swertius, Deliciae S. 480.)
76. Epitaph des Black Prince (1376).
Tiel come tu es ie au tiel fu:
Tu seras tiel come ie su.
(Pettigrew S. 41.)
77. Titus Lupatus (f 1399) Epitaph
in Padua.
Id quod es ante fui; quid sim post fata
requiris?
60
Storck:
Quod sum. quicquid id est, tu quoque
lector eris
Ignea pars coelo, caesae pars ossea rupi,
Lectori cessit nomen inane Lupi.
86. Boisrogue (bei Loudun).
Varianten von Nr. 62 (Male S. 381).
Hier steht die Inschrift auf Grabsteinen
mit interessanten Darstellungen der Leich-
(Swertius, Deliciae S. 420. Ricliea 3, 362.) name und Skelette.
78. Hainhem (Gotland) (14. Jh.)
Grabschrift.
Gerin uel af. bipin firi paim
Paun uaru pet sum ir iarin nu,
Ok ir uarpin pet sum paun iaru nu.
(Notes and Qucries 186S, S. 389.)
79. Brass of Wil Chichele,
Grabschrift (1425).
Such as ye be, such wer we;
such as we be, such shal ye be.
(Athenäum 1878, 2, 110.)
80. Hycklinge (Gotland) Grabschrift.
Wie Nr. 62.
(Antiquarisk Tidskrift for Sverige 1, 101).
81. John Burton und Frau (f 1460)
Grabschrift.
Frends fere, what so yee bee.
Prey for us, we your prey,
As you see us in this degree;
So shall you be another dey.
(Athenäum 1878, 2, 210.)
82. Maria Boisot (1472) Brüssel.
Fuere lector, hi quod es
Et mox quod hi sunt, ipse eris.
0 dura sors mortalium!
Haec Parca parcit nemini.
0 coecitas mortalium!
Haec cura tangit paueulos.
Te tangat, o te, si sapis:
Mori ante mortem cogita.
(Swertius, Monuinenta sepulchralia S. 277.)
83. Dijon, Karthause.
Hodie mihi, cras tibi.
Auch an vielen anderen Orten.
(Male S. 382.)
84. Gisors (Grabstein (1526).
85. Glermont d'Oise (1437).
87. Venedig, S. Luca. Grabstein (1594).
Siste viator nee Manes laedito.
Quod fuisti, fui, non es quod sum.
Ut me vides, te alii forte videbunt brevi,
Incerta certi fati hora;
Numen ergo semper time.
(Swertius, Deliciae S. 226.)
88. Brüssel, St. Gudula. Epitaph (16. Jh.).
Fuere, lector, hi quod es
Et mox quod hi sunt ipse eris:
O dura sors mortalium
vielleicht identisch mit Nr. 82.
(Richea 3, 138. Germania 5, 224.)
89. Bremen, Grabschrift.
Wat ik was, dat bistu,
Wat ik bin, dat wastu.
Hodie mihi, cras tibi.
(Lappenberg, Ulenspiegel 1854, S. 337 nach
Kohlmann, Mitteil, über die Bremischen Col-
legiatstifter S. 134; vgl. Anz. d. germ. Mus.
1863, 439.)
90. Rom, Grabschrift1).
Hospes tu quod es ipse fui, fies quoque
quod sum
Nunc ego; cum lethes flumine mersus eris.
(Swertius, Deliciae S. 4S.)
91. Anonyme Grabschrift.
Tu quod es, hospes, eram, quod ego sum,
tu quoque fies.
Quae tibi vis fieri iusta, precare mihi!
(Swertius, Epitaphia joco-seria 1645 S. 130.)
92. Anonym.
Vermibus hie donor, et sie descendere conor
Qualiter hie ponor, ponitur omnis honor.
Quisquis ades, tu morte cades: sta,
respice, plora:
Sum quod eris, quod es ipse fui, pro me
precor ora.
(Swertius, Epitaphia S. 114.)
1) Die Nummern 90—96, die ich den Werken von Swertius entnehme, haben kein
Datum, müssen aber vor 1613 entstanden sein.
Kleine Mitteilungen.
61
93. Julian Vaudraeus Montensis,
Grabschrift.
Jam quod es, ante fui, iam sum cinis,
umbra minusque
Tu quod es, et quod ego, simul omnia
subjice puncto,
Omnia praetereunt, nos ivimus, itis et ibis.
(Swertius, Epitaphia S. 103.)
94. Fano, S. Francesco.
Cerne quid es, quid eris, humilis sie
efficieris
Vile cadauer eris, hoc ergo frequens
mediteris.
(Swertius, Deliciae S. 183.)
95. Anonym.
Vide, quid sim! Fui, quod estis, eritis,
quod sum.
Bullam se esse qui existimat, is demum
sapit,
Et qui servandam locat ossibus domum.
(Swertius, Epitaphia S. 190.)
96. Jodocus Sasboutius. Arnheim
(Geldern).
Siste gradum: quod es ipse fui: fortasse
eris cras
Quod sum, cadaver putridum.
(Richea 3, 159. Swertius, Deliciae S. 732.)
7. Hagenau, Grabschrift (17. Jh.):
Quod es, fui: quod sum, eris: para te.
(Draheim S. 81.)
98. Nordhausen, Blasiuskirche (1626):
0 ihr Menschen ! betracht't eben,
Uns Todten in eurem Leben;
Denn wie ihr seyd, so waren wir,
Und wie wir seyn, so werdet ihr.
(Kindervater, Nordhausa 1715 S. 121;
Draheim S. 105.)
99. Perlberg, Grabstein (17. Jh.).
Was du anjetzo bist, war ich vorhin aulf
Erden,
Was ich anjetzo bin, das wirstu auch
bald werden.
Den Weg, den du ietzt gehst, den bracht
ich offtmahls hin,
Bald wirstu diesen gehn, den ich jetzt
gangen bin.
(J. P. von Memel, Lustige Gesellschaft 1660
Nr. 987.)
'.»
100. Caspar Amort. München, Salvator-
kirche (1675).
Ich liege hier, sieh über dich
Geh Niemand vorbey, er bet' für mich.
Gedenk', o Mensch auff Erden
Was ich jetzt bin, musst du noch werden.
(Zs. f. Volksk. 17, 27 2.)
101. Dorf a. d. Pram (1689).
Ich lig allhier und bin verwesen,
Was ihr jetzt seyd, bin ich gewesen,
Wie ich jetzt bin, so müst ihr werden.
Seyd allzeit gerüst, der Tod ist gewiss.
(Krackowitzer, Inschriften im Lande ob
der Enns 1901 S. 23.)
102. Job. Adam Spier. Aschaffenburg,
Stiftskirche (1677).
Siste gradum quisquis transis monumenta
piorum.
Ac minime pigeat te meminisse mei
Hesterna vivens hodie tibi mortuus adsto
Sic vivens hodie cras moriere: vale.
(Eigene Reisenotiz.)
103. Ottensheim, Grabschrift (1708).
Wer du bist, das war auch ich,
Khnie nieder und bet für mich ... .
(Krackowitzer, Inschriften S. 23.)
104. Schönthal, Grabschrift (18. Jh.).
Du bist, was ich gewesen bin,
Ich bin, was du wirst werden :
So geht ein jeder Mensch dahin
Und wird zu Staub und Erden.
(Allg. Zeitg. 1877. Nr. 253, S. 3804.)
105. Jügesheim (Hessen), Grabmal des
Centgrafen Neel (1747.)
0 Mensch steh still und thu hier lesen
Was du bist, bin ich gewesen.
Und was ich bin, das wirst du werden,
Nichts änderst als Staub und Erden.
(Eigene Aufzeichnung.)
106. München, Frauenkirche. Grabstein
(1797).
Hier ligen Wier/und seyn Verwesen
Wie seyt jetzt Ihr / Sein wir auch gewesen.
Wie wür sein da/muest ihr auch werden.
Verfaulen im Grab / zu Staub und Erden.
iDraheim S. 106.)
62
Storck:
107. Sakrowbei Potsdam (Graf v. Hordt
t 1798).
Komm Sterblicher, betrachte mich!
Du lebst, ich lebte auch auf Erden.
Was du noch bist, das war auch ich,
Und was ich bin, das wirst du werden.
(Zeitung.)
108. England, Grabsteine.
Remember man, that passeth by
As thou is now, so once was I
And as I am, so must thou be:
Prepare thyself to follow me.
(Notes and Queries G. ser. 1, 121.)
109. England.
Such as ye be, such wer we.
(Athenaeum 1872, 1. 777.)
110. England.
As I was, soe are yu
As I am, you shall bu.
That I had, that I gave,
That I gave, that I have.
(Athenaeum 1878, 2, 110.)
111. Grabschrift. Wo?
Gare viator! —
Ne abhorreas ossa mea
Etiam tu fui in Vita
Etiam ego eris post mortem.
(Zs. f. Volksk. 17, 27 2 nach Sprüche zu
Grabschriften usw. von einem emer. Priester
184:',, S. 225.)
112. Palkenburg (19. Jh.).
Schau mir an und thu mir lesen!
Was du bist, bin ich gewesen,
Was ich bin, das wirst du werden,
Wir sind alle von der Erden.
(Blätter f. pommersche Volkskunde
7, 127. 1899.)
113. Graz (19. Jh.).
Ich lieg' alhier und muß verwesen,
Ich bin, o Mensch gleich Dir gewesen.
Und so wie ich wirst du auch werden,
Staub und Asche und auch Erden.
(Herrigs Archiv 81, 446; Hörmann 1, 35.)
114. Lambach. Leichenbrett1).
Wanderer steh still und schau,
Der du bist war ich auch;
Der ich bin, das wirst du werden,
Eine Speis' der Würmer und Staub auf
Erden.
Desgl. im Bair. Wald.
(Hein, Mitt. d. anthrop. Ges. in Wien
21, 94. 24, 59; Dreselly Nr. 823.)
115. Ampas.
Wie 114. (Hörmann 3, 45.)
HG. Bairischer Wald. Leichenbrett.
Ich lieg im Grab und muss verwesen.
Was du jetzt bist, bin ich gewesen!
Was ich jetzt bin, das wirst auch du.
Drum steh und bet für meine Ruh.
(Hörmann 3, 35.)
117. Frischwinkl bei Eisenstein.
Was du bist, das war ich auch,
Und was ich jetzt bin, das wirst du auch
werden.
(Hein 21, 94.) An mehreren anderen
OrteD.
118. Reit im Winkel.
Hier liege ich und muß verwesen,
Was ich jetzt bin, das werdet ihr,
Geht nicht vorüber, betet mir.
(Dreselly S. 19.)
119. Natters bei Innsbruck, Marterl.
Auch ich trug einstens Bart und Zopf;
Wie du jetzt trägst auf Erden:
Was ich jetzt bin, ein Totenkopf,
Auch du wirst einstens werden.
An mehreren Orten.
(Hörmann 1, 35. 2, 73. Dreselly Nr. 301.)
120. Süddeutschland. An verschiedenen
Orten.
Im Grab muss ich verwesen,
Was du bist, bin ich gewesen,
Was ich bin, wirst du bald werden.
Lebe fromm auf dieser Erden
So wirst du einst selig werden.
(Stolz S. 114.)
1) Von Literatur über Totenbretter erwähne ich diese Zeitschrift 4, 463. 8, 205.
346. 11, 220; Globus 1892, S. 157; Halm und Hein (s. oben S. 54); Illustr. Zeitung 1875. 96.
Hörmann, wie oben.
Kleine Mitteilungen.
63
121. Schönau, Bildstöckl.
Ich bin einmal gewesen
Das, was du heute bist
Was ich bin wirst du werden,
Darum bet mein lieber Christ.
(Dreselly Nr. 2308.)
122. Hörgersdorf.
0 Christ steh still und tu da lesen,
Was du bist, sind auch wir gewesen,
Eine jede Viertelstunde, gieb acht,
Das Menschenleben kürzer macht.
(Dreselly Nr. 105.)
123. Felddorf.
Schau Mensch, was bist du hier auf
Erden,
Du mußt nur Staub und Asche werden.
Hier ruhen wir sanft in unserer Gruft
Bis einst die Stimme Jesu ruft.
(Dreselly S. 2G.)
124 Ötzthal (1S57).
Ich bin gewesen wie du,
Du wirst werden wie ich,
Drum bitt ich dich,
Denk im Gebet an mich.
(Hörmann 3, 115.)
125. Holzkreuz eines Alfred Rose
(1868).
Look, comrades all, as you pass by:
As you are now, so once was I;
As I am now, so you will be:
Remember God, and think of me.
(Athenaeum 1872, 1, 777.)
126. St. Katharina (1874).
0 Mensch! geh nicht vorüber
Ohne dies zu lesen;
Denn was du jetzt bist,
Bin ich auch gewesen,
Und was ich jetzt bin,
Wirst du einst werden,
Zu Asche und Staub auf dieser Erden.
(Hein 21, 94.)
127. Grabschrift des Lütticher
Prof. P. Burggraff (f 1881).
Quod tu es, eram
tu eris quod sum: fai.
(Köhler 2, 34.)
128. Grab eines Dänen in Hongkong
(1872;.
Stay, stranger stay, as you are passing.
As you are now, so once was I
As I am now you soon may be.
Prepare so, that you may follow me.
(Athenaeum 1872, 1, 778.)
129. P. Rosegger ('Als ich jung noch war'
1895 S. 102) erzählt von Totenbrettern mit
der Inschrift:
Auf diesem Brett bin ich gelegen,
Was ihr seid, bin ich auch gewesen,
Und was ich bin, das werdet auch ihr:
Geht nicht ohne Fürbitte von hier!
(Ein Nachtrag folgt unten S. 89—91.
Heidelberg.
Willy F. Storck.
Sylter Lieder.
Wie in den übrigen friesischen Sprachgebieten, so gibt es auch auf der nord-
friesischen Insel Sylt nur einige wenige Lieder, die allenfalls als Volkslieder be-
zeichnet werden können. Die Lieder, die in Erich Johannsens Stücken vorkommen,
und von denen eine kleine Zahl in den 'Sylter Lustspielen'1) gedruckt ist, stammen
aus allerneuester Zeit, und die in weiteren Kreisen der Insel bekannt gewordenen
Verse von Jürren Rincken, auf die wir bei anderer Gelegenheit einmal eingehen
wollen, können nicht eigentlich als Lieder gelten. So kommen hier nur einige
Lieder in Betracht, die schon vor etwa hundert Jahren gärig' und gäbe auf der
1) Sylter Lustspiele. Mit Übersetzung, Erläuterungen und Wörterbuch heraus-
gegeben von Prof. Dr. Theodor Siebs, Greifswald 1897.
04 Siebs:
Insel waren und zumeist von J. P. Hansen in seiner 'Nahrung für Leselust in nord-
friesischer Sprache' (III. Lieder), Sonderburg 1833, teilweise auch schon in der
ersten Ausgabe des 'Gidtshals of di SöTring Pid'ersdei' 180!» gedruckt sind. Ob
diese Stücke wirklich altes Sylter Gut sind, oder ob Worte oder Melodien durch
Seeleute von auswärts heimgebracht sind, vermag ich nicht nachzuweisen. Tat-
sache ist, dass sie heute noch den älteren Syltern bekannt und zumeist als Tanz-
lieder in Gebrauch sind, und dass ihr Text schon vor hundert Jahren ver-
öffentlicht ist. Wenn ich sie nun trotzdem hier zum Abdruck bringe, so ge-
schieht es aus folgenden Gründen: erstens, weil die alten Ausgaben recht selten
geworden sind; zweitens, weil in ihnen die Schreibung nicht so ist, dass ein
Fremder darnach die Laute annähernd richtig bilden könnte; drittens weicht die
Fassung, die man heute hört, erheblich von derjenigen der Ausgaben ab; viertens
sind die Verse ohne Übersetzung und Erklärungen, wie ich sie gebe, wohl
kaum verständlich; und endlich fünftens sind die Melodien bisher noch nicht
bekannt geworden.
Die Lieder werden in der Schreibung gegeben, die ich in dem Buche 'Sylter
Lustspiele' angewandt und dort S. 130 ff. erläutert habe. Unbezeichnete Vokale
sind offen und kurz, z. B. a e i o u (wie im Bühnendeutsch nass, hell, will,
doch, Hund); mit A bezeichnete Vokale sind geschlossen und lang, z. B. ä e i
ö ü (wie in Bahn, See, ihn, hoch, Hut); e ist offnes langes ä (wie im engl,
men), ö ist offnes langes o (wie in engl, water), a ist schwaches e wie in Gabe;
ö und oe wie in könnte und böse, ü und y wie in wüsste und Wüste. Von
den Konsonanten gilt, dass s stimmlos (hart) ist wie in essen, f stimmhaft (weich)
wie in lesen, s = hochd. seh in Asche; r ist reduziertes r und steht auch, wo
im Englischen inlautendes bzw. auslautendes th bzw. d vorliegt (brörar engl,
brother, tir Zeit); g ist stimmhafter Reibelaut (wie in sächs. Tage); ng ist
velarer Nasal wie in bühnendeutsch Engel; n' und 1' wird (im Gegensatz zu
alveolarem n und 1) interdental gesprochen (die Zungenspitze liegt zwischen den
Zähnen), z. B. jen' Ende, jil' Geld; ch ist ach = Laut, ch ist ich = Laut; der
Diphthong ee (geschlossnes e -}- offnes e) wird auch vielfach wie ea, ia, jea ge-
sprochen, öa auch wie ua (kurzes offnes u + a); neben er hört man auch eir
(Hansen schreibt eid, aid) in ger geht, ster Stätte, fer kriegt (fängt) usw.
Die Texte sind in den Jahren 1897 und 1898 nach dem Volksmunde nebst
den Weisen aufgezeichnet worden; für seine musikalische Mitarbeit bin ich einem
Herrn Anders dankbar, der damals an der Sylter Kurkapelle wirkte. Vielfach
weichen die Melodien von Hansens Angaben ab.
I. Seemannslied.
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Wat es dach on se - man fanjen' en tö Jen'? Deer swere-fa en
Was ist doch ein See-mann? das sa- get mir au! Muss rei - sen und
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Kleine Mitteilungen.
65
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bald hierhin, bald dort-hin verschlägt ihn sein Haus. Nie fühlt er sich
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1. Wat es dach an seman fan jen' en tö Jen1,
deer swerafa en für mut sa hing ys hi ken?
hi her ek fül frügar, hi her ek fül ster,
bal' hir- en baP deerhen sin üning hörn drer;
hi sjocht hörn ek sekar, ek sönar gaför
fül wekan, fül dögan, fül stün'an önt jör.
1) Was ist doch ein Seemann im ganzen genommen? (eig. von Ende und zu Ende
d. h. von einem Ende zum anderen), der herumschwärmen und fahren inuss, solange als
er kann? Er hat nicht viel Freude (jüngere Sylter sprechen früchor), er hat nicht viel
[bleibende] Stätte (auch steir), bald hier- und bald dorthin trägt ihn seine Wohnung
(^üblicher ist jir = hier). Er sieht sich nicht sicher, nicht sonder Gefahr viele Wochen,
viele Tage, viele Stunden im Jahr. — Unter den Noten ist die Übersetzung dieser Strophe
in Versen gegeben.
Zeitsctar. d. Vereins f. Volkskunde. 1911. Heft 1. 5
(56 Siebs :
2. Wan 't nacht ur, da wilat gur lön'man en skyr,
wau 't wait en uk storomt, da lokt hi sin dyr;
man da ger 't tö sc: oewaral, tewaral!
tö ruwin nö böwan, dit werar es mal!
al her 'ttm uk jit noch tau sok lüng hin,
da möt 'öm wel likart an pör jit tö lin.
3. Wat es dach an sOman! ik wel nü man si,
hi fer hörn en wüf en hi let hörn bafri;
hat wörat man kürt, hi mut werar ütfän,
jü tieft da it hys, en hi jit da hoer man.
Man wat da gab<er ken, "öm sjocht at dach in:
di wüfhaur sen uk ek fan stöl of fan stin.
4. Wat es dach an seman? forstün mi nü wel!
en winj es di föman, deer fegari skel.
AI tengkt da di köngkar, ik ho noch nin nöa,
min üning es höl'au, ik sen ek fan loa.
Man dach ken 't hörn mesa, hi wet ek. hur bal'
di fegar hörn nem keu me üning en al.
2) Wenn es Nacht wird, da erholt sich der gute Landmann (der Mann vom Laude,
im Gegensatze zum Seemann) eine Weile; wenn es weht und auch stürmt, da schliesst er
seine Tür. Aber zur See, da geht es „überall, überall!" (plattd., auf Sylt aural), die Segel
zu reffen, nach oben! das Wetter ist schlecht! und hätte mau auch noch zwei so lange
Beine, da möchte man wohl trotzdem noch ein paar dazu leihen.
3) Was ist doch ein Seemann! ich will jetzt nur sagen, er kriegt (eig. fängt) eine
Frau, und er verheiratet sich; dann währt das nur kurz, er muss wieder weg von Hause
(eig. üt fan hyf „aus von Haus", der übliche Ausdruck für „auf See"). Sie bleibt dann
zu Hause, und er heisst dann ihr Mann. Doch was da passieren kann, das sieht man doch
ein: die Frauensleute sind auch nicht von Stahl oder von Stein.
4) Diese Strophe ist schwer zu erklären, der Sinn ergibt sich durch das Wortspiel
mit fegar „Feger", das sowohl einen flotten jungen Mann (vgl. dän. fejer, hochd. Feger
Deutsches Wörterbuch III, 1415) als auch den Wind bedeuten kann, der alles wegfegt.
Was ist doch ein Seemann? Verstehe mich nun wohl! Ein Nichts (eig. ein Wind, ein
Windbeutel) ist das Mädchen, die da fegen (kann auch meinen: sich mit einem Feger ab-
geben) soll. Da denkt dann der Kanker (die Spinne): ich habe noch keine Not, meine
Wohnung ist haltbar (eig. gehalten), ich bin ja nicht von Blei (bin nicht so schwer). Und
doch kann es ihm (Kanker = Spinne ist männlich, daher der Vergleich mit dem Feger) miss-
glücken: er weiss nicht, wie bald der Feger ihn nehmen kann mit Wohnung und allem.
Die Strophe beginnt bei Hausen mit einer persönlichen Anspielung „wan Rasmus es fegar"
twenn Rasmus den Feger spielt — verstehe mich nun wohl!) — ich glaube aber, dass die
von mir aufgezeichnete Fassung die ältere ist.
Bei Hansen (a. a. 0. Nr. 5) ist als zweite Strophe die folgende eingeschaltet:
Wat es dag en Seeman! AI meend er fuar wes:
„wank sa dö, skeldt lekki!" est aaft dag jit mes.
sa fuulerlei Töögenfal kjen er hörn fin',
dejr al sin gud Anslag forjaaged ön Win';
sa aaft da foran'nerdt sin Mud en sin Lek
ön Armud, ön Kemmer, ön Eelend en Skrek.
Was ist doch ein Seemann? Glaubt er schon als sicher „wenn ich es so mache, wird es
glücken!", dann ist es oft doch noch verkehrt. So viele Widerwärtigkeiten kann erfinden,
die all sein gutes Wollen in den Wind jagen, und so oft verkehrt sich sein Mut und sein Glück
in Armut, Kummer, Elend und Schrecken." Ich habe diese Strophe nicht mehr vorgefunden:
sie macht — wie übrigens auch die vierte — einen gesuchten und gekünstelten Eindruck.
Hansen gibt als Weise das dänische Lied an ..jeg er af Naturen saa ferm som en Mand":
ich habe dies nicht gefunden; jedenfalls scheint mir die hübsche Melodie mitteilenswert.
Kleine Mitteilungen.
67
2. Herbstlied.
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Di wun-tar-tir es ek lung hen, Di so- mar es for - gin-gan;Gur
Der Win-terist nun nicht mehr weit, Der Som-mer ist ver - gan- gen; Die
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ha-rafst,di her sin ha - gen al deer di ba- rieht fin-gon. Di
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ab- ge-mäht, Manch Blattschon vou den Bäumen webt; Schon sind die Kräh'n zu
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llö - 911, di föm-ner mut nö lö - an, di lö - an!
schau-en, ans Dreschen nun ihr Frau-en! Schon Frau-en!
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68
Siebs:
1. Di wuntartir es ek lung hen,
di somar es forgingan.
gur harofst, di her sin bogen
al doer di baricht fingen;
di ekarlön'an hö wü köl,
di bömar let jür hieran föl,
di krekan kum al flöan,
di fömnar mut nö löan.
4. Di kofi es nü dälkonst klör,
ik hö uk jet wat fletan,
en sokorbötarskif sa rör,
dit fö i uk noch betan.
Sa, klapsi nü man tö wat flingk,
en wan ik röp, da kum en dringk
wü wel, wan wü üs weera,
uk ek om binar teera.
2. Da ger dit „klipklap" nacht en dai,
en morar set tö sjungan:
„sa fömnan, weera jü nü frai,
di jüden kum al gungan;
dö nü jü best en wis ek trach,
da kopa ik jü fan arkan slach,
tö skor(s)tar en tö dokar,
pusüntja, krög en smokar."
5. Sen wü js harafst-ölbar fan,
da gung wü jest önt sian,
en erart bi, me alaman
tö püntin en tö flian;
man ik skel bi min wel somör,
en dit önt spenan, snör rör rör,
tö werk en tö wat jöran
me prekaltjüch tö föran.
3. Deer i jit wams en hülkan fcert
en töcht ek om wat wenan
da fei dit ölbar mi tö beert
bi wögau en bi spenan;
man nü ken i önt nlbar gung
en erart uk Jens häijft sjung,
deer fö i tö fornemau,
hurtö i jir sen keman.
6. Weer förar uk nü man it hys,
da wüst ik noch sin gögan,
hi törst fan nöntdön gor ek frys
aur büfom en aur högan;
da möst hi ys en gurt signoer
sin örpar salaf dö en foer
en tweskan in tö nüta
wat koarta en wat klüta.
1) Die Winterzeit ist nicht lange [mehr] hin, der Sommer ist vergangen; der liebe
(gute) Herbst, der hat seinen Anfang schon mit der Ernte bekommen; die Ackerländer
haben wir kahl, die Bäume lassen ihre Blätter lallen, die Krähen kommen schon geflogen
(im Oktober kommen sie und bleiben den Winter auf Sylt), die (nach Hansen: wü = wir)
Mädchen müssen [zum Dreschen] auf die Diele.
2) Dann geht das Klippklapp Nacht und Tag, und Mutter sitzt zu singen; „so, ihr Mäd-
chen, strenget euch jetzt hübsch an, die Juden kommen schon gegangen (als Hausierer);
tut jetzt euer bestes und seid nicht träge, dann kaufe ich euch von jeder Sorte,
zu Schürzen (meist skortor) und zu Tüchern, zu Wams (auch pusrüntja), Kragen und
Hemden.
3) Da ihr noch Wams und Kindermützen (Hansen gibt ülkan; dies Wort habe ich
nur im Sinne von „kleine Kinder" gehört) anhattet und nicht daran dachtet, etwas zu
verdienen, da fiel die Arbeit (meist örpar) mir zur Last, bei Wiegen und Spinnen: aber
jetzt könnt ihr an die Arbeit gehen und demnächst auch noch „heia" singen; dann kriegt
ihr zu lernen, wozu ihr da seid (eig. hierhergekommen seid).
4) Der Kaffee ist jetzt gut fertig, ich habe auch noch etwas Rahm, und so schönes
Butterbrot mit Streuzucker, das bekommt ihr auch noch zu beissen (eig. gebissen); so,
klappt jetzt nur etwas schnell zu, und wenn ich rufe, dann kommt und trinkt — wir
wollen, wenn wir uns anstrengen, auch nicht an Knochen nagen.
5) Sind wir unsere Herbstarbeit los, dann gehen wir zuerst ans Nähen, und dann
gehen wir mit alle Mann [bei], zu putzen und in Ordnung zu bringen; ich aber will für-
wahr an mein Spinnrad und spinnen, zu Werg und etwas Garn, um dann mit Strickzeug
[auf Besuch] ausgehen zu können.
6) Wäre Vater auch jetzt nur zu Hause, dann wüsste ich wohl, was ihm gut wäre
(gögan = Nutzen); er brauchte vor Nichtstun gar nicht zu frieren im Stall und beim Mist-
haufen, dann inüvste er wie ein grosser Herr seine Arbeit selbst tun und führen und in-
zwischen zu Nutzen etwas Wolle kratzen und flicken.
Kleine Mitteilungen.
69
7. Se tö, jens erar terskantir,
wan lir tö wuntar slachta,
da kum s" noch tüs, fan wir en sir,
al jer 'öm s' jens forwachta;
en seman, deer hol' märich mai,
sjocht, dat or lön' tö harafst fer,
en da bögen fan man
di drengar om tö Man.
8. Da kumt di jen, die taust, di ger,
di trer set tö fortelan,
die fjörst jart, wat en ürar ser,
di füfst forköpat brelan:
gur sokst, di fcert wat ön die skelt,
deer hi jen ek ön k<ew fortelt,
di öchst, di es en skraiar,
di niganst set üp aiar.
9. 'öm her jiist ek fül foadel fan
des niar wärals kyran:
liok pipam knek "ar dan en wan,
hil stün'an stüu s1 bi dyran ;
öu klöarar foer s' jam wel sa gek
en hö jens knap en dct's ön fek;
di tlot, di ür forbronan,
bi 't örpar ür nönt wonan.
10. Desjöring bilt s' jam uk wat in,
en da ging s' üt tö Man
ön lenan boksan wir bi bin
e'u wewan knapasian.
Man di tir wör "öm wel batöcht;
wau s' tüs kam, fing 'öm han'jeft bröcht.
Jö, dit weer jens hok drengar!
sa fent 'öm s' nü ek lüngar.
11. Jö, mörar, dit es uk noch wör,
sok songan sen tö liwan;
en es di köfi nü bal' klör
me di gur bötarskiwan?
da wel wü jest ön 't dringkan gung
en erarst om desjöring sjung,
hur 't uk wel jens föa desan
aur Söl'ring lön' her wesan.
3. Söl'ring donsledja.
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L-J=izEzt
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Sa weer'ar Jensen fe-gar, fan hörn skel ik jü si:
Da war mal so ein Fei-ner, sagt an, was fiel dem ein?
hi fingt ön sen, hi
er nahm sich vor, er
7) Sieh mal (eig. sieh zu), nach der Dreschzeit, wenn die Leute für den Winter
schlachten, da kommen sie nach Haus von weit und breit, bevor man sie einmal er-
wartet; ein Seemann, der gern Wurst mag, sieht, dass er zu Herbst an Land kommt (eig.
Land bekommt), und dann fangen die Jungen aufs neue zu freien an. (Dies Freien in
der Dämmerung wird nun geschildert, vgl. Söl'ring halfjungkandrC'ngor, Sylter Lustspiele
S. 81 ff.).
8) Da kommt der eine, der zweite (J. Hansen sagt twidi) geht, der dritte sitzt zu
erzählen, der vierte hört, was ein andrer sagt, der fünfte verkauft Brillen (d. h. lügen,
betrügen): der gute sechste, der führt was im Schilde, was er einem nicht in der Stube
erzählt; der achte ist eine Klatschbase, der neunte sitzt da zu brüten (er drückt sich lang-
weilig herum).
9) Man hat gerade nicht viel Vorteil von der neuen Welt Manieren: manche
Pfeifen brechen da dann und wann, ganze Stunden stehn sie vor der Tür: in ihrem
Anzug tragen sie sich so närrisch und haben noch kaum eine Tabaksdose in der Tasche;
der Tran der wird (unnütz) verbrannt, bei der Arbeit kommt nichts heraus.
10) Ehemals bildeten sie sich auch etwas ein, und dann gingen sie aus zu freien in
leinenen Hosen, weit um die Beine, und gewebten wollenen Jacken. Aber zu der Zeit war
man wohl bedacht: wenn sie nach Haus kamen, bekam man ein Geschenk mitgebracht.
Ja, das waren noch Jungen! solche findet man jetzt nicht mehr.
11) Ja, Mutter (auch motar hört man), das ist auch wahr: solche Geschichten (eig.
Gesänge) sind glaubhaft. Und ist jetzt bald der Kaffee fertig mit den schönen Butter-
broten? Dann wollen wir erst einmal ans Trinken gehen und nachher erst von den alten
Zeiten singen, wie es wohl vordem einmal im Sylter Lande gewesen ist.
70
Siebs:
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fing't ön seil, In wül en fö-man fri. man liir, ys't hörn es gin - gen, hi
nahm sich vor, ein Mäd-chen wollt' er frei'n. Doch hört, wie's ihm er - gan - gen; er
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tochthi fing noch jö;
glaubt', er würdihr Mann :
„ik mut,
,ich muß,
ik
ich
mut,
muß.
ik mut dit fo-men
ich muß das Mäd-chen
hö; ik mut, ik mut, ik mut dit fö-men hö!„
han; ich muß, ich muß, ich muß das Mäd-chen han!"
1. Sa weer '9r Jens en feger,
fan hörn skel ik jü si:
hi fing 't ön sen, hi fing 't ön sen, hi wül en fömen fri.
man hir, ys 't hörn es gingen,
hi töcht, hi fing noch jö,
„ik mut, ik mut, ik mut dit fömen hö."
2. Hi kam hörn deer ön injem,
ys uk en frier pler;
di mörer, jü ser, di mörer, jü ser: „hü mun di drüng dach erer ger?
hi kumt jö dach sa füken,
at hö noch wat ön sen,
du ferst, du ferst, du ferst noch likort Jen."
3. „Jö, hurom," swöret di fömen,
es hi ek mans en wel?
hi kön sa dö, sa däilk, sa rör, al wat hi skel:
hi wet hörn sa tö skekin,
hi ken sa nie Jen kir,
hi tör(s)t, hi tör(s)t, hi tör(s)t rocht nönt möa lir!"
4. Gur dreng kam bal' Jens werer,
di mörer kam tö dyr:
1) So war da einst ein Feger (d. h. ein flotter Kerl, Stutzer, ein Durchgänger, vgl.
oben S. 6(5 und Deutsches Wörterbuch III, 1415: ist kein Sylter Wort, vgl. föge fegen; vgl.
dän. fejende rasch, flott?), von dem muss ich euch sagen: er kriegte es in den Sinn, er
wollte ein Mädchen freien. Doch hört, wie es ihm gegangen ist; er dachte, er bekäme
wohl ein Ja; „ich muss dies Mädchen haben."
2) Er kam (sich) da des Abends, wie auch ein Freier [zu tun] pflegt; die Mutter,
die sagte „wo der Junge wohl hinterher geht? er kommt ja doch so oft, ihr beiden (at
= ihr, Dual) habt wohl was im Sinn: du kriegst wohl noch ohnedies einen!"
3) ..Ja, warum?" antwortete das Mädchen, „ist er nicht gut genug? er kann so tun,
so hübsch, so nett, alles was er macht; er weiss sich so zu benehmen, er kann so mit
einem umgehen; er braucht wirklich nichts mehr zu lernen!''
4) Der gute Junge kam bald mal wieder; die Mutter kam an die Tür: „unsere Tochter
ist krank, sie hat das Fieber (tyr eig. Tour, d. h. Wechselfieber): das kommt wohl von
vielem Tanzen, sie hat sich wohl erkältet — was sie noch länger fühlen wird."
Kleine Mitteilungen.
71
„ys föman es kröngk, ys föman es kröngk, jü her di tyr.
dit kumt noch fan fül dönsin,
jü her hoer noch forkoelt,
deer jü, deer jü, deer jü noch lengar fcelt."
5. „Jü," swörat hi, „sa es 't keman,
jü möst wat öltarfül;
ark jen, hi uöms, jü weer sa jof, hat weer en grnl.
Wat skel ik nü dach skröala,
jü steraft mi dach noch hen,
dit weer, dit W(A,er, dit weer en ring bagen."
4. Somarledja.
•4— pH- * * — *-F-, — j-j — H-Fi — 0-j — m-\ -»— *-j-f-«
3t=*
o, nü ür't wa-ram, gotsai daugk! di wun-tar weer uk swör; nü ken 'Öm't har-ta
Ach, nun wird's warm, Gott sei Dank! vor- bei istWin-ters Leid .'nun friertuns in der
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ön di locht, nü spring wü öal'- an ön di bocht, di so-mar es sa rör.
Luft nicht mehr, wir Al-ten sprin-gen froh um -her! o schö-ne Som-mer- zeit!
1. 0 nü ür 't würam, gotsaidangk !
di wuntar weer uk swör:
nü ken 'öm 't hfirta ön di locht,
nü spring wü üal'an ön di bocht,
di somar es sa rör.
2. Min sist hn 'k ek sent Meertansdai
jer nü fan 't lewand her;
man nais, da wör di lapam wel,
ik tocht: nun, sa let *k mi ek kwel,
da wech me sist dach jer!
:'>. Ys jungan men — ja si welöft:
„hur mai i sa dach gung
me jü öal' gröchalk sist ark dai?"
man wat ken höm fül ürars drai
'öm bleft ek altart jung.
5) „Ja," antwortete er, „so ist es gekommen, sie musste eben allzuviel (leisten); jeder,
der nahm sie, sie war so begehrt (jöf, eig. gäbe, ist ein sehr gebräuchlicher Ausdruck für
Mädchen, die bei allen beliebt sind), es war schrecklich (eig. ein Greuel: viel gebrauchte
Redensart). Was soll ich jetzt aber weinen, sie stirbt mir doch noch weg; das wäre eiue
böse Sache (eig. ein böses Beginnen).
Dieses Lied ist bei Hansen (Nr. 4) durch eine nach anderer Weise gesungene erste
Strophe eingeleitet und als Wundter-Leedti (Winterlied) bezeichnet. Von dieser ist mir
nichts bekannt geworden.
Als Weise gibt Hansen an: „Es war ein junges Mädchen"; die mir hierfür bekannten
Melodien und auch die mir freundlichst von Herrn Professor Bolte angegebenen stimmen
nicht zu der Sylter (vgl. Böhme, Volkstümliche Lieder 1S95 Nr. 167 a, von J. F. G. Beck-
mann 1770; Böhme Nr. lG7b = Erk und Irmer, Die deutschen Volkslieder 1, 4. Heft
Nr. 60 (1839), vgl. Kretschmer-Zuccalmaglio 1840 2, 195; Hoffmann und Richter, Schlesische
Volkslieder 1842, Nr. 132).
1) Ach, nun wird's warm, Gott sei Dank! Der Winter war auch schwer; nun kann
man es aushalten in der Luft, nun springen wir Alten herum, der Sommer ist so schön!
2) Meine Pelzjacke habe ich seit Martinstag bis jetzt nicht vom Leibe gehabt; aber
neulich, da wurden die Flöhe lebendig; ich dachte, nein, so lasse ich mich nicht quälen;
dann weg mit dem Pelz doch gleich!
3) Unsere Jungen meinen — sie sagen oft: „wie könnt ihr docli so gehn mit eurem
72
Siebs
4. Hat ür nü rocht sa rin forkirt
nie di jung wärals lir;
gurt skortar drai s' nü deel om fet,
jen pai man öd, dit jit da net;
deer kumt noch ürar tir.
5. Ik hö 't sa oft ys fömon ser:
let man wat oal'dögs hen;
desj dring fing 'öm uk en man,
al wüst 'öm fül fan prungk ek fan:
wis net en rin fan sen.
*i. En dreng sjocht misttir — nön,
kr-n 'k
di lapam sen rocht mal;
nais ment 'k sa wes, ik wör s' al kwit,
man nön, ik foel, ja ^en 'ar jit.
di plög ger böwan al.
nu
5. Prüf einmal auf See zu fahren.
-j -f^H — 4 0-\-J =1 -4— j^H ! 1-
Pröow en-maalop See to faa-ren, Land-man.uut un kendieWeldt! maak en Eeis op
Soo krigst du uk maal to wee-ten, WoodatSee-mans- lee-wen gcit, Und woo en Ma-
twee dree Jaa-ren Un see, woo dii dat ge - feldt.
troos kan ee - ten, wen en Braa-den föör em steit.
6. Jap, en jung dreng
*— 7-
Jap, en jung dreng fan föf-tichjor, weer dör-tich steror foa
Jap, Jung-ge-sellund fünf-zig Jahr, hielt drei-ßig Mal wohl an
^=3=3=1=3
en socht en
und sucht1 'ne
en socht en brir, man most jung-dr.'iigblif tö
Braut und sucht' 'ne Braut: doch Jung-ge-sell blieb stets
sm
der
döa
Man,
hi
■ man
->,,-
6^
weer ap-skai-lich jöf, hi Meer ap-skai-lich jöf.
hatt'ihnschreck-lich gern, man hatt' ihn schreck-lich gern.
alten greulichen Beiz jeden Tag?" Aber was kann man viel anderes tragen? Man bleibt
nicht immer jung.
4) Es wird jetzt rein so ganz verkehrt mit den jungen Leuten in der Welt: grosse
Röcke tragen sie jetzt, bis um die Füsse herunter; und nur einen Unterrock haben sie,
das heisst dann nett; (aber) da kommt noch wieder andere Zeit.
5) Ich habe es so oft unserer Tochter gesagt: lass es nur ein bischen beim alten
bleiben; früher bekam man auch einen Mann, obschon man von Prunk nicht viel wusste;
seid hübsch und rein von Gesinnung (das ist die Hauptsache).
6) Ein junger Mann sieht meistens — nein, jetzt kann ich die Flöhe sind doch
Kleine Mitteilungen,
73
Anhang.
Als Anhang seien drei Stücke. genannt, die entweder wegen des Textes oder
der "Weise nicht als eigentliches Sylter Gut in Betracht kommen.
Zunächst das von Hansen als 'Dat Matroosenliid an di Landman (6)' mitge-
eilte Lied „Prööw enmaal op See to faaren" (Nr. 5); es wird dort nicht in
friesischer, sondern in niederdeutscher Sprache gegeben. Ich habe nur die erste
Strophe, und zwar auf hochdeutsch als „Prüf einmal auf See zu fahren" nach der
auf Seite 72 aufgezeichneten Weise singen hören. — Die von Hansen angegebene
Melodie „über die Beschwerden dieses Lebens" habe ich nicht gehört, und sie
dürfte auch nur schlecht zu dem Rhythmus des Textes stimmen; wenigstens in
der Gestalt, wie sie von P. de Gaveaux 1795 nach einem niederländischen Ge-
sellschaftsliede1) gemacht ist — eine andere konnte auch Herr Professor Bolte,
dem ich für seine freundlichen Bemühungen sehr dankbar bin, nicht feststellen.
Ferner hörte ich von dem bei Hansen (8) mitgeteilten albernen coupletartigen
Liede „Dit ürd abskeulig ön sin rogt gistaldt" die erste Strophe nach der
auf Seite 72 als Nr. 6 aufgezeichneten Weise singen. Die Worte lauten:
Jap, en jungdrSng fan föftich jör,
weer dörtich sterar loa
en söcht en brir, en sucht en brir,
man möst jungdrSng blif tö sin döa,
hi weer apskailich jöf.
Jap, ein Junggeselle von fünfzig Jahren, war [sprach] an dreissig Stellen vor und suchte
eine Braut; aber er musste Junggeselle bleiben bis zu seinem Tode: er war abscheulich
begehrt.
Mit diesem und anderen Coupletversen sollte das zu Anfang des 19. Jahr-
hunderts viel gebrauchte Modewort 'abscheulich' verspottet werden.
Schliesslich sei das von Hansen als 'Dit Sölring daansin' (Mel. Hupsasa,
Vetter Miggel aa!) bezeichnete Tanzlied mitgeteilt; als Melodie habe ich das be-
kannte „Gestern Abend ging ich aus" gehört.
Söl'rmg dönsin hö nin lik
ön dit hila köningrik;
dönsin ön ys Söl'ring skek
hö dit tödjen me tö swek;
ön en tri minutan mai
uk tri eeralk tödjan swai,
jö jö jö, hat es rocht net
en hat sköricht ek en bet.
Mai di swetstan uk wat bren
üp en kölkich waram sen,
da wel dit üp SöP man si.
hol' wül 'k mi me hcer bofri!
wan ik sa en hartjan fing,
ek möa sönar fälich ging,
da, da, da, da, da, da, da
ab dögen hopsasa!
möt ik sa en hart j an fo,
möt ik sa en dödjan hö.
(zu) böse; neulich meinte ich so sicher, ich wäre sie schon los; aber nein, ich fühle, sie
sind noch da; die Plage geht über alles.
Von diesem Liede habe ich nur die erste Strophe singen hören, und zwar nach einer
dem Herbstliede (di wiintartir es ek lung hen Nr. II) ähnlichen Weise; Hansen gibt als
Melodie an „auf, auf ihr Brüder und seid stark"; dass dieses auch auf eine andere als
die bekannte Schubartsche Weise gesungen würde, ist mir nicht bekannt. — Strophe 2— <>,
die ich nicht gehört habe, sind gemäss dem Hansen'schen Texte aufgezeichnet.
1) Der Text ist von C. A. Herklots, im Singspiel 'Der kleine Matrose' 1799 (über-
setzt nach Pigault-Lebruns Oper 'La pipe de tabac' oder 'Le petit matelot'); vgl. Böhme,
Volkstümliche Lieder der Deutschen 1895, Nr. 71G.
74
Siebs, Bolte:
Sylter Tänze haben nicht (ihres) Gleichen im ganzen Königreich. Tänze nach unserem
Sylter Schick haben das Küssen mit zum Zweck; in drei Minuten können auch drei ehr-
liche Küsse darauf stehen: ja, es ist recht nett, und es schadet kein bischen. Mögen die
Küsse auch etwas brennen auf einer kitzlichen warmen Stelle, dann will das auf Sylt nur
sagen: ich möchte gern mit ihr freien. „Wenu ich solch ein Herz bekäme und nicht mehr
ohne Bursche (engl, fellow) ginge, dann — alle Tage Hopsasa!
Herzchen bekommen!" „„Könnte ich solch ein Liebchen haben!""
Breslau.
Könnte ich solch ein
Theodor Siebs.
Zum deutschen Volksliede.
(Vgl. oben 12, 101. 215. 343. 13, 219. 14, 217. IG, 181. IS, 7G.)
36. 0 Tannenbaum (geistlich).
1. 0 Dannenbaum, 0 Danuenbaum S. Dich steckt der Jäger auff den Hut,
Du bist ein edler Zweig,
Du grünest Winter vnd Sommer
Vnd zu der Frühlings Zeit.
2. Das Aichel Laub, die Haselstaud,
Die zuvor gstanden stein0,
Verleurt den Safft vnd dörret ab,
So bald anfällt der Reiff.
.'!. 0 Dannenbaum, ü Dannenbaum,
Dein Wurtz hat allzeit naß,
Wann durstig ist der Rebenstock,
Die Blumen vnd das Graß.
4. Der Spicanat vnd Roßmarin
Floriren wenig Tag:
So bald der Dorn Rosen hat,
So bald seyn sie schabab.
Wann er vor müde rast,
Dem Hund das Gjaid auff grüner Heyd
Mit seinem Hörn auffblast.
9. Vnd wann der Jäger schiessen will
Die Reh, Haasen vnd Fuchs,
So schleicht er hinder dich fein still,
Schlegt an an dir sein Buchs.
10. Der Aichhorn gschwind gleich wie derWind,
Wann ihn der Hund ankriegt,
Furcht sich gar sehr, schaut hin vnd her,
Ob sich dein Ast nit biegt.
11. Der Fincken Schall, die Nachtigall
Auff deinem Gipffei singt,
Vnd jubilieren für vnd für,
Daß in dem Wald erklingt.
5. 0 Dannenbaum, 0 Dannenbaum, 12. 0 Nachtigall, 0 Himmels-Saal,
Du bist der Thierlein Trost, 0 Cron der Seraphin,
Wann Berg vnd Thal mit Schnee bedeckt, 0 schöne Stadt Jerusalem,
Der Hirsch bey dir sucht Trost. War ich ein Burger drin!
6. Wie offt wird gfällt die Turteltaub,
Darauff der Habicht stoßt,
Wenn sie nicht fiele in dein Nest,
Sonst es das Leben kost.
13. Du bist der rechte Dannenbaum,
Auff deinen Aestlin ruht
Die weiß vnd rothe Ritterschafft,
Gefärbt mit ihrem Blut.
7. 0 Dannenbaum, 0 Dannenbaum, 14. All vnser Freud, all vnser Zeit,
Dein Schatten ist vns nutz, All Hoffnung, Gunst vnd Glück
Wann vns sehr brenut der Sonnenglantz, Ist gegen dir, 0 Engel-Land,
Bieten wir ihm den Trutz. Ein kurtzer Augenblick.
1, 2 edles C — 1, 4 Und auch zur C — 2, i Aichblat C — 2, 2 Die vor gestanden
C — 4, i Spicanard C (spica nardi, Lavendel) — G, i gefällt B — 6, 3 sie] es C — fielt
B — dein] ihr D — Nest Äste — 7, 2 vns] sehr CD — 7, 3 sehr] fast CD — 8, i auf
sein CD — 8, 3 Den Hunden C, Der Hund D — das Gwild D — 9, 2 Rehl B — 9, 4 an
dich seine D — 10, 1 geschwind B — 10, 4 dein] der D — Ast] Nest C — 11, 1 der
Nachtigall B — 11. 3 jubilieret D — 13, 1 ijin rechter D — 13,2 Nästlein CD — 14,3
Engelskind D.
Kleine Mitteilungen.
75
15. Dort in Sion da quellt eiu Brunn
Biß in das Paradeiß,
Er löscht den Durst in Ewigkeit,
Ist einem jeden preiß.
IG. Dort ist kein Heut noch Morgen,
Kein Eigen mein vnd dein,
Ein Hertz, ein Lieb ohn End vnd Zihl,
Kompt alles überein.
17. Allda ist viel der Seytenspiel,
Der Alleluja Klang,
Es gilt kein Kauff, niemand setzt auff,
Das End ist der Anfang.
18. Prangt jeder schon in seiner Cron,
Vmb die er hat gekämpfft,
Vnd leuchtet über Sonn vnd Monn,
Ist gantz in Gott versenckt.
19. Nun last vns dapffer fechten,
So laug das Leben wehrt!
Man thut kein ledig sprechen,
Der vor dem Todt vmbkehrt.
"20. Das Kräntzlein ist gebunden:
Nun hebt all Mannlich auff,
Der Feind schier überwunden,
Schon bald vollend den Lauff.
21. Schön überauß, 0 werthes Hauß,
Wir grüssen dich von fern.
Leucht vns in dieser Pilgerfahrt
Allzeit, du Morgen-Stern!
Diese geistliche Version des vielgesungenen Liedes '0 Tannenbaum'1) liegt
bisher in fünf Aufzeichnungen dos 17. bis 19. Jahrh. vor:
A. Ein schön Geistliches Gesaug, genannt der Dannebaum. In seiner aignen Me-
lodey. Getruckt zu Augfpurg. Im Jahr, 1629. 4 Bl. 8 °. 21 Str. | W. v. Maltzahn, Deutscher
Bücherschatz 1S75 S. 315 Nr. 788. Wo jetzt?)
B. Zwey schöne | Geistliche Lieder, | Das erste: | Es ist ein Schnitter heist der Todt
hat | Gwalt vom grossen GOtt, etc. | Das ander: | 0 Dannenbaum, 0 Dannenbaum, | du bist
ein edler Zweig, etc. | Jedes in seiner eygnen Melodey zu singen. | G | Augfpurg, bey
Johann Schuttes. 4 Bl. 8° (Berlin Er 4970, 1(5).
C. G. Göcking, Vollkommene Emigrations-Geschichte von denen aus dem Ertz-
Bißthum Saltzburg vertriebenen Lutheranern 2, 302 (1737) nach einem Druckblatte. Vgl.
Er. Schmidt, oben 5, 357.
D. Vier geistliche schöne neue Lieder, | Das erste: | Ach! wie betrübt sind fromme
Seelen, | allhier, allhier, auf dieser Welt. | Das zweyte: | Süsser Christ! Der du bist. }
Das dritte: | 0 Tannenbaum! o Tannenbaum! | Das vierte: | Die helle Sonne ist dahin. |
Gedruckt in diesem Jahr. | 4 Bl. 8° (Zürich XVIII 1792, 10).
E. Mündlich aus dem Zürcher Oberland bei Tobler, Schweizerische Volkslieder
1, 174 Nr. 7(3 (1882). Die 6 Strophen entsprechen den obigen Str. 1—4, 11—12.
Die Fassungen A— D enthalten 21 Strophen; da A mir nicht zugänglich ist,
gebe ich den Text nach B und verzeichne die wenig bedeutenden Varianten
von CD. Der Preis des immergrünen, von Tieren und Menschen geliebten Tannen-
baums nimmt mit Str. 12 eine etwas überraschende Wendung zur Ausdeutung auf
das himmlische Zion; auf seinen Zweigen trägt der geistliche Tannenbaum die
weiss und rote Ritterschaft, d. h. die Märtyrerschar, deren Vorbild die Hörer zu
gleichem Kampf und Sieg begeistern soll. Diesen zweiten Teil möchte man wegen
der Ungleichmässigkeit des Versbaus einem andern Verfasser zuschreiben; in
Str. 16, 19, 20 endet die erste und dritte Zeile weiblich und gibt den Binnenreim
15, 4 In CD — 16, 3 ohn] ein C — 17, 3 setzt auff = betrügt, übervorteilt — 18, i
Ein jeder prangt C — 18, 3 Mond C — 19, 4 Der von B — 20, 2 männlich C — 20, 3 f.
Die Feind zu überwinden Und vollenden C — 21, 4 du] zu B.
1) Erk-Böhme, Liederhort 1, 543 Nr. 175-176 und 3, 188 Nr. 1301. Vgl. ß. Köhler,
Kl. Schriften 3, 255. E. Schmidt, oben 5, 356. Kopp, Deutsches Volks- und Studenten-
lied 1899 S. 21 und Altere Liedersammlungen 1906 S. r35f.
hörn 1909 S. 236 f.
Bodo, Des Knaben Wunder-
76
Bolte:
auf, der in Str. 10—12, 14, 15, 17, 18, 21 zumeist beobachtet wird. — Eine andre
geistliche Kontrafaktur, die jedoch jene frühere nicht zu verdrängen vermochte,
erschien 1642 zu München: „Der Geistliche Dannebaum, in welchen die
Christliche Gottliebende Seel, in betrachtung der schönen gestalt vnd vnderschid-
lichen Aigenschafften deß allzeit grünen Dannebaums, sich erhebt in den Him-
lischen Lustgarten" (46 achtzeilige Strophen: '0 Dannebaum, o Dannebaum,
holdselig ist dein Nam'. — 8 Strophen daraus bei Aurbacher, Anthologie deutscher
katholischer Gesänge 1831 S. 202. Melodie bei Böhme, Altdeutsches Liederbuch
Nr. 65G. v. Maltzahn, Bücherschatz 1875 S. 315 Nr. 779).
37. Bruchstücke aus dem 15. Jahrhundert.
Von einem um 1490 hergestellten Druckblatte sind im Nürnberger Ger-
manischen Museum (Kupferstichkabinet, Poesie 1) drei Fetzen erhalten, auf denen
je zwei Zeilen stehen. Nr. B und C enthalten Fragmente eines Spottliedes auf die
modische Frauentracht, während A aus einem andern Liede herzustammen scheint.
Nach Reimzeilen abgesetzt lauten die Bruchstücke:
A. Q Den weßten weler auch darzü.
rumpel an d' türe nit.1)
den hand die lied vor dir ain rü,
die du singst zu di | ser frist.
5 nun rumel vnd bum
er macht dich ki'üm.
er kehrt dirs hinderteil herumb.
so singstu es dann . . .
*
B. [sy hand] lang spicz an den schuch.
10 yetzliche vv"il haben ein weiß prustuch.
jre arm sieht man jr ploß. |
Q Sy gand daher nach mannes lust.
lieplich zu allen egken.
man sieht da vorne schier die prüst.
15 sy sollte fsy baß bedecken] . . .
*
C. das erkant.
die haß die sind jn binden
vnd vornen außgeschnitten.
sy sprechendt es sey yetz sytten. 1
2o jeh rürt es geren baß.
ich furcht sj' werden mir gehaß.
38. Ein Tagelied.
1. Frölich so wil ich singen
Mit lust ein tageweyß,
Ich hoff, mir sol gelingen,
Darauff leg ich mein fleyß,
Gegen einem frewlein reiche
Auff einer Bürg so hoch.
Ir hertz was trawrigklichen,
Der knab stund heymigklichen,
Sie het jn gern hynein.
2. Die Bürg die was verschlossen.
Als es dann billich was.
Das Frewlein was begossen
Mit laid, so mereket das.
Der knab hub an zu werbe
Lieblich zu jr hinauff:
'Schöns lieb, es leyt mir herbe,
So ich also verderbe'.
Sie lost jm eben auff.
1) 'Kumpel an der türe nit' ruft in einem Liede derselben Zeit (Erk-Böhme, Lieder-
hort Nr. 902) die Frau dem zur Unzeit anpochenden Buhler zu.
Kleine Mitteilungen.
< i
3. Sie sprach: "Meins hertzen ein trauter,
So gib mir deinen rat
Vnd mach es nit zu laute,
Gee hin zum wechter drat
Vnd bit jn also freye,
Das er der bürge thor
Heimlichen offen seye!"
Do sprach der knab mit trewe:
;Gee hin vnd meld mich vor!'
8. 'Zart fraw, jr sollet lassen
Ewer bitten, ist vmbsunst.
Thut eueh des knaben masseu!
Ir gwinnet mein vngunst.
Thet ich nach ewern sinnen,
In sorgen müst ich stan,
Man würdt sein gar bald innen.'
Erst trat er an die zinnen.
'Knab, du solt dannen gan.'
4. Das frewlein thet sich fügen
Heimlich zum wechter dar,
Sie thet jm nichts verklügen:
'Merk, wechter, vnd nym war,
Hilff mir, das ich werdt innen,
Was rechte liebe sey,
Des bit ich dich mit sinnen."
Erst schied er von der zinnen:
'Sag an, mein frewlein frey!'
5. Das Frewlein also schnelle
Sprach zu dem wechter gut:
"Mach vns kein vngefelle!
Es steet ein edles blut
Dauß vor der bürg hindanne,
Den het ich gern herein.
Dein hilft muß sein vorane,
Vergün mir disen manne,
Das ist die bitte mein."'
9. '0 wechter, laß deinen zorn!
Du krenckest mir mein hertz.
Gedenck, das dich hat geborn
Ein weyb mit grossem schmertz!
Laß mich der brüst gemessen,
Die du gesogen hast!
Thu mir das thor auffschliessen!
Ich hör ein stimm so süsse.'
Erst gab er jr ein trost.
10. Der wechter sprach mit sorgen:
'Zart Fraw, jr seyd gewerdt.
Tracht, das es bleybt verborgen!
Ich wurd sunst gericht zum schwerdt'.
"Das wer mir vil zu schwere,"
Sprach sich das Frewlein fein,
"Des hab dir hyn mein eere,
Ich meld dich nymmer mere
Ynd auch der knabe mein."
6. Der Wechter sprach mit sitte
Wol zu dem frewlein her:
'0 weyb, das thu ich nitte,
Es rewet mich dein eer.
Ich hab geschworen feste
Meinem herren ein ayd.
Ließ ich ein frembde geste,
Mau legt mirs nit zum beste,
Ich brecht mich selbs in layd.'
11. Sie schlichen durch das Teffer,
Das in der Bürge was,
Keins that das ander effren.
Der jüngling mercket das,
Er hört die schlüssel rüren,
Er neyget sich zum sprung.
Das thor gieng auff gar schiere,
Das frewlein mit begierc
Vmbfieng den knaben jung:
7. "0 wechter, du vil frummer,
Dein red mir nahet gat.
Es sol nit weyter kummen;
Der knab so nahet stat,
Hat sich heran geschmogen
Wol an der bürge thor.
Die brück ist auffgezogen:
Schleuß auff der bürge bogen!
Der knab steet gleich daruor."
12. "Nun biß mir Got wilkummen,
Meins hertzen ein zuuersicht!
Ker dich zu mir herumbe,
Laß mich ansehen dich
Nach allem meinem willen!
Mein hertz hat dein begerdt.
Trit leyß vnnd darzu stille,
So thu ich deinen wille;
Groß freüd bistu gewerdt."
4,3 verklüegen = beschönigen, bemänteln — 5,3 ungevelle = Unglück —
8,3 sich mäzen = sich enthalten, verzichten auf — 10,2 gewerdt = eurer Bitte
gewährt — 11, i Täl'er, Getäfer = Holzverschlag, bedeckter Gang — 11,3 avern,
äfern = wiederholen, tadeln.
TN
Bolte:
13. 'Wechter, ich hab gewannen.
Nun beschleuß nach deinem list!
Vetzundt scheint mir die Sunnen,
Wiewol es finster ist.'
Sie giugen vber den gange,
Der Wechter schleych hynnach:
'Nun schlaffet nit zu lange
Vnd mercket auff mein gesange!
Gern tag ich das anfach.'
14. Das frewlein sprach mit freüde:
"Wechter, auff dich ich baw.
Du wachst heynt auff vns beyde,
Als wol ich dir vertraw."
Damit schied sie so drate
Wol von dem wechter gar
Schnell hin zu jr Kemenate,
Bald zug sie ab ir wate,
Da stund ein betlein klar.
15. Darein thet er sie schwingen,
Als seiner manheyt zam.
Das Frewlein was geringe,
Es bat jn auch voran:
''Last vns die rechten masse
Auch halten, als man soll"
Kein freüd wardt auß gelassen,
Er barg sich inn jr schösse,
Ir hertz was freüden vol.
l(j. Ir arm thet sie außstrecken,
Den knaben sie darein schloß,
Sie thet jn warm zu decken,
Ir beder freüd was groß.
Sie nam jn bey der mitte,
Sie drückt jn an jr brüst.
Keins west des andern sitte,
Kein freündtschafft blib vermitte,
Das da mocht bringen lust.
17. Das frewlein hat sich gflochte
Wol zu dem knaben schon,
Das er mit fug nit mochte
Kein frembds beginnen thon.
Daran was sie gar weyse,
Sie hielt jn in der wag.
Was ließ sie jm zu reyse?
Vil manchen kuß so leyse;
Mer freüd geschach nie da.
18. Do lagens bey einander,
Die weyl was jn nit lang,
Ein kuß gieng vmb den ander,
Biß das der tag her drang.
Der Wechter hub an zu singen,
Als er jn vor verhieß:
'Knab, thu von dannen springen!
Die Lerch die thut sich auff schwingen,
Sie meld den tag so süß.
19. 'Ich sich den stern her glasten,
Der deutet vns den tag.
Ir solt nit lenger rasten:
Die vögel singen on zag.
Die troschel schreyt mit schalle,
Die amschel auch darbey,
Laut rüfft fraw nachtigalle,
Die andern vögel alle,
Als vil vnd jr da sein.
20. Laut schrey das Frewlein sere
In hübschigklicher eyl:
"Wie mags sein ymmer mere!
Es ist eine kleine weyl,
Das ich herein bin kummen,
Kein schlaff hat mich geheyst."
Ir haubt neygt sie hinumbe
Wol zu dem wechter frumbe:
"Wechter, dein frümbkeyt leyst!"
21. 'Die nacht hat sich gewendet,
Der tag herein da schleycht,
Er dringt von Oriente,
Das gestirn hat er durchleucht,
Die morgen röt her gleste,
Drey stern steen gern tag.
Wol auff, [ir] lieben geste!
Es ist yetzt [zeit] auff beste,
Mit trewen ich das sag.'
22. Der knab sprach vnuerborgen:
"So thu auff, wechter fein!
Darumb darffstu nit sorgen,
Geschieden muß es sein."
Auff sprang er doch geringe,
Thet einen laden auff,
Der tag thet einher dringen:
"Schaw an, lieb, dise ding[e],
Halt mich nicht lenger auff!"
23. Das frewlein sprach mit layde
Wol zu dem knaben fein:
'So reych mir her mein klayde!
Gescheyden muß es sein.'
ll,s
= Drossel
Wät Gewand — lö, 3 geringe = schwach, sanft — 19,5 Troschel
geheischt? — 22,5 geringe = behend.
20,c geheist
Kleine Mitteilungen.
79
Darein schluff sie gar schnelle,
Der knab was auff der fart,
Do trat sie auß der zelle,
Der tag der schyn gar helle.
Der wechter betrübet war[d].
24. Das frewlein sprach mit weynen:
"Got bleyt dich auß der Vest!
Hab ich dir etwas günnet,
Das schreyb mir alles zum best!
Ich thu mich gantz erzeygen,
Was ich im hertzen trag."
Der knab der thet sich neygen,
Er sprach: 'Du bist mein eygen.
Got behüt dich all mein tag!'
25. Der knab wardt außgelassen
Wol von dem wechter gut,
Er traff die rechten Strassen:
Tar hin, du edles blut,
Vnd laß es bey dir bleybe!
Ich hab dir gut gethau,
Ich vnd das schöne weybe;
Thus in dein hertze schreybe!'
Er sprach: "Kein sorge han!"
26. Do sprang der selbig knabe
Gleich als ein hirsch so stoltz
Durch manchen tiefen graben,
Er sang wol inn das holtz.
Do kam ich dar geritten
Gar heymlich vnd gar leyß,
Er saget diß geschichte:
Do hub ich an zu dichte
Hie dise tageweyß.
Frölich so wil ich singen, | mit lust ein tageweyß. | O I 4 Bl. o. 0. und J. (1. Hälfte
des 16. Jahrh.). — Berlin Yd 8492: ein andrer Druck nach Erk-Böhme, Liederhort 2, 81
in Danzig.
Von dem dichterischen Schwünge der bei Erk-Böhme, Liederhort Nr. 797
bis 812 gesammelten Tagelieder1) hat dies meistersängerliche Elaborat wenig;
trotz aller lüsternen realistischen Ausmalung des nächtlichen Liebesabenteuers
macht es doch einen teils trockenen, teils schwülstigen Eindruck. Dass es gleich-
wohl gegen Ende des 15. Jahrh. beliebt war, bezeugen zwei Marienlieder mit
gleichem Eingange und Bau: 'Gotlich so wil ich singen mit lust ain tagewayß'
(Kehrein, Kirchenlieder 1853 S. 195) und 'Frölich so will ich singen mit lust ein
tage weis' (Wackernagel, Kirchenlied 2, 1032 nr. 1264. Bäumker, Das kath. Kirchen-
lied 2, 104. Böhme, Liederbuch Nr. 602) und Konrad Burers Lied von Marias
Fürbitte 'Mit lust so woll wir singen und freud ein tageweiß' (Wackernagel 2, 839
Nr. 1053). Von dieser neunzeiligen Tageweise aber, deren Melodie auch für
historische Lieder v. J. 1536 und 1552 (v. Liliencron Nr. 463. 605) benutzt ward,
ist zu unterscheiden die siebenzeilige: 'Könnt ich von herzen singen ein
hübsche tageweis', eine Bearbeitung der antiken Fabel von Pyramus und Thisbe
(Böhme Nr. 20. Erk-Böhme Nr. 87. Kopp, Lieder der Heidelberger Hs. 343
Nr. 55. Hennig, Die geistliche Kontrafaktur 1909 S. 205 f. Schaer, Die Pyramus-
Thisbe-Sage 1909 S. 23).
39. Eine traurige Geschichte von einem Knaben und einem Maidlein, die sich aus Liebe
selbst umbrachten.
1. Es war in einem Dorfe
Ein' wunderschöne Magd:
Um sie sich da bewarbe
(Feins Lieb, nimm's wohl in Acht!)
Ein reicher Bauernsohn :,:
Den liebte sie von Herzen
Als ihre Ehrenkron'.
2. Das Dorf [lag] an dem Walde,
Dariun es Eichen gab:
Das Maidlein sollt sich rüsten
Den Sonntag Nachmittag:
„Den Sonntag Nachmittag :,:
Da will ich deiner warten;
Komm zu mir, wie ich sag!"
21, 2 beleiten —
1) Vgl. über die
Jena 1895).
geleiten,
ganze Gattung G. Schläger, Studien über das Tagelied (Diss.
80
Bolte:
3. Das Maidlein thät sich rüsten
Und lief der Eichen zu:
Der Teufel war so listig
Und ließ ihr keine Ruh.
Als sie kam in den Wald :,:
Da kam ein Wolf geschlichen,
Die Jungfrau sah ihn bald.
4 Was trug er in dem Munde?
Ein wülles Lümplein roth;
Das Maidlein schrie zur Stunde:
„.0 weh! mein Schatz ist todt."
Zog aus ihr Messer bald :,:
Und schnitt ihr ab die Gurgel
Und blieb todt in dem Wald.
5. Der Junggesell thät laufen
Den Wald wohl hin, wohl her;
Sein'n Schatz könnt er nicht finden,
Drum ward ihm 's Herz so schwer.
Wollt wieder heim nach Haus :,:
Was fand er an dem Wege?
Sein'n Schatz mit grüstem Graus.
6. Er schlug die Hand' zusammen
Und schrie: „Ach liebster Schatz!
Must du dein Leben lassen
Allhier auf diesem Platz?
Bin ich Ursächer dran :,:
So will ich auch mein Leben
Bey dir, mein Schatz, jetzt lahn.
7. „Gute Nacht will ich euch geben,
Ihr lieben Eltern mein:
Von hinnen will ich schweben
Zu meinem Schätzelein.
Weiß wohl, es bringt euch Leid :,:
Hoff aber, werd euch sehen
Dort in der Ewigkeit."
Ausbund schöner weltlicher Lieder für Bauers- und Handwerksleute; ferner allerhand
lustiger Liebeshistorien und kläglicher Mordgeschichteu in säubern Reimen verfaßt und
von neuem ans Licht gestellt durch Hans Liederhold, Bänkelsängern. Erstes Bündel.
Reuttlingen, gedrukt mit. Fischer- und Lorenzischen Schritten [um 1790]. Nro. 2, das
Dritte. (Berlin Yd 5142).
Als Probe der absichtlichen Plattheit dieser Sammlung, mit der sieb der ge-
bildete Bänkelsänger Hans Liederhold dem gemeinen Mann verständlich zu machen
sucht, stelle ich eine bisher übersehene Bearbeitung der Pyramus und Thisbe-
Sage zur Schau. Vgl. über diesen Stoff Erk- Böhme, Liederhort Nr. 86 — 88;
Wickrams Werke 8, 288 — 293; Schaer, Die dramatischen Bearbeitungen der
Pyramus-Thisbe-Sage 1909. Dazu noch ein Meisterlied 'Es hat Boccatius be-
schriben schon' in der Blüeweis M. Lorentz 154K (Weimar Hs. Fol. 419, Bl. 132a),
ein andres 'Thysbe die sybent fraue' im schlechten langen Thon (ebd. BI. 365a),
ein drittes von H. Sachs 1556, 7. Okt. (Keller-Goetze 25, 509 nr. 4999 = Wickram
8, 288), eine Münchner Aufführung 1779 (Oberbayr. Archiv 51, 517), ein Bild von
1526 bei J. Luther, Titeleinfassungen der Reformationszeit 1909 Taf. 28; Prosa-
fassungen aus dem Volksmunde bei Panzer, Beitrag zur dtsch. Mythologie 2, 238
(1855), Pröhle, Deutsche Sagen 1863 Nr. 64 und Bartsch, Sagen aus Mecklenburg
1, 324 Nr. 436 (1879). Auch in der mecklenburgischen Sage ist wie in unserm
Liede ein Wolf oder Eber an die Stelle des ovidischen Löwen getreten.
40. Ein freundtlich Gespräch eines jungen Ehemans vnd eines alten Weibs.
I. Es sprach ein Fraw zu jhrem Manu:
'Wie soll ich mich doch halten,
Wann du nicht änderst wilt hauß han?'
Der Mann sprach: „Laß nun Gott walten!"
3. Die Fraw die sprach: 'Du wüster Wust.
Meinst nit, daß es mich reyhe,
Daß du mir all mein Gut vertäust?'
Der Manu sprach: .,Ey so tliue!"
2. Die Fraw die sprach zu jhrem Mann:
'Kein Weib ist hie so bange,
Daß du mir stets zum Wein wilt gan.'
Der Mann sprach: „Ey so gange!"
4. Zu jhm sprach sie in einer Nacht:
'Mich wundert, waß dich treibe,
Daß d im Wiitshauß bleibst vber Nacht.'
Der Mann sprach: „Ey so bleibe!"
Kleine Mitteilungen. 31
5. Die Fraw sprach: 'Keines wegs Ich förcht, du fallest noch d Stiegen hinab:
glaub ich, Der Mann sprach: „Ey so falle!"
Daß sie ein Mann so fülle.
Bist du dann voll, so knälst du mich.* 11. Die Fraw die sprach: 'Es ist ein
Dex, Mann sprach: „Ey so knülle!1 Schand
Daß man so lang verzeyhet ;
6. Die Fraw die sprach: 'In solchem Den Schulden entlauffst noch auß dem Land/
Zanck Der Mann sprach: „Ei so flühe!"
Du wilt stehts, daß ich schweige:
Am Morgen bistu dann gar kranck.' 12, Die Fraw sprach: 'Kein warnen hilfft
Der Mann sprach: „Ey so seye!" an dir,
Das sag ich dir in trewen,
7. Die Fraw jhm trutzig antwort gab, Es wird dich grewen, glaub du mir.'
Erzürnt in solchen dingen: Der Mann sprach: „Ey so grewe!"
'Du bringst vns zletst an Bettelstab."
Der Mann sprach: „Ey so bringe!" 13. Die Fraw sprach: 'Ich wird von Sinnen
komm.
8. Die Fraw sprach: 'Wann dein Gut Daß ich mein Haar außrauffe:
ist verthan, Du lauffst noch mit dem Schölmen darvon.'
Wer wird dich dann mehr grüssen! Der Mann sprach: „Ey so lauffe!"
Im Land must vmbher bettlen gähn.1
Der Mann sprach: „Ey so müsse!" 14. Die Fraw sprach: 'Ach der grossen
Noth,
9. Die Fraw sprach: 'Ach mein Mann, Hätteu wir nur keine Kinde,
du jrrst, Vnd fund man vns Morgn beyde todt!'
Ich sichs an weiß vnd Berden, Der Mann sprach: „Ey so finde!"
Daß du zu einem Bettler wirst.'
Der Mann sprach: „Ey so werde!" 15. Der ist ein freyer Fisel gwest,
Er hat wol können geigen,
10. Die Fraw sprach: 'Wann ich Kummer Er hat der Frawen als günt:
hab, Drumb hat sie müssen schweigen.
So meinstu stets, ich balge.
Die Bawrsleuthen | Lobgesang, | In welchem vermeldt wird, | was man für Nutz vnd
Frucht | von jhnen habe. | In deß Buchsbaums Melodey zusingen. | Sampt einem Gespräch
eines vertrunckenen | Manns, vnd einer alten Frawen. | Q | Gedruckt zu Augsgurg [!],
bey | Johann Schultes. | 4 Bl. 8° um 1650. (Berlin Yd 7854, 31). — Das erste Lied ist-
abgedruckt bei Bolte, Der Bauer im deutschen Liede 1890 Nr. 2 (Acta germanica 1).
41. Zwei Mädchen spotten über einen tölpischen Freier.
1. Ketgen, mein Mädgen, ach sage mir recht,
Wie gefiel dir nechten der Jungfrawen Knecht,
Der da an deiner Seiten gesessen?
Mich deucht, er hett ein Narren gefressen.
Fa la la di dri dum.
2. 'Ach Jungfraw Ennichen, was wolt jhr mich fragen?
Von jm solt man billich singen vnd sagen;
Er gefiel mir aus der massen wol.
Wenn er nur weer, wie er sein soll.
11,4 1. fliehe? — 15, i Fisel = Kerl; urspr. Penis.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1911. lieft 1.
82
Bolte :
:'». 'Sein Jung der singt, sein Gaul der springt,
Darnach jhni ein ander verdringt.
Sein Sachen schicken sich leiden wol,
Als wenn er den Korb kriegen sol.
4. 'Drumb Jungfraw Ennichen, so bitt ich doch,
Setzt jhn auffs Polster vnd halt jhn hoch!
Denn er ist gar ein zartes Kind,
Seins gleichen man hintern Pfluge tindt.'
."». Ketgen mein Medgen, er wil sein bereit,
Euch zu besuchen allezeit;
Er hats meint halben wol so keck gewagt
Vnd etliche hinter sich her gejagt.
6. 'Ich weis, er sol sein blancken Degen
Allein außziehen von ewert wegen:
Vnd schlug jhn sonst eine ins Angesicht,
Euch zu gefallen weret er sich nicht.'
SV
I.
Ja Ketgen mein Mädgen, das ist war,
In seinem Tantzn da sah ichs klar.
Sein blosse Knie gleich wie Carfunckel
Hetten wol mögen die Sonne verdunckeln.
S. 'Sein Strumpf sind kurtz, sein Haar seind lang,
Vmb jhn ist gar ein grosser gedranck,
Er ist bund wie das Eckern Dauß.
Ihr lieben Leute, lacht mir jhn nicht auß!'
9. Ketgen mein Mädgen, ich darffs bald wagn
Vnd selber mit jhm erbarmung tragen:
In Todt vor jhn wolt gehen ich —
Doch liebes Ketgen, gläubs nur nicht!
10. 'Ach er wird ja ein hübscher Mann,
Ihr solt jhn billich in Ehren hau,
Die Ober Stell solt jhm geben jhr
Beim Handfaß hinter der Stuben Thür.
11. 'Ja Jungfer Ennichen, jhr thut nicht recht,
Das jhr den hübschen Knecht versprecht.
Hett mancher Herr ein solchen Mann,
Er dürfft jhn wol vor einen Narren han.
12. Drumb Ketgen mein Medgen, hör jetzun.l !
Ich hab jhn lieb von hertzen grund,
Ich wil jhn allein vor andern allen
Am liebsten durch den Korb lassen fallen.
13. 'Ach Jungfer Ennichen, jhr solts bleiben lahn
Denn er hat Sammete Hosen an.
Aber wenn jhrs recht nemet war,
Sind sie zurissen gantz vnd gahr.'
11. Ey, Sammete Hosen die stehn wol fein:
Wer weis, ob sie auch sein eigen sein!
Wenn ich mich mit jhm wolt trawen lahn,
Spreche jhn vielleicht einer vmb die Hosen an.
Kleine Mitteilungen.
83
15. Ja Ketgeu mein Mädgen, so hör ich recht,
Daß er sie nicht alle Tage trägt:
Drumb sind sie jhm auch worden zu klein,
Die Matten haben sich gefunden drein.
16. 'Ihr solt aber alleine nicht sehen an
Schöne Kleider, sondern betrachten den Mann.
Er kan vorn Schoß vnd auch vor den Stich,
Was er zusagt, das helt er nicht.
17. 'Ach Jungfraw Ennichen, es mangelt jhm nit,
Geld, Bier vnd Brodt jhm stets gebricht,
Er hat auch gar ein stumpffen Pflug
Vnd darmit zu thun gar genug.
18. 'Vber das ist er in aller Tugent
Erzogen also in seiner Jugent,
Er hat an sich das edle Kleinodt,
Wenn er gleich leugt, so wird er nicht roth.'
19. Ja Ketgen mein Mädgen, du Vnflat, ich dächte schier,
Ich gönte dir jhn lieber als selber mir.
Behalt jhn für dich, den lieben Mann!
Ich mag jhn in der Warheit nicht han. —
•20. Diß Liedlein hab ich zartes Jungfräwlein
Verehret dem Hertzallerliebsten mein.
Er hat mich lieb, vnd ich jhn nicht,
Fürwar es ein Stein erbarmen möcht.
21. Doch sol kein freyer Jüngling schon
Nicht vermeinen, das ich jhm anthue den Hohn.
Denn weil mein Euglein die Welt ansieht,
Verlaß ich die hübschen Kuäblein nicht.
22. Ade, schöns Knäblein, Gott behüte dich,
Ich weiß wol, welchen meine ich.
Hiemit Ade vnd aber Ade,
Diesen nem ich nun noch nimmermehr.
Fa la la di dri dum.
Drey Schöne | Newe Lieder, | Das Erste, Ein schön New | Weinachten Liedt, welches
zuuor nu- | werle in Druck außgangen. Arm vnd | Reich soll frölich sein etc. | D | Be-
lieben Zwey angelangte kurtzwei- | lige Lieder, j Gedruckt zu Erffurt, bey Jacob Sin- | gen,
In diesem 1613. Jahr. | 4 Bl. 8° (Berlin Yd 7853, 16). — Das 2. Lied 'Hort zu jhr jungen
Gesellen fein'ist abgedruckt bei Bolte, Der Bauer im deutschen Liede 1890 Nr. 24, vgl.
oben 19, 72. — Das 3. Lied ist das hier wiedergegebene; im Anfange anklingend, aber
sonst völlig anders ist Nr. 14 im Bergliederbüchlein: 'Kaederle mein Mägdel ich muß
dirs gestehen' (Kopp, Ältere Liedersammlungen 1906 S. 16).
42. Geld, Geld schreyt die Welt.
1. Die Losung ist Geld.
Die Hochbekrönten Printzen,
Die Grandes in Provintzen
Verlangen nur Geld.
Die Leut in Zippel-Peltzen,
Die Bettler auf den Steltzen
Verlangen nur Geld.
2. Die Losung ist Geld.
Die Leute vom studieren,
Die grosse Titel führen,
Verlangen nur Geld.
Die ungelehrt verbleiben
Und so das Ilandwerck treiben,
Verlangen nur Geld.
84
Bolte, Schulz, Chauvin:
8. Die Losung ist Geld.
Die auff dem Predigt-Stuhle,
Im Rath-Hauß, in der Schule
Verlangen nur Geld.
Studenten und Soldaten
Und andre liebe Pathen
Verlangen nur Geld.
4. Die Losung ist Geld.
Das sind die alten Räncke,
Der Gastwirth und der Schencke
Verlangen nur Geld.
Die Pagen und Trabanten,
Voraus die Musicanten
Verlangen nur Geld.
5. Die Losung ist Geld.
Drum welcher bey Patroneu
Gedencket zu gewohnen,
Der schaffe nur Geld.
Und wem das Volck in allen
Sol dienen und gefallen,
Der schaffe nur Geld.
Jungfern- und Junggesellen-Lust (um 1700) Nr. 16 (Berlin Yd 5131). — Über ver-
wandte Dichtungen vgl. Bolte, Zs. f. dtsch. Altertum 48, 53.
Berlin.
Johannes Bolte.
Zum Yolksliede vom Tod zu Basel.
Matthias von Neuenburg erzählt im 25. Kapitel seiner Chronik folgende Anekdote
von Rudolf von Habsburg:
Quaedam fabula de rege. Rex ipse quadam vice transiens pontem
Thuregi cum vidisset stantem ibi quendam senem sanguineum cum canorum mul-
titudine pilorum, dixit ad quendam confabulantem sibi: 'O quot bonos dies in
vita sua peregisse potuit ille canus!' Quod audiens ille dixit suaviter: 'Pallimini,
quia nunquam habui bonum diem.' Quod quasi audiens, rex causam huius
quaesivit ab illo. Qui respondit, se egentem in iuventute vetulam deformem racione
pecuniae recepisse uxorem; cum qua diu vivente iracunda ipsumque prae timore
aliarum mulierum corrodente dixit se vitam miserabilem peregisse. Qua ipso iam
sene facto defuncta, cum illico aliam iuvenem recepisset nee illi in lecto complacere
posset, vitam cum illa rixosa duriorem peregit. De quo rex in risum est provo-
catus. (Böhmer, Fontes rerum Germanicarum 4, ltiö. Übersetzt: Geschicht-
schreiber der d. Vorzeit, 14. Jahrh. Bd. 6, S. 29.)
Die vorstehende Erzählung enthält ein ähnliches Motiv, wie es den Gegen-
stand eines weit verbreiteten Volksliedes bildet, das freilich erst viel später
schriftlich belegt ist. Am nächsten steht wohl die Anekdote der zuerst 1777 bei
Nicolai (Feyner kleyner Almanach 1, Nr. 27 = Erk-Böhme, Liederhort 2, 701
Nr. 914) gedruckten und noch heut in manchen Gegenden unter dem Titel 'Der
Tod von Basel' bekannten Passung mit der Schlußstrophe:
Das junge Weybel, das ich nam,
Das schlug mich alle Tag.
Ach liber Tod von Basel,
Hätt ich mein Alte noch!
Frei bürg i. B.
Marie Schulz.
Hierzu gestatte ich mir die Bemerkung, dass ein direkter Zusammenhang
zwischen der Klage jenes bejahrten Zürichers und der Schlußstrophe des 'schweize-
rischen Liedes' bei Nicolai schwerlich anzunehmen ist. Denn letzteres ist offenbar
eine gekürzte und wirkungsvoll zugespitzte Überarbeitung eines in drei Auf-
Kleine Mitteilungen. 85
Zeichnungen des 16. Jahrh. erhaltenen Liedes 'Do ich mein erstes Weib nam' '),
welches noch nichts von der zweiten Ehe erzählt; erst später, im 17. oder
18. Jahrh., ward die Bestrafung des allzu lebenslustigen Witwers und sein reuiger
Seufzer „Hätf ich mein Alte noch" hinzugefügt2). Noch weiter in der Partei-
nahme für die Alte geht die englische Version 'When I was a young man'3): der
Mann schreitet zum Grabe seiner ersten Frau, öffnet den Sarg, sieht sie lachen
und führt sie mit sich heim. Der Anekdote bei Matthias von Neuenburg Hesse
sich etwa die äsopische Fabel von dem Manne mit zwei Frauen4) zur Seite
stellen; die junge reisst ihm die weissen Haare, die alte die schwarzen aus.
J. Bolte.
Les contes populaires dans le Livre des Rois de Firdausi6).
Si l'on s'attend ä trouver dans le Livre des Rois de Firdausi beaucoup de
contes populaires ou meme seulement beaucoup de traits folkloriques, on se
tromperait grandement. Mais ceux qui connaissent l'auteur n'auront pas cette idee.
Firdausi, ils le savent, est, avant tout, un poete epique, qui ne s'occupe que de
batailles, de negociations, de banquets, de conseils moraux et, au point de vue
romanesque, son imagination est assez sterile. Pour Rustem, il sent bien qu'il lui
faut des aventures; mais il ne trouve a raconter que des lüttes contre un lion,
un dragon, une magicienne, et des divs (I, p. 404) et ces memes elements lui
servent encore une fois, quand il veut rendre Isfendiar interessant (IV, p. 393).
Ailleurs, si Feridoune traverse un Üeuve miraculeusement (I, p. 71), Ke'i Khosrou
en fait autant (II, p. 418). Et rares seraient les ornements romanesques si, outre
quelques histoires traditionnelles (Sohrab II, p. 54; les lions de Bahrain V, p. 435 etc.)
il n'y avait les dragons (I, p. 243 et 409; IV, p. 261 et 400; V, p. 48S; VI,
p. 30) ou un lion, qui n'est qu'un dragon (VII, p. 162); s'il n'y avait les Simourghs
(I, p. 169; IV, p. 408, 493 et 535) ou les amazones (II, p. 73 et VII, p. 196),
dont, d'ailleurs, le role est assez efface.
Qu'on joigne ä cela de rares traits folkloriques et l'on sera au bout: une
expedition dans le ciel ä l'aide d'aigles (II, p. 31); un mur qui se fend (II, p. 441»);
un onagre, qui est un div^ (III, p. 215; cfr. VI, p. 533): uue coupe qui reflechit
le monde (111, p. 274); une histoire ä la Combabos (V, p. 269); un ministre con-
damne ä mort, epargne par le bourreau et rentrant en gräce quand on a besoin
de lui (VI, p. 366).
Apres cela, on ne s'etonnera pas que Firdausi n'ait guere eu recours aux
Contes populaires; il n'en donne que quatre, qu'il accommode d'ailleurs au ton
1) Erk-Böhme 2, 700 Nr. 913 und van Duyse, Het oude nederlandsche Lied 2, 963
nr. 268. Vgl. Gassmann, Volkslied im Luzerner Wiggertal 1906 Nr. <!2. flauffen,
Gottschee 1895 Nr. 117.
2) Zu den bei Erk-Böhnie Nr. 911 angeführten Fassungen vgl. noch oben In, 203
und 326. Firmenich, Germaniens Völkerstimmen :'>, (17. Kohl, Echte Tiroler -Lieder
1899 Nr. 180.
3) Tb. Lyle, Ancient ballads and songs 1*27 p. 151 (Unland, Schriften 1, 257).
4) Fabulae Aesopicae ed. Halm 5<i. Phaedrus 2, 2. Zur Verbreitung vgl. Oesterley
zu Kirchhofs Wendunmut 7, 67 und Crane zu Jacques de Vitry. Exempla 189<> Nr. 201.
Revue des trad. pop. 15, 649.
5) Le Livre des Rois par Abou'lkasim Firdausi traduit et commeul/' par Jules Moni.
Paris, 1876—1878. 7 volumes in 12'.
$6 Chauvin, Gragger:
du poeme et qui, chose digne de remarque, se rencontrent dans des parties voisines
de r<ipuvre: on dirait qu'il y a eu, dans la vie de Firdausi, un moment oü les
contes du peuple ne le laissaient pas indifferent.
Le premier est celui de Kitaboun (IV, p. 238); c'est, evidemment, l'histoire si
connu du Prince et son cheval, sur la quelle on trouvera, dans Cosquin, tous
les renseignements desirables. (Contes populaires de Lorraine I, p. 133 — 154,
No. XII.)
Ailleurs, HomaT expose sur l'eau son fils Darab et un blanchisseur le recueille
(V, p. 15). Faut-il remonter jusqu'ä Mo'i'se? Ne vaut-il pas mieux reconnaitre
ici un episode du conte des Soeurs jalouses? (Bibliographie arabe VII, p. 97,
No. 375.)
Une troisieme histoire, dont le caractere populaire a frappe Mohl (V, p. IV — V)
est celle du ver qui grandit demesurement et dont les pouvoirs surnaturels troublent
le cours des evenements (V, p. 247). Cet animal effrayant n'est pas inconnu
des rabbins. (Revue des etudes juives, XXXIII, p. 239. — Grimin, Hausmärchen 2,
edition (1822), III, p. 114—115 nr. 62; 257—258 (Bruchstücke 2) et 288—289 (Penta-
merone 1, 5). Ce dernier passage donne le cinqueme conte du livre premier du
Pentamerone).
Enfin, le conte de Lembek. Le roi Bahram, apprenant que Lembek vit
joyeusement au jour le jour et aime ä bien recevoir des hotes, s'impose ü lui
tout en lui rendant impossible de gagner sa vie: ce qui n'empeche pas notre
heros de traiter grandement le roi (V, p. 449). Cette taquinerie, narree ä peu-
pres de meme, est aussi la trame du conte arabe de Basini le forgeron.
(Bibliographie arabe V, p. 171, No. 96.)
Liege. Victor Chauvin.
Ludwig Katona zum Gedächtnis.
Die Volkskunde, die vergleichende und die ungarische Literaturgeschichte hat
einen hervorragenden Forscher, die ungarische Gelehrtenwelt eine hochgebildete,
liebenswürdige Gestalt in Ludwig Katona verloren. Verloren, denn er hatte sein
Lebensziel nicht erreichen, nur vorbereiten können. Die Verschwenderin Natur
hat wieder einmal einen Baum zu voller Blüte gebracht und ihn zerstört, bevor
der grössere Teil seiner Früchte reifen konnte.
Ludwig Katona war am 4. Juni 1862 in Viicz geboren. Nachdem er die sechs
Klassen des dortigen Piaristengymnasiums und die zwei letzten in Esztergom
absolviert hatte, studierte er seit 1880 an der Budapester Universität, unterbrach
jedoch 1882 seine Studien, um einen Erzieherposten in der Provinz anzunehmen.
Er Hess sich bald in das katholisch-theologische Seminar zu Väcz aufnehmen,
kehrte aber 1X84 wieder zu seiner früheren Laufbahn nach Budapest zurück.
Das nächste Jahr bezog er die Universität Graz, wo er unter Schuchardts Leitung
ein tüchtiger Romanist wurde. Neben seinen Fachkenntnissen brachte er es in
der deutschen und französischen Sprache zu solcher Vollkommenheit, dass ihm
die ganz ungewöhnliche Ehre zuteil wurde, an einer fremden Universität sub
auspiciis imperatoris den Doktortitel zu erlangen. Seit 1887 wirkte Katona an
der Realschule zu Pecs, kam 1889 an das Gymnasium des II. Bezirks und an
das Franz Josefs- Institut nach Budapest; er wurde 1900 Privatdozent der ver-
gleichenden und 1908 Ordinarius der ungarischen Literaturgeschichte an der
Universität Budapest. Am 3. August 1910 verschied er plötzlich und unerwartet.
Kleine Mitteilungen. 87
'S
Von den drei Forschungsgebieten, die ihn sein ganzes Leben beschäftigten,
fällt die Volkskunde vorwiegend in die erste, die vergleichende Literaturgeschichte
in die zweite und die der mittelalterlichen, besonders der ungarischen Literatur
in die dritte Periode seines Lebens.
Schon seine Dissertation lautete 'Über magyarischen Folklore, zur ver-
gleichenden Literaturgeschichte'. Er, dessen kerniges Ungarisch bewundert
wurde, schrieb schon früh ein elegantes Deutsch. In Pecs verfasste er seine
schöne Abhandlung 'Über die Volksmärchen' und beteiligte sich eifrig an der
Gründung der Ungarischen Ethnographischen Gesellschaft, deren Vizepräsident er
später wurde. In die Wiege legte er ihr eine vorzügliche theoretische Studie:
'Ethnographia, ethnologia, folklore' betitelt. Seine Beiträge in den
'Ethnologischen Mitteilungen aus Ungarn' und in der 'Ethnographia' legten den
Grund zur neuen ungarischen Mythenforschung, für welche damals noch die in
Jacob Grimms Geiste geschriebene Ungarische Mythologie tpolyis massgebend
war. Katona ging in seinen Vorarbeiten den Weg, welchen Hermann Usener und
Elard Hugo Meyer eingeschlagen hatten; die Aufsätze blieben aber leider nur
Vorarbeiten, ebenso wie die grossangelegte Studienreihe über die ungarischen
Märchentypen, und es schmerzte Katona zeitlebens, nicht die Müsse zu ihrer Fort-
setzung und Zusammenfassung gefunden zu haben. Es drängte ihn weiter, und
überhaupt war er mehr eine analytische denn synthetische Natur. Mit seiner
ausserordentlichen Bescheidenheit stellte er sich in den Hintergrund, bis ihn die
Kisfaludy-Gesellschaft zum Mitherausgeber ihrer grossen Sammlung der ungarischen
Volkspoesie erwählte. Ungesehen unterstützten seine Hände, und nur über die
zahlreichen Anmerkungen des einen Märchenbandes gestattete er seinen Namen zu
drucken. Die Volkskunde beschäftigte ihn bis an sein Ende. Ihr galt noch eine
seiner letzten Arbeiten, der Aufsatz über 'Die Volkspoesie im Stoffkreis der
Völkerpsychologie'. Auf diesem Gebiete, wie auf dem der vergleichenden
Literaturgeschichte ist wohl jedermann in Ungarn sein Schüler.
In der vergleichenden Literaturgeschichte war ihm Reinhold Köhler ein lieber
Meister. Oft sprach er von ihm und würdigte Köhlers Lebensarbeit in einem ein-
gehenden Aufsatze. Er war ein ihm verwandter Geist; auch Katona war ein weit
umblickender Gelehrter, ein strenger Philolog, ein Forscher mit klarer und fester
Methode. Bereits seine erste selbständige Abhandlung 'V öl und der Schmied
und seine Verwandten in der arischen Sagenwelt' (1884) zeigte, welchen
Idealen er sich schon früh zuwandte. Seine kritische Ausgabe der ungarischen
Gesta Ptomanorum, denen er mehrere Aufsätze widmete, ist ein Monument
seines Wissens. Seine strenge Akribie tritt auf jedem Blatte in Form von Be-
richtigungen zutage, wie etwa in dem Hinweis auf Unzulänglichkeiten der Oester-
leyschen Ausgabe. Seine deutschen, französischen und lateinischen Aufsätze in
der Pievue des traditions populaires (II), dem Magazin für d. Lit. des In- und
Auslandes (1885—87), den Ethnologischen Mitteil, aus Ungarn (I— III), der Keleti
Szemle (Die Legende von Barlaam und Josaphat in d. ung. Lit. I, 76.
Die Lit. der magyarischen Volksmärchen 1901, 138. 283 ff. Zum Märchen
von der Tiersprache 1901, 4511'.), in den Opuscules de critique historique (1!»04),
der Beilage zur Allg. Zeitung (1900, 30. Mai; 1904, Nr. 225; 1906 Nr. 199) u. a.
besonders in der Zeitschrift und in den Studien für vergleichende Literatur-
geschichte, brachten ihn auch den deutschen Forschern nahe. Ausser vielen
verschiedenen Beiträgen, von denen eine der letzten die feine Studie über 'Die
ungarischer Cymbeline-Märchen und ihre Verwandten' ist, sind seine
theoretischen, namentlich methodologischen Schriften über Liteniturvergleichung,
88 Gragger, Eolte, Storck:
Aufgaben der vergleichenden Literaturgeschichte, Sammlung und Einteilung der
Volksmärchen, über Märchentypen u. a. besonders hervorzuheben.
Mit der Zeit widmete Katona sein vielseitiges Wissen immer intensiver der
Erforschung der mittelalterlichen Literatur. Was er auf diesem Gebiete für die
ungarische Literaturgeschichte tat, zeigt in voller Grösse den Verlust, den dieses
Studium durch sein Hinscheiden erlitt. Eine ganze Reihe von Quellenstudien
haben das Bild der ältesten ungarischen Literatur durch seinen Hinweis auf inter-
nationale Zusammenhänge in neues Licht gestellt. Um nur einige Resultate zu
erwähnen: er entdeckte, dass in der Legende des Sandor Codex eigentlich eine Über-
setzung von Hrotsuithas Dulcitius steckt (das älteste ungarische Drama), dass die
Psalmen des Festetich-Codex eine Übersetzung von Petrarcas Pönitenz- Psalmen sind.
Mit bewunderungswürdiger Kenntnis der mittelalterlichen Legendare und Parabel-
bücher hat Katona die Quellen oder Zusammenhänge der meisten ungarischen Codices,
und besonders die der Legenden des hlg. Franz von Assisi und St. Dominicus
nachgewiesen. Von der grossen Verslegende der hlg. Katharina von Alexandrien
zeigte er, dass sie nicht, wie man annahm, vom bekannten Prediger, Pelbartus
de Temesvär verfasst sein kann, und stellte ihr Verhältnis zu den lateinischen
Varianten klar; eines seiner Hauptwerke galt den Parabeln des Pelbartus.
Aus den mittelalterlichen Studien entstand als ein Werk der liebevollen Hingabe,
die schöne Biographie Petrarcas in dem feinziselierten Stil Katonas. — Schon
begann er das gross angelegte Werk, die parallele Neuausgabe der ungarischen
Sprachdenkmäler mit ihren Quellen und Varianten in Druck zu geben; ihr Aus-
bleiben ist zurzeit einer der unersetzlichsten Verluste, welche die Forschung durch
Katonas Tod erlitt. Zu einer geplanten Zusammenfassung kam es auch in der
Geschichte der Literatur nicht mehr. Katona begann wohl einen Abriss der
ungarischen Literaturgeschichte für die Sammlung Göschen, aber auch davon
wurden nur die ersten schönen Kapitel fertig. Mitten in einer Fülle von be-
gonnenen Arbeiten fiel ihm die Feder aus der Hand.
Nur zwei Jahre war Katona Ordinarius, aber schon als Privatdozent hat er
für die Volkskunde und die vergleichende Literaturgeschichte mit seiner tief-
schauenden psychologischen Methode und feiner ästhetischer Wertung eine
Generation herangezogen, die auf seinen Spuren wohl auch eine Furche in den
Acker ziehen wird. Ein irdisches Weiterleben in liebevollem Andenken aller, die
ihn kannten, die gesicherte Fortentwicklung eines wissenschaftlichen Gebietes
durch seine Wirksamkeit, das schönste was nach einem rast- und hastlosen, weisen
Leben bleiben kann, hat der so früh Verschiedene hinterlassen.
z. Z. Berlin. Robert Gragger.
Eine Gesellschaft für Volkskunde in Chile.
Aus Santiago kommt die erfreuliche Kunde, dass dort vor einem Jahre unter
dem Vorsitze unsres gelehrten Landsmannes Dr. Rudolf Lenz eine Gesellschaft
für chilenische Volkskunde begründet worden ist, welche nicht nur ein Programm,
sondern bereits auch wertvolle wissenschaftliche Veröffentlichungen aufzuweisen
vermag1). Gerade Lenz, der durch seine langjährigen, gründlichen Forschungen
1) Programa de la Sociedad de folklore chileuo, presentado a los miembros actuales i
i'uturos por R. Lenz. Santiago de Chile, Lourdes 1!)09. 24 S. — Revista de la Sociedad
de folklore chileno 1, Heft 3 — 4: R. A. Laval, Oraciones, ensalnios i conjuros del pueblo
chileno comparados con los que se dicen en Espana. Santiago, Cervantes 1910. S. TT bis
-' '-- — J. Vicufia Cifuentes, Mito> j supersticiones recogidos de la tradicion oral.
1. serie: Mitos. .Santiago, Lnprenta univcrsitaria 1910. •"><'> S.
Kleine Mitteilungen. ,S*$
über die chilenische Volkspoesie (Festschrift für Tobler 1895) und Sprache (Zs. f.
roman. Phil. 17, 188) und über die Sprache und Märchen der Araukaner (Anales dc-
la universidad de Chile 18i»5— 97. Araukanische Märchen und Erzähluniren 1896.
Diccionario etimolöjico 1905 — 10) Licht über die Kultur dieses tüchtigen Misch-
volkes verbreitet hat, war vermöge seiner Vertrautheit mit Land und Leuten und
seiner steten Berührung mit der europäischen Wissenschaft der rechte Mann für
diese Stellung. So verdient auch der Arbeitsplan der Gesellschaft, der nicht nur
die poetische und prosaische Volksliteratur, sondern auch Musik, Tanz, bildende
Kunst, Brauch, Glaube und Volkssprache berücksichtigt, volle Zustimmung. Zur
Einführung in die neue Wissenschaft gibt Lenz einen Auszug aus Kaindls "Volks-
kunde' (1903) und eine Anleitung zu phonetischer Wiedergabe der Mundart.
Aus der Zeitschrift der Gesellschaft liegt uns eine Sammlung von gereimten
Gebeten, Segen und Beschwörungen vor, in welcher der Herausgeber R. A. Laval
durch Verweise auf die spanischen Werke von Caballero, Marin, Menendez u. a.
den engen Zusammenhang mit dem Mutterlande betont. Neben den Gebeten an
Jesus, Maria und die Heiligen erscheinen auch Parodien, S. 150 eine hübsche Litanei
der heiratslustigen Mädchen. Zu dem Dialog zwischen Maria und Apollonia
S. 149, der kein Gebet, sondern ein Segen wider Zahnschmerzen ist, verweise ich
auf R. Köhler, Kleinere Schriften •'!, 548. S. 1G8 stehen drei geistliche und eine
weltliche Deutung der heiligen Zahlen 1 — 12, die sich den oben 11, 392 s. 404"
ausführlicher besprochenen Versionen anreihen. — Dominiert hier durchaus der
Einfluss des christlichen Spaniens, so finden wir bei J. Vicuna Cifuentes. der
die chilenischen Sagen von fabelhaften Land- und Seetieren, Drachen, Basilisken,
Gespensterschiffen, Zauberern, Teufeln, Kobolden und Hausgeistern aufzeichnet,
auch einzelne Gestalten des indianischen Volksglaubens: ein fliegendes Menschen-
haupt (Chonchön), einen Wasserhund, Polypen, Schlangen mit araukanischen Namen.
Berlin. Johannes Bolte.
Nachträge zu dem Spruch der Toten au die Lebeuden.
(Oben S. 53-6:'..)
Während der Drucklegung des obigen Aufsatzes sind mir folgende Zusätze
bekannt geworden.
130. Grabsclirift (9. Jh.). Perpendens ex me tua fata: Quod es, fueram iam
Fratres, quod estis, fuimus: quod su- Et tu, quod sum nunc, incipis esse cito,
mus, eritis; mementote nostri. (Ebenda 2. 124.
(.Blätter f. d. bayer. Gymnas. 31, 553.)
133. Epitaph (13. Jh.).
131. Carmina Salisburgensia (9. Jh.). Sum quod eris, quod es ipse i'ui; meta-
Tu quod es ipse fui, tu nunc perpende morphosis ista
viator Humanis rebus subdere colla vetat.
Communem et niecum commiseresce (Paris, Bibl. nat. ms. lat. 15133, f. 39, 2 =
vicem. Haureau, Notices et extraits de quelques
Mon. Germ, hist, Poetae lat. med. mss. latius 1, 285. 1892.)
aevi 2, 640.)
134. Wieck bei Greifswald, Kirch''. Grab-
132. Walahfridus, Carmina (9- Jh.). schrift eines Johannes de Ri . . v.J. L290.
Huc veniens petiturus, oro, subsiste viator, |V]os qui transitis d
»o
Storck, Kopp, Reichhardt, Schnippel:
[Quod sum|us, hoc eritis, fuimus q[uandoque
quod estis.]
(Ei v. Haselberg, Baudenkmäler des R. B.
Stralsund 1881-1902 S. 172. — Vgl. oben
Nr. 138 und (58.)
L35. Santarem, Kirche S. Joiio de Alporäo.
Grabmal eines Malteser Grossmeisters.
Quisquis ades qui morte cadis, perlege,
plora :
Sum quod eris, fueram quod es, pro me,
prec.or, ora.
Soares da Silva, Memorias para a bistoria
de Portugal 2, (520 = J. Leite de Vascon-
eellos, Ensaios ethnogiaphicos 3, 354. —
Vgl. oben Nr. 62 und 75.)
136. Nordhausen, Epitaph.
Sta Viator, audi, dum te alloquor,
Et disce, sed a mortuo:
Nosse me, nosse te.
Non sum quod fui,
Tu eris quod non es.
Tu quod es, ego fui,
<,»uod ego sum, tu eris,
Et quoniam nosti quis fuerim
Cogita, quid futurus ipse sis:
Uterque pulvis, cinis, nihil.
Vixi ut moriturus, ut viverem moriens.
Fac quod tuum est. Abi et vale.
(Kindervater, Nordhausa illustris 1715 S.13.)
137. Thomasin von Zercläre, Der
welsche Gast v. 12 041:
Swer die hohvart schiuhen wil,
der sol daran gedenken vil,
waz er was und waz er si.
er sol ouch gedenken da bi,
waz üz im werden sol.
wil er das gedenken wol.
138. Colmar, Museum (Grabstein von 1606).
Frog nit noch mir, wer ich bin gewesen,
>lenck wer dv bist vnd avch wirst
werden.
! »er edel vnd vest ruodolf von ruost, md. c vj.
Kraus 2, 2 = Mündel, Haussprüche und
Inschriften im Elsass L883 S. (17.)
139. l'ster (Kanton Zürich), Grabschrift
(1625.)
Die vor mir gseyn, der tod gmacht hat,
Wie ich jetzt bin an dieser Statt:
Also du werden wirst zugleich.
Die Seel die lebt im Himmelreich.
(Sutermeister, Schweizerische Haussprüche
1860 S. 63.)
140. Im Politischen Stock-Fisch (Frö-
lichs-Burg 1724 S. 57) bringt ein Edelmann
einer Jungfer aus Paris statt des ge-
wünschten Spiegels einen gemalten Toten-
schädel mit, dessen Inschrift lautet: Fleuch
die Eitelkeit! Was ich bin bereit, Wirst
du mit der Zeit durch die Ewigkeit.
(Köhler 2, 35.)
141. Niederlande, häufige Grabschrift.
Wat gij nu zijt, was ik voor dezen,
Wat ik nu ben, zult gij eens wezen.
(J. van Lennep en J. ter Gouw, Het boek
der opschriften 1869 S. 159.)
142. Belgien, Grabschrift:
Gelyk gy syt was ik voordesen,
Gelyk ik ben suldy haest wesen.
(Ebenda S. 160.)
143. Gent, St. Bavo-Kirche. Grabmal des
Gheeraert van Hoyen (f 1517) und seiner
Frau.
Peyst dat wi waren wat gi nu sijt,
Ende gi sult worden wat wi nu sijn.
(Ebenda S. 160.)
144. Gil Vicente (f 1557,
Pergunta-me quem fui eu,
Attenta bem pera mi,
Porque tal fui conia ti,
E tal has de ser com' eu.
(Gil Vicente, Obras 3, 391.)
145. Portugiesischer Spruch.
Hörnern que vaes passando,
Volta aträs e vem-me ver:
Eu j;i fui o que tu es,
0 que eu sou tu has-de ser.
(Pinto de Carvalho, Historia do fado 1903
p. 107 = J. Leite de Vasconcellos, Ensaios
ethnographicos ■">. 353. 1906.)
146. Portugal, Grabschrift.
O'tu, mortal, que me v§s,
Repara bem como estou:
Kleine Mitteilungen. '.'1
Lö
Eu ja foi o que tu es, ihr diese Zeichen sehet, Brüder, ich war
E tu seras o que e'u sou. wie ihr, und ihr werdet sein wie ich.
(J. Leite de Vasconcellos :;, 355.) (Truhelka, Wissenschaftl. Mitteilungen
aus Bosnien und der Hercegoviua .">, 290.
147. Podubovac bei Prilek (Bosnien). 1807. — Eine ähnliche Inschrift aus
Grabstein mit altbosnischer Inschrift. Radmilovic-Dubrava ebd. 5, 288.)
Hier liegt Zagorac Brajanovic. Brüder, die
Nicht zugänglich waren mir: Het dobbel Kabinet der Christelyke Wysheid (Gent um
174i» uud W. Fairly, Epitaphiana Nr. 14. 290. 326.
Heidelberg. Willy F. Storck.
Zum Liede 'Was braucht man im Dorf."
(Oben 13, 224.)
Das Britische Museum besitzt einen beachtenswerten Einzeldruck des Liedes
'Was braucht man im Dorf: Drey schöne Weltliche Lieder, Das erste. Ein
kurtzweiliges Gespräch zweyer Steyrischen Bauern, welche sich beratschlaget,
was sie in ihrem Dorff brauchen . . . Gedruckt in diesem Jahr. (4 Bl. 8° o. 0. u. J.
11 517 bbb 12.) Das erste. Was braucht mä in unsern Dorff, ein gnädige Herr-
schafft die ist reich, ein Richter der ist gscheid, ein Pfleger der nit gar grob strafft,
und uns fein nicht ums unsere brächt, das braucht mä in unsern Do ho ho orff. 20 Str.
Marburg i. H. Arthur Kopp.
Vom Notfeuer.
(Vgl. oben 8, 307. 9, 66. 11, 216.)
Notfeuer bei Schweineseuchen brannte man in Nordthüringen noch in den
vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ab. Der Stellmachermeister Krug aus
Gudersleben erzählte mir, dass man in seiner Jugend dort bei der Rotlaufseuche
trockenes Tannenholz auf einen Haufen geschichtet habe, der in einem Hohlweg
abgebrannt wurde. Durch den Rauch habe man dann die noch gesunden Schweine
in der Gemeinde getrieben, um sie vor der Seuche zu schützen. Man habe aber
besonders darauf geachtet, dass das Notfeuer nicht durch Herdfeuer, sondern durch
'wildes Feuer' erzeugt wurde. Zu diesem Zwecke habe man in der Schmiede einen
kalten Hufnagel durch unausgesetztes Hämmern warm und zuletzt glühend gemacht.
Mit dem glühend gewordenen Nagel habe man einen Strohwisch entzündet und
unter den Tannenholzstoss geschoben. Die Bearbeitung des Nagels zum glühenden
Zünder habe ich mir hierauf in der Schmiede zu Günzerode vorführen lassen und
an dem brennend rot gewordenen Nagel mir meine Zigarre angezündet. Ich habe
in der von mir durchforschten Literatur über 'wildes Feuer' die Entzündung durch
Quirlen, Reiben, Bohren, Feuerstahl gefunden, nicht aber in der oben erwähnten
Weise durch Glühendmachen eines kalten Nagels.
Rotta bei Kemberg. Rudolf Reichhardt.
Heilkraft der Toteuhand.
Durch ein unliebsames Versehen, das wohl auf mein Augenleiden zurück-
zuführen ist, hat sich oben 20, 398 ein Druckfehler eingeschlichen. Nicht dem
Totenhemd, sondern der Totenhand wurden allerlei Heilkräfte zugeschrieben.
Osterode, Ostpr. Emil Schnippel.
92 Feist, Samter;
Bücheranzeigen.
Georg Wilke, Spiral -Mäander- Keramik und Geiassmalerei. Hellenen
und Thraker. Darstellungen über früh- und vorgeschichtliche Kultur,
Kunst und Völkerentwicklung, herausgegeben von Prof. Dr. Gustaf
Kossinna. 1. Heft. AVürzburg, Curt Kabitzsch (A. Stubers Verlag) 1910.
84 S. gr. 8°. Einzelpreis 4,50 Mk., Subskr.-Preis 3,60 Mk.
Der Verfasser setzt im vorliegenden Heft die Studien fort, die er in mancherlei
Aufsätzen, zuletzt im Jahre 1909 im Archiv für Anthropologie S. 299 ff. (Neolithische
Keramik und Arierproblem) veröffentlicht und auch in einem Vortrag in der
Gesellschaft für Vorgeschichte zu Berlin entwickelt hatte, in der Hauptsache
wird man ihm nicht so leichten Herzens zustimmen können. Er leitet nicht nur,
wie es Carl Schuchardt ebenfalls tut, die schnür- und bandkeramische Ver-
zierungsweise aus der Nachahmung der Korbflechterei her, sondern nimmt den
gleichen Ursprung auch für die Spirale und den Mäander an. um die zum Teil
recht komplizierten Muster, die wir auf prähistorischen Tongefässen finden, zu er-
klären, stellt er seine Verschiebungstheorie auf, nach der die verschiedenen
Spiralmuster, die Voluten usw. durch die gegenseitige Verschiebung zweier Teile
mit sich ergänzenden konzentrischen Halbkreisen oder Winkelmustern zustande
gekommen wären. Ein so ausgetifteltes Verfahren können wir aber bei ruhiger
Überlegung wohl von einem Gelehrten zwischen 1900 und 2000 nach Christus,
nicht aber von den Steinzeitleuten um dieselbe Zeit vor Christus erwarten. Neben
den nordeuropäischen schnurkeramischen Stil und den mitteleuropäischen Spiral-
Mäander-Stil stellt Wilke die südosteuropäische bemalte Keramik. Dagegen wäre
nun nicht viel einzuwenden, obwohl die scharfen Kulturgrenzen zwischen ihnen,
die Wilke sehen will, nicht vorhanden sind. Die Schnurkeramik greift nach
Mitteldeutschland über, und bemalte Gefässe kann man, wenn auch nicht so
kunstvoll ausgeführt, wie die südosteuropäischen, vielfach in Mitteleuropa finden;
ich sah sie z. B. im Prähistorischen Museum in München aus dem Alpenvorland.
Das ist Wilke auch nicht unbekannt. Aber aufs energischste muss ich gegen die
von Wilke bevv eislos vorgenommene Gleichsetzung seiner Dekorationskreise mit
indogermanischen Völkern protestieren. Wo die Indogermanen um 2000 v. Chr.
sassen, weiss kein Mensch mit Sicherheit zu sagen, ausser vielleicht Prof. Kossinna
und seine Anhänger. Aber auch bei diesem haben sie sich im Laufe der Zeit
verschiedene Verpflanzungen gefallen lassen müssen. Im Jahre 1895 waren sie
(nach einem Aufsatze in dieser Zeitschrift) in Ungarn ansässig, 1902 waren sie in
die westbaltischen Länder verzogen und 1908 mussten sich die bedauernswerten
indogermanen wiederum eine teilweise Verpflanzung nach Ungarn (Lengyel) ge-
fallen lassen. Wenn aber Kossinna nur die Nord- und Süd -Indogermanen zu
trennen weiss, kann Wilke uns aufs genaueste sagen, dass im nordischen Megalith-
kreise die Heimat der Germanen, im monochromen Spiral-Mäanderkreis diejenige
der Griechen, Illyriker, Italiker und Kelten, im Kulturkreis der bemalten Keramik
die Urheimat der asiatischen Arier und Thrako-Phrygen war. Letztere bilden mit
dem baltisch-lettischen Formenkreis, der nicht näher definiert wird, die Gruppe
Bücheranzeigen. 93
der Satemvölker, die beiden ersten die der Kentumvölker. Die Armenier ver-
schwinden freilich bei dieser Einteilung ganz in der Versenkung, was sie hoffentlich
mit Gleichmut ertragen werden. Bemerkenswert ist. dass Kossinna zu einer ganz
anderen Einteilung gelangt; nach ihm sind die Schnurkeramiker die Kentumvölker,
die Bandkeramiker die Satemvölker. Um sich nun mit Kossinna einigermassen
zu versöhnen, schlägt Wilke vor, in den Bandkeramikern 'nordindogermanisierte
Satemieute' (arme Bastarde!) zu sehen, wodurch die bemalte Keramik für die
Südindogermanen frei würde. Durch mancherlei übereinstimmende Funde und
die gleiche Bestattungsweise sucht Wilke einen Zusammenhang zwischen der
Kultur der Völker des nördlichen und südöstlichen Europa in ältester Zeit nach-
zuweisen. Diesen Zusammenhang wird man ihm ohne Vorbehalt zugeben können.
Nur wird er wieder in ganz unzulässiger Weise mit dem Indogermanenproblem
verquickt, wobei Wilke von unbewiesenen Prämissen ausgeht. So lesen wir auf
S. 73: „In der ältesten Periode, die wir bis weit in das 4. Jahrtausend zurück ver-
legen müssen, wird Thessalien und Böotien von einer Bevölkerung bewohnt, deren
noch rein geometrische monochrome Keramik der des südlichen Mittel- und Ost-
europas auf das allernächste verwandt ist. Waren die Bewohner dieser Länder
indogermanischer Rasse (woher wissen wir das?), so dürfen wir daher auch den
ältesten Bewohnern Nordgriechenlands die gleiche Herkunft zuschreiben." — Aber
selbst die unbewiesene Voraussetzung zugegeben, wäre die Folgerung noch lange
nicht berechtigt. Kulturprodukte und Sitten wandern von Volk zu Volk und haben
mit der Rasse nicht das mindeste zu tun. Will man z. B. aus dem Vorkommen
von chinesischem Porzellan in Europa, das zuerst importiert und dann nach-
gemacht wurde, schliessen, die Europäer seien mit den Chinesen rasseverwandt?
Vergleichen wir ihre Skelette, ohne die äusseren Merkmale (Hautfarbe, Augen-
stellung usw.) zu berücksichtigen, so würden sich kaum grosse Verschiedenheiten
ergeben. In dieser Lage aber befinden wir uns allen prähistorischen Funden und
Skelettresten gegenüber, deren einstige äusserlichen Merkmale uns ja unbekannt
sind. Bloss auf die Langschädligkeit hin in zwei ganz entfernt liegenden Bezirken
Urverwandtschaft der vorgeschichtlichen Bevölkerung anzunehmen, wie es Kossinna
und seine Anhänger tun, ist wissenschaftlich unhaltbar. Die meisten vorgeschicht-
lichen Kulturen sind eben für uns vorläufig anonyme; ihre Träger können wir
nur dann mit Bestimmtheit namhaft machen, wenn uns historische Nachrichten
über sie erhalten sind oder wenn sie so weit vom Strome des Verkehrs abseits
wohnen, dass auch in fernster Vorzeit eine Völkermischung ausgeschlossen er-
scheinen muss. Aber wie will man auf vieldurchwandertem Boden, zumal im
südöstlichen Europa, mit Sicherheit in einer prähistorischen Epoche ein bestimmtes
Volk nachweisen? Was für ein Unfug wird doch immer noch mit dem rein
sprachlichen Begriff des Indogermanentums von manchen Anthropologen und
Prähistorikern getrieben! Wann wird die Zeit kommen, in der man auch bei
diesen reinlich scheiden wird zwischen sprachlichen und vorgeschichtlichen Tat-
sachen, die sich nicht zusammenbringen lassen?
Berlin. Sigmund Feist.
K. H. E. de Jong, Das antike Mysterienwesen in religionsgeschichtlicher,
ethnologischer und psychologischer Beleuchtung. Leiden, E. J. Brill
1909. X, 362 S. 9 Mk.
De Jong gibt zunächst eine Zusammenstellung unserer Kenntnisse von den
eleusinischen Mysterien wie denen der Isis- und Mithrasmysterien. Er nimmt
— gegen Anrieh — an, dass der Kult der christlichen Kirche vieles aus den
;>4
Samter:
eleusinischen Mysterien entlehnt habe. Gegen Cumont bezweifelt er die grosse
Popularität des Mithrasdienstes, und er hält eine bewusste Entlehnung durch das
Christentum für unwahrscheinlich. Der Isisdienst dagegen stand nach seiner An-
sicht dem Christentum näher und hat grossen Einfluss auf dasselbe geübt, der
Kampf des Christentums mit dem Isisdienst war schwieriger als mit dem Mithras-
dienste oder anderen Kulten.
De J. meint, die bisher gegebenen Erklärungen gewährten keinen genügenden
Aufschluss darüber, wodurch die feste Hoffnung auf ein seliges Jenseits bei den
Mysten erweckt sei; er will zeigen, dass die mystischen Zeremonien einen
magischen Charakter tragen. Um dies zu erweisen, handelt er zunächst von den
magischen Elementen in der ägyptischen Religion. Bei der Erörterung der
magischen Kunststücke der Priester kommt er auf die angeblichen Leistungen
spiritistischer Medien zu sprechen. Er wendet sich dabei gegen A. Lehmann.
Dieser hatte in seinem Buche 'Aberglaube und Zauberer bemerkt, die in Cambridge
erfolgte Entlarvung des Mediums Eusapia Paladino bezeichne einen Wendepunkt,
in der Geschichte des Spiritismus; wenn die Spiritisten bis dahin darauf hinweisen
konnten, dass es doch ein physikalisches Medium gebe, dessen Leistungen die
Forscher trotz aller Sicherheitsmassregeln vor Betrug nicht erklären könnten, so
sei es nach dessen Entlarvung klar, dass es trotz aller derartigen Massregeln für
einen gewandten Taschenspieler doch möglich sei, selbst tüchtige Beobachter eine
Zeitlang zu täuschen, daher hätten alle diese physikalischen Leistungen jedes
wissenschaftliche Interesse verloren. Diesen Äusserungen Lehmanns gegenüber
hält de Jong die Wirklichkeit der spiritistischen Leistungen jenes Mediums noch
nicht für abgetan, da noch nach der Entlarvung Eusapia unter verschärfter Kon-
trolle dieselben Leistungen vollbracht habe. Als Beweis hierfür druckt er den
Rapport der Kommission ab, die nach der Entlarvung Eusapias Leistungen ge-
prüft hat. Diese Darlegung de Jongs erscheint etwas seltsam. Daraus, dass ein
einmal entlarvtes Medium bei seinen Versuchen einmal oder mehrere Male nicht
entlarvt wird, kann man doch keinerlei Schlüsse auf seine Ehrlichkeit ziehen, —
hier um so weniger, als auch die zugunsten Eusapias berichtenden Beobachter
am Schluss des Berichtes sagen, sie hätten das Medium niemals auf frischer Tat
beim Betrüge ertappt, obgleich sie bisweilen verdächtige Bewegungen bemerkt
hätten. Wenn aber auch de Jong es als keineswegs von vornherein unwahr-
scheinlich bezeichnet, dass die alten Priester gleichwie von mechanischen, so auch
von physiologischen, oder sogar psychischen Kräften, welche der Menge unerklär-
lich waren, Kenntnis besassen, so glaubt er doch, dass die 'mediumistischen' Er-
scheinungen zwar zur Erklärung von sporadisch oder doch unregelmässig auf-
tretenden Tatsachen herangezogen werden können, bei den 'Wundern' aber, die
in Ägypten oder anderswo öfters und regelmässig stattfanden, Betrug voraus-
auszusetzen sei.
Zur Vorbereitung magischer Handlungen gehören Reinigungen sowie allerlei
Enthaltsamkeit von Speisen, Getränken und Geschlechtsgenuss, zu ihrer Aus-
führung allerlei Mittel, wie Barfüssigkeit, Bekränzung, Lärmen, rote Farbe,
Zaubersprüche, wofür de Jong umfassende Belege von Natur- und Kulturvölkern
zusammenstellt. De Jong weist darauf hin, dass dieselben Riten wie beim Zauber
uns vielfach auch in den Mysterien begegnen, und kommt zu dem Schluss. die
Identität zwischen Magie und Mysterien rücksichtlich des Zeremoniells und des
Zwecks sei derart, dass ein Unterschied nur insofern obwalte, als diese von
einzelnen, jene von mehreren vollzogen würden. Dieser Schluss scheint mir wenig
zwingend. Zwischen Zauber und religiösem Brauch lässt sich eine feste Grenze
Bücheranzeigen. M;>
überhaupt nicht ziehen. Die besprochenen Riten, die beim Zauber zur Anwendung-
kommen, sind dieselben, mit denen man sich überhaupt an Götter und Dämonen
wendet, daraus folgt keineswegs umgekehrt, dass man alle Fälle, wo diese Riten
im Mysterienkult begegnen, als Magie bezeichnen darf, — wenn man nicht gerade
diesen Begriff so weit fasst, dass er mit Religion identisch wird. — Bei der Be-
sprechung der Nachricht, dass beim Bacchosfeste in Elis sich leere Kessel mit
Wein gefüllt und in Aigai in einem Tage Weinstöcke Trauben zur Reife gebracht
hätten, erörtert er die Ansicht moderner Spiritisten, dass durch magnetische Ein-
wirkung ein forciertes Pflanzenwachstum möglich sei. Er will — mit E. v. Hart-
mann — die Möglichkeit einer Beschleunigung des Pflanzenwuchses nicht von
vornherein geradezu leugnen, meint aber ähnlich wie in dem oben angeführten
Falle — s bei regelmässig wiederkehrenden Pesten sei dergleichen schwerlich an-
zunehmen, abgesehen davon, dass die Notizen über das Traubenwunder bei den
Dionysosweihen mehr auf dichterische Sagenbildung als auf authentische Nach-
richten hindeuteten und sich das 'Wunder' überdies leicht aus der Verzückung
der Festteilnehmer erklären lasse.
Im weiteren Verlauf des Buches behandelt de Jong Satz für Satz die Stelle
des Apulejus (Metam. XI 23) über die Isisweihen und geht auch hierbei wieder
näher auf die geheimen Zeremonien anderer Mysterien ein. Bei dem Satze 'Ich
ging bis zur Grenze des Todes' erinnert er vielleicht mit Recht an die Jünglings-
weihen primitiver Völker, bei denen die Vorstellung herrscht, dass der einzu-
weihende Jüngling stirbt und dann zu neuem Leben erwacht. Zur Erläuterung
erörtert er die Rolle der Ekstase und des Traumes in den Mysterien und ver-
wandten Kulten; er vermutet, dass die Hypnose und die Vision in den Mysterien
und anderen Geheimkulten eine Rolle gespielt hat. Da nun nach de Jongs Auf-
fassung die Suggestion unter den Begriff dessen fällt, was man früher als Magie
zu bezeichnen pflegte, andererseits die Magie sich zum grössten Teile auf Suggestion
zurückführen lässt, so sei damit zugleich näher erklärt, weshalb er die Mysterien
als im wesentlichen für identisch mit der Magie erklärt habe. Im Anschluss
hieran erörtert de Jong ziemlich ausführlich die Frage, ob es tatsächlich Telepathie
gebe. Er kommt dabei zu dem Schlüsse, es sei zwar hinsichtlich der telepathi-
schen Erscheinungen durch die moderne Forschung schon einiges Positives zu-
tage gefördert, die Seltenheit derselben erschwere es aber, ihre Art und Weise näher
zu bestimmen; einstweilen liege kein Grund vor, den Magiern irgendwelcher Zeit
und irgendwelchen Volks die Beherrschung der in Rede stehenden rätselhaften Vor-
gänge zuzuschreiben. Bei der Besprechung der Visionen vom Totenreiche geht
er auf die Frage ein, ob den Jenseitsvisionen objektive Realität zuzusprechen sei.
Er will diese Frage nicht von vornherein gänzlich verneinen, legt aber doch unter
Hinweis auf Swedenborg und die Seherin von Prevorst dar, dass selbst diejenigen
Offenbarungen, denen eine gewisse objektive Realität zugrunde liegen könnte,
bei näherer Betrachtung doch nur wenig Bestimmtes zu bieten vermögen und
daher die Visionen des Totenreiches im grossen ganzen für subjektive Phantasien
zu erklären sind. Die Worte des Mysten bei Apulejus: 'nachdem ich durch alle
Elemente gefahren, kehrte ich wiederum zurück' hatte du Prel damit erklärt, dass
es sich um Wasserprobe, Feuerfestigkeit und ein Erheben in die Luft handle.
Nach ausführlicher Erörterung dieser Dinge, wobei mannigfache Bräuche von
antiken und neueren Völkern angeführt und auch allerlei spiritistische Experimente
und Erklärungen besprochen werden, lehnt de Jong die Erklärung du Preis ab:
er nimmt an, dass, wie manches andere in den Mysterien, auch diese Fahrt durch die
Elemente eine Vision gewesen ist. Wenn schliesslich der Myste bei Apulejus
96 Samter, Meyer:
sagt: 'Vor die unteren und die oberen Götter trat ich hin von Angesicht zu An-
gesicht und betete sie aus nächster Nähe an' und auch in den eleusinischen und
anderen Mysterien wiederholt von 'Erscheinungen' die Rede ist, so haben du
Frei u. a. erklärt, es habe sich hierbei um Vorgänge gehandelt, die den sogenannten
Materialisationen im modernen Spiritismus ähnlich seien. De Jong wirft infolgedessen
die Frage auf. ob solche Materialisationen wirklich vorgekommen sind. Am besten
beglaubigt findet er die Berichte über das schon vorher erwähnte Medium
Eusapia Paladino, auf Grund von dessen Leistung ein gegenüber dem Spiritismus
sehr skeptischer Beobachter den Schluss gezogen habe, man müsse diesen Tat-
sachen gegenüber zugeben, dass man doch auch manche Materialisationen, über
welche von anerkannten Forschern berichtet werde, als echt ansehen dürfe. De J.
findet eine gewisse Gleichartigkeit zwischen dem, was von der heutigen
Materialisation berichtet wird, und der Überlieferung über die 'Erscheinungen' in
den alten Mysterien. Trotzdem erklärt er es für ein höchst verfängliches Wagnis,
die mystischen 'Erscheinungen' schlechthin für 'Materialisationen' zu erklären, da
es sich bei diesen nach den heutigen Beobachtungen um äusserst seltene und
unberechenbare Phänomene handele, sie also bei den Geheimfeiern nicht hätten
periodisch zu bestimmten Daten wiederkehren können. Die von 0. Stoll gegebene
Erklärung der Geistererscheinungen als Suggestionswirkung lehnt er ebenso ab.
wenigstens für diejenigen Mysterien, an denen Hunderte gleichzeitig teilnahmen,
und da ihm auch die Annahme eines Betrugs unbefriedigend erscheint, so muss
er sich hier mit einem non liquet begnügen.
Die ausführliche Inhaltsangabe wird eine genügende Vorstellung von de Jongs
Werk geben. Über seine Hinneigung zu spiritistischen Anschauungen ein Urteil
abzugeben, ist hier nicht am Platze. Zum besseren Verständnis der antiken
Mysterien tragen jedenfalls die von de Jong behandelten spiritistischen Ex-
perimente und Erklärungen nichts bei. Muss also in dieser Hinsicht das Buch
als verfehlt bezeichnet werden, so ist es doch in einer anderen Beziehung von
Wert und verdient studiert zu werden, nämlich wegen des umfassenden Materials
von anderen, namentlich aussereuropäischen Völkern, das de Jong zur Erläuterung
der antiken Mysterienbräuche gesammelt und verwertet hat. Bedauerlich ist es
nur, dass er die Benutzung dieses reichen Materials nicht durch ein Register er-
leichtert hat.
Berlin. Ernst Samter.
Paul Stengel, Opferbräuche der Griechen. Mit 6 Textabbildungen.
Leipzig und Berlin, B. G. Teubner. VI, 238 S. . 6 Mk.
Paul Stengel hat in einer grösseren Zahl von kürzeren und längeren Aufsätzen seit
Jahren - der erste Aufsatz ist 1882 erschienen — wertvolle Beiträge zur Kenntnis
des griechischen Sakralwesens, besonders des Opferrituals, geliefert. Die Arbeiten
sind in verschiedenen Zeitschriften zerstreut und deshalb unbequem zu benutzen,
es ist daher dankenswert, dass St. sich dazu hat bestimmen lassen, eine Samm-
lung der Aufsätze herauszugeben. Er hat dabei alle überarbeitet, die älteren
ganz umgeschrieben. Die Arbeiten, die tief ins Detail der Opferterminologie ein-
dringen, sind zum Teil zur Besprechung in einer nicht-philologischen Zeitschrift
nicht geeignet: ich hebe einige hervor, deren Ergebnisse mir auch für die Volks-
kunde besonders von Interesse erscheinen.
Der Aufsatz 'Die Speiseopfer bei Homer' wendet sich gegen die verbreitete
Ansicht, dass bei den homerischen Griechen jedes Schlachten eines Tieres für
Bücheranzeigen. 97
den Haushalt mit einem Opfer verbunden war: man opferte, abgesehen von den
grossen Festopfern, nur wenn man die Götter um etwas bitten wollte. In der
Untersuchung über die <rrrhlyxyot. (Eingeweide) legt St. dar, dass in homerischer
Zeit den Göttern von diesen nicht geopfert wird, dass man sie vielmehr ganz
verzehrt. Später erhalten zwar die Götter auch von den o-^.try^va. ihren Anteil,
aber es bleiben zwischen der Behandlung und Verwendung des Fleisches und der
<jnka.^iyya. Unterschiede, und der Ritus zeigt noch immer die Erinnerung daran,
dass es mit dem Verzehren der inneren Teile eine besondere Bewandtnis hatte,
dass man in den crn'käyfcv'x, schon ehe man Eingeweideschau übte, eine ge-
heimnisvolle Kraft vermutete. St. bringt dies in Verbindung mit der von
Robertson Smith, Dieterich u. a. aufgestellten Ansicht, dass durch das Verzehren
des Opfers der Gott in den Opfernden eingeht, und mit dem Gedanken, den ein
Schüler Dieterichs, G. Blech, durch Zeugnisse zu erweisen gesucht hat, dass alle
Opferschau den Glauben voraussetze, der Gott selbst sei im Innern des Tieres
zu rinden. Bei Eidopfern nehmen die Schwörenden die rd/jua in die Kand oder
berühren sie mit dem Fusse. Gewöhnlich werden unter rop.ia. Eingeweide oder
Fleischstücke verstanden. St. macht es sehr wahrscheinlich, dass damit die
Hoden ausgewachsener Tiere gemeint sind. Die Genitalien gelten als Sitz des
Lebens; indem der Schwörende sie berührt, wünscht er sich nach Stengels Er-
klärung für den Fall des Meineids den Tod.
Ein anderer Aufsatz behandelt den Kult der Winde. Dieser trägt den Charakter
des cbthonischen Kults. Der Kultus ermöglicht es uns auch hier, alte Vor-
stellungen zu erkennen, die den Menschen, die ihn übten, nicht mehr bewusst
und lebendig waren : die Windgötter wurden gleich den Seelen unter der Erde
wohnend gedacht, in ihrem Kulte zeigen sich die Spuren ihrer Seelennatur.
Den Beinamen des Hades xhvTanwToc, erklärt St. daraus, dass den Toten
Pferde geopfert wurden (vgl. auch das Pferd auf den Heroenreliefs), damit sie
auf ihnen in der wilden Jagd durch die Luft reiten (vgl. hiergegen Samter,
Geburt, Hochzeit und Tod S. 206, 5). Hades selbst nimmt zwar nicht an dem
nächtlichen Schwärm teil, aber wenn das Pferd ein Attribut des Toten war,
konnte ihr Beherrscher allein nicht der Rosse entbehren (eine andere Ansicht
über den xKvroTrwTc; vertritt Malten, Archiv f. Religionswiss. XII, 309). Be-
merkenswert ist es, dass die Griechen nur weisse Pferde geopfert haben. Da
diese Opfertiere zum Reiten für die Toten dienten, stimmt dies, wie Stengel
hervorhebt, aufs beste überein mit den auch bei anderen Völkern verbreiteten
Sagen vom 'weissen Totenpferd'. St. erwähnt, dass in Ostpreussen der Aberglaube
herrscht, in der Nacht, bevor jemand stirbt, zeige sich vor dem Hause ein
Schimmel, und erinnert an die durch Storms Erzählung bekannte Sage vom
Schimmelreiter, der die Sturmfluten an den Nordseedeichen ankündigt (vgl.
oben 20, 79).
Berlin. Ernst Samter.
Robert Vian, Ein Mondwahrsagebuch. Zwei altdeutsche Handschriften
des XIV. und XV. Jahrhunderts. Halle a. S., M. Niemeyer, 1910.
IV, 127 S. 8°.
Einen wertvollen Beitrag zur Kenntnis mittelalterlicher Losbücher gibt uns
die Arbeit von Robert Vian. 'Mondwahrsagebuch' nennt V. diejenige Art der
Zeitscbr. d. Vereins f. Volkskunde. 1911. Heft 1. '
;i,s Meyer, Wrede:
Losbücher, die ihre Wahrsagung vom Stand des Mondes abhängig macht.
Drei verschiedene Überlieferungen desselben Textes standen dem Verf. zur Ver-
fügung: 1. die Hs. der Heidelberger Universitätsbibliothek Cod. Pal. germ. 3
(H), 2. die Hs. der Berliner Kgl. Bibliothek Ms. germ. fol. 563 (b), 3. ein
Hs.-Fragment in der Universitätsbibliothek zu Giessen: 22 Verse ed. E. Schröder
Ztschr. f.d. Alt' 50, 135 ff., Ockstädter Fragment genannt nach der ursprünglichen
Fundstätte (0).
Die Hss. H und b werden genau beschrieben. Die Herkunft beider ist un-
bekannt. Während b einheitlichen Schriftcharakter zeigt, der die Hs. in die
zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts weist, sind in H drei Hände zu scheiden. Die
Schrift des ersten Schreibers, dem der Hauptteil zufällt, ist die Bücherschrift der
Zeit um 1400. denselben Charakter trägt die Hand des zweiten Schreibers,
während die dritte Schriftart viel jünger ist und etwa dem ausgehenden 15. Jahr-
hundert angehört. Nur die Hs. H ist mit Bildern ausgeschmückt, in denen V.
mittelrheinischen Charakter unter böhmischem Einfluss erkennt. 0, dessen
Dialekt Schröder als thüringisch bestimmt hat, ist für die sprachliche Erkenntnis
des Denkmals sehr wichtig, denn die Reime zeigen, dass dieser Dialekt der
Sprache des Dichters am nächsten stand. Die Vergleichung der drei Hss.
untereinander ergibt folgendes Resultat: 0 bietet einen dem Original sehr nahe
stehenden Text, H eine wenig geänderte, b eine ziemlich stark überarbeitete
Redaktion. Eine gegenseitige Abhängigkeit ist nicht vorhanden. Die ein-
gehende lautliche Untersuchung des Dialektes der Schreiber von H führt auf
die Gegend von Heidelberg und Speyer. Die Reimuntersuchung bezeugt den
thüringischen Charakter des Originals wie 0. Die Rekonstruktion der Reime
der Hs. H stimmt mit den Reimen des Fragmentes überein. Der Lautstand von b
hat deutlich bayerisches Gepräge, einige spezifische md. Reime weisen auch hier
auf eine md. Quelle.
Unser Werk gehört, wie erwähnt, zu den Losbüchern, einer fremden, nicht
bodenständigen Gattung von Wahrsagebüchern, die in letzter Linie auf die Araber
zurückgeht. Das Mittel zur Wahrsagung ist bei unserem Werk die Zahl der Tage
nach Neumond. Folgendes Beispiel erläutert das System des Mondbuches.- Will
jemand vom 'richtum' etwas wissen, so gibt Pythagoras die Auskunft: 'ez soll
antworten Daniel*. Daniel sagt, man solle die Stellung des Mondes berücksichtigen.
Der Fragesteller wird dann verschiedene Tage hingehalten, und schliesslich sagt
ihm der Weissager Anan die Seite, auf der er die Antwort findet: 'du solt nit rieh
werden, mit armut mustu ringen of erden'.
Die arabischen Mansionennamen sind ursprünglich Namen für Sterne inner-
halb des Tierkreises; es ist nicht bestimmt zu entscheiden, ob der Schreiber und
Zeichner in H in ihnen noch Sternennamen sieht oder sie für Namen von
arabischen Weissagern hält; doch ist aller Wahrscheinlichkeit nach letzteres der Fall.
Alle Mondstationennamen gehen letzten Endes auf das Altbabylonische zurück,
von hier drangen sie zu den Indern, Chinesen, Arabern, und von diesen kamen
sie durch die Vermittlung der Juden ins Lateinische und von hier in die
einzelnen Landessprachen. Vian gibt eine interessante Liste der ihm erreich-
baren Mansionennamen.
Das Schlusskapitel bietet den Text der Hss. H und b im Paralleldruck.
Berlin. Helene Meyer.
Bücheranzeigen. 99
Joh. Ckrysostonius Schulte, P. Martin von Cochem 1634—1712. Sein
Leben und seine Schriften nach den Quellen dargestellt (= Freiburger
Theologische Studien 1). Freiburg i. B., Herder 1910. XV, 207 S.
8°. 3 Mk.
Die (oben 20, 34!» angezeigte) Untersuchung von H. Stahl über 'Martin von
Cochem und das Leben Christi' hat diese Arbeit angeregt, die dem fruchtbaren
religiösen Volksschriftsteller eine eingehende biographische und besonders eine
zusammenfassende literarhistorische Studie widmet. Bei der Behandlung des
'Leben Christi' stellt sich auch Schulte im Gegensatz zu Wackernell auf den
Standpunkt, dass durch dieses bekannteste und literarisch bedeutendste Werk
Martins von Cochem das religiöse Volkstheater in der nachfolgenden Zeit die
weitestgehende Anregung und Förderung erhalten hat. Schulte weist nachdrück-
lich darauf hin, dass das Verdient, hierauf zuerst aufmerksam gemacht zu haben,
Joh. Jos. Ammann gebührt. (Das Leben Jesu von P. Martinus von Cochem als
Quelle geistlicher Volksschauspiele, in dieser Zs. 3, 208—223. 300— 32!>. Nach
einer Mitteilung Ammanns an Schulte wird dem 'Leben Christi' wegen seiner Be-
deutung als Quelle an verschiedenen Universitäten, bei Seminarübungen u. dgl.
Aufmerksamkeit geschenkt). Die Frage, ob P. Martin auch Kirchenlieddichter
gewesen sei, verneint Schulte, doch spricht er ihm als dem Sammler und Heraus-
geber älterer Kirchenlieder ein gewisses Verdienst zu. In Martins zahlreichen
Andachtsbüchern finden sich einzelne, wieder anderen Schriften entnommene
Gebetübungen angepriesen, die Schulte mit Recht nicht viel höher einschätzen
möchte als jene beim Volke in den Nöten des Lebens so beliebten abergläubischen
Gebetzettel. Im Anschluss an eine Abhandlung Cochems: 'Weis und Manier, mit
den Malefitz-Personen umbzugehen' legt Schulte die prinzipielle Stellung des
Volksschriftstellers zum Hexenwesen und zu den Hexenprozessen dar. Aus einer
Sammlung Martins von allerlei Segens- und Beschwörungsformeln, die einen Ein-
blick in die Segensgebräuche des kath. Deutschland im 17. Jahrh. gewähren, teilt
Schulte einige jetzt nicht mehr gebräuchliche Benediktionen mit. Auch einzelne
abgedruckte Aktenstücke, die P. Martin als kurfürstlich-trierischer Missionär und
Visitator 160!) verfasste, beziehen sich auf Segnungen und Weihungen und ent-
halten sittengeschichtlich interessante Angaben. Bei weitem den grössten Umfang
von allen Schriften des Kapuzinerpaters nehmen die Historien, Exempel- und
Legendensammlungen ein, denen Schulte eine sehr ausführliche literarkritische
Besprechung schenkt. Aus ihr geht die hohe Bedeutung hervor, die dem
P. Martin als Neubearbeiter und Vermittler der Legende für die Zeit nach ihm
zukommt. In Martins Bearbeitungen wurde der Stoff der mittelalterlichen Legenden und
Krbauungsschriften in vielen Fällen wieder Gemeingut des Volkes. Einzelne Legenden
wurden aus den grossen Sammlungen herausgehoben und fanden als 'Volksbücher'
eine grosse Verbreitung. Während die Zeit der Aufklärung von Martins Schriften
nichts mehr wissen wollte oder sie gar mit Spott und Hohn übergoss, nahmer.
sich ihrer die Romantiker wieder an, als erster J. v. Görres. In seinen 'Teutschen
Volksbüchern' von 1307 (246 — 250) wies er mit Nachdruck auf Martin von Cochem
hin, auch später noch einmal. Seitdem hat man begonnen, die Schriften des
Kapuzinerpaters wieder auszugraben und zu würdigen. Ein Register mit Hervor-
hebung auch volkskundlich bedeutsamer Erscheinungen verleiht der sehr brauch-
baren Arbeit Schuhes besonderen Wert.
Köln. A. Wrede.
',(l(l Meyer, Sachs, Anclree:
H. Bertscb, Weltanschauung, Volksssage und Volksgebrauch in ihrem
Zusammenhang untersucht. Dortmund, Ruhfus 11)10. XTI -j- 446 8. 8°.
7,00 Mk.
Der Versuch, eine vergleichende Mythologie im folkloristischen Sinne zu
geben, musste einmal gemacht werden. Schade, dass er auch wieder mit der
ganzen Einseitigkeit des Religionsvergleichers unternommen wurde! Da geht es
zu wie bei den ionischen Naturphilosophen: einer lässt alles aus dem Feuer ent-
stehen, oder aus dem Licht; Bertsch, wie Thaies, aus dem Wasser. Der Wald
steht für die Wasserhölle (S. 77, vgl. 114. 133); der Schatz symbolisiert (was
gelegentlich ja sicher vorkommt) allgemein das Wasser (S. 173); der 'Wassergott
der Höhe' ist Herr des Todes (S. 232); das Sinnbild der Ursau geht in den
Begriff des Urwassers über (S. 34G); 'auch das Bocksymbol entstammt der
Wolkenregion' (S. 358). Wann werden wir aufhören, die Primitiven für lauter
religiöse Monomanen zu halten?
Im übrigen bringt die gut disponierte Sammlung, die nur vielfach veraltete
Quellen oder Handbücher (wie Simrock) benutzt und zu altmodisch überall uralte
Tradition vermutet (Ostereier S. 384), hübsche Bemerkungen, wie über das Primat
der Anschauung vor dem Symbol bei den kosmogonischen Tieren (S. 67), wie denn
der Verf. auch selbst gut sieht (Zweig für Blitz S. 291; Zahn als Donnersymbol
S. 335 f.; das Sägen S. 127). Aber was Bertsch wohlgemut unternahm, kann
doch mit Aussicht auf Erfolg wohl nur ein Meister wie Prazer oder Tyler wagen!
Berlin. Richard M. Meyer.
H. Kretzschmar, Über Volkstümlichkeit in der Musik. Berlin, E. 8. Mittler
& 8ohn 1910. 15 8. 8°. 0,60 Mk.
In dem kleinen Heft ist die treffliche Rede der Allgemeinheit zugänglich
gemacht, die der Direktor der Kgl. Hochschule für Musik am Kaisergeburtstage
in öffentlicher Sitzung der Akademie der Künste gehalten hat. Den Ausgangs-
punkt bildet des Kaisers Anregung zur Pflege volkstümlicher Musik, eine An-
regung, die durch die Herausgabe des sog. Kaiser-Liederbuches für Männerchor
in die Wirklichkeit umgesetzt worden ist. Kretzschmar, der selbst einen hervor-
ragenden Anteil an der Veranstaltung dieser Sammlung hat, weist in seiner Rede
darauf hin, dass von den uns überlieferten ältesten Denkmälern der Tonkunst bis
auf die Gegenwart jede bedeutsame Erscheinung mit ihren Wurzeln in den Boden
volkstümlichen Musikempfindens hineinreicht. Man hat indessen bei dem heutigen
Tiefstand der musikalischen Kultur den Begriff der Volkstümlichkeit viel zu eng
gefasst. Es kommt nicht etwa darauf an, alle Ideale und Ausdrucksmittel der
höheren Kunst auszuschalten; es lässt sich beweisen, „dass eine Volkstümlichkeit,
die das Band mit der Kunst löst oder zu weit lockert, unfruchtbar und gefährlich
ist". Die Gleichung der Faktoren 'höchste Kunst' und 'stärkste Volkstümlichkeit'
ist nicht in erster Linie vom schaffenden Musiker zu realisieren; "denn erste
Lebensbedingung der Kunst ist die Freiheit'. Vielmehr liegt sie in der Hand
aller derjenigen, denen die musikalische Erziehung des Volkes und damit die
Hebung der musikalischen Gesamtkultur obliegt. Wenn im IG. Jahrh. in den
Dörfern die schwierigen Chöre Lassos und Senfls gesungen werden konnten,
Bücheranzeigen. — Notizen. 101
wenn heute in Wales die Bergleute Kanons, die italienischen Strassensänger
fugierte und dramatische Chöre ausführen, wenn die böhmischen Glasbläser
Beethovensche Sinfonien spielen können, so erbringen sie den Beweis dafür, dass
es nicht gilt, der Kunst das Wachstum zu beschneiden, sondern die Allgemeinheit
mit ihr wachsen zu lassen.
Berlin. Curt Sachs.
Franz Fuhse, Beiträge zur Braunschweiger Volkskunde. Mit Abbildungen
aus den Sammlungen des Städtischen Museums. Braunschweig, Julius
Krampe 1911. 28 S. und 9 Tafeln. 2 Mk.
Einen neuen, sehr mühsamen, aber recht fruchtbaren Weg in der Stoff-
beschaffung für die deutsche Volkskunde hat der Direktor des Städtischen
Museums in Braunschweig, Dr. Franz Fuhse, beschritten. Er hat die 'Braun-
schweigischen Anzeigen', die seit dem Jahre 1745 erschienen, Nummer für
Nummer verfolgt und hier die Steckbriefe, die amtlichen Nachrichten über Dieb-
stähle auf dem Lande (mit genauer Aufzählung der gestohlenen Sachen), endlich
die Anzeigen der Kaufleute und der fremden Händler, die auf der Braun-
schweiger Messe ausstellten, durchgearbeitet und dadurch ein reiches Quellen-
material für die alten Bauerntrachten und Geräte gewonnen. Da zeigt sich nun,
dass nur noch ein Teil der Stoffe von der bäuerlichen Bevölkerung schon in der
Mitte des LS. Jahrhunderts selbst hergestellt wurde, namentlich Leinenzeug, dass
aber sehr viele Stoffe von auswärts bezogen wurden. Und alle diese Stoffe können
mit Namen, die uns heute verloren sind, und Preisen angeführt werden. An der
Hand seines Quellenmaterials vermag nun Fuhse die Männer- und Frauentracht,
den Schmuck und das Hausgerät viel weiter rückwärts zu verfolgen, als ich
es in meiner 'Braunschweiger Volkskunde' vermochte, an welche sich Fuhses
gründliche Arbeit anschliesst. Neun vortreffliche Tafeln nach den Sammlungen
im Städtischen Museum sind der Abhandlung beigefügt. Die typographische Aus-
stattung ist eine ganz hervorragende.
München. Richard Andree.
Notizen.
Basler Studentensprache, eine Jubiläumsgabc für die Universität Basel, dar-
gebracht vom Deutschen Seminar in Basel. Basel, Georg & Co. 1910. XXX, 52 S. 8°.
1,60 Mk. — Uas Büchlein zerfällt in ein reichhaltiges Wörterbuch und in ein von John
Meier geschriebenes ausführliches 'Vorwort'. Wenn die burschikosen Basler Ausdrücke
enge Verwandtschaft mit den auf deutschen Hochschulen üblichen erkennen lassen, so
erklärt sich das daraus, dass sie seit etwa 1840 von dort mit den studentischen Bräuchen
und Liedern an die schweizerischen Universitäten verpflanzt worden sind. Manche nord-
deutschen Redensarten haben sich freilich eine Übertragung ins Alemannische gefallen
lassen müssen, die heimische Mundart hat manche Kraftausdrücke gespendet, und eigene
Xeuschöpfungen haben sich dazu gesellt. Aus der Einleitung, die über diese Verhältnisse
und die Elemente der Studentensprache überhaupt orientiert, sei die überzeugende Ab-
leitung des Biersalamanders aus dem seit etwa 1820 in Halle üblichen Schnaps-
salamander erwähnt: ursprünglich war Salamander der Name eines im 18. Jh. aus
Amerika eingeführten Likörs, der brennend getrunken wurde.
102 Notizen.
Renward Brandstetter, Wurzel und Wort in den indonesischen Sprachen. Luzern.
Haag 1910. 52 S. 8°. — Wiederum eine ausgezeichnete, auch methodisch höchst lehr-
reiche Arbeit des Luzerner Forschers, der kaum weniger vielseitig, sicherlich aber ein
schärferer Kopf ist als der alte Luzeruer Stadtschreiber Renward Cysat, dem er vor einigen
Jahren eine schöne Monographie gewidmet hat (oben 19, 354). Wir möchten wünschen,
dass auch B.s Vortrag 'Der Sprachbau des Indonesischen, verglichen mit dem des Indo-
germanischen', von dem bisher nur Zeitungsberichte bekannt geworden sind, bald im
Druck erscheint.
A. de Cock, Spreekwoorden en Zegswijzen over de vrouwen, de liefde en het huwelijk
verzameld, taalkundig verklaard en folkloristisch toegelicht. Gent, A. Hoste 1911. X,
;;19 g, — Dies Buch bildet ein Seitenstück zu de Cocks trefflichem Werke über alte
Sitten und Bräuche im vlämischen Sprichwort (vgl. oben IG, 238); er sammelt in 24 Ab-
teilungen die vlämischen Sprichwörter und Redensarten über die Frauen, ihre guten und
schlechten Eigenschaften und ihre verschiedenen Altersstufen und Berufe vom Kind bis
zur Greisin, Begine, Magd, Hebeamme und zeigt uns den treffenden Witz und die oft er-
frischende Derbheit, mit der das Volk dies schier unerschöpfliche Thema behandelt, in
reichen und anschaulichen Beispielen. Viel ist aus mündlicher Mitteilung, noch mehr aus
früheren Werken des 16. bis 19. Jahrhunderts geschöpft, und deutsche, französische u. a.
Parallelen sind in den Erläuterungen verwertet, die in manche andern Gebiete unsrer
Wissenschaft hineinreichen. Häufig ist die alte Formel des Priamels z. B. bei der Klage
über Rauch, schlechtes Dach und übles Weib (S. 57. R. Köhler, Kl. Schriften 2, 127);
S. 137 erscheint das verbreitete Liebeszeichen des angebissenen Apfels (oben 13, 318);
S. 51 die Legende von Evas Erschaffung aus einem Hundsschwanz (s. Dähnhardt. Natur-
sa<*eu 1, 115), S. 54 die von Petrus vertauschten Köpfe des Weibes und des Teufels
(oben 11, 262. 12, 454); S. 65 und 191 die den Teufel überlistende Frau: S. 24 und 267
das französische Witzbild der guten Frau ohne Kopf; S. 63 die auf einen deutschen Bilder-
bogen (oben 15, 40) zurückweisende Verteilung von Pferden oder Eiern an die Ehepaare,
bei denen der Mann oder die Frau das Regiment führt. Der Einfluss der katholischen
Kirche tritt zutage in den Sprichwörtern über die Heiligen Adrian, Anna, Ursula (S. 153.
146. 177. 99), in den freilich nicht immer respektvollen Bemerkungen über altertümliche
Marienstatuen (S. 200), über die Beginen und in dem über Luther erzählten Schwanke
(S. 18). Gewünscht hätten wir nur Kolumnentitel mit Angabe der Abteilungen, da jede
von diesen eine besondere Numerierung der Sprichwörter hat.
R. Dohse, Gefahr im Verzuge! Ein Wort zur Erhaltung des Plattdeutschen (Von
deutscher Sprache und Art 2). Leipziger Verlags- und Kommissions- ßuchhandl. 1911.
K5 S. — Der vortrefflich geschriebene Aufsatz zeigt die missliche Lage, in der sich das
Niederdeutsche zurzeit befindet. Die kurze Geschichte der niederdeutschen Mundart am Anfaüg
hätte Laureinberg nicht ganz übergehen und Klaus Groths Verdienste stärker hervorheben
sollen. Doch ist dem Verf. nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft die Hauptsache.
H. Gerdes, Geschichte des deutschen Bauernstandes. Leipzig, Teubner 1910. 122 S.
mit 21 Abbildungen: geb. 1,25 Mk. (Aus Natur und Geistes weit 320). — Die Schrift be-
handelt hauptsächlich die wirtschaftliche und politische Entwicklung des Bauernstandes,
worauf hier nicht eingegangen werden kann. Doch sei auf das 8. Kapitel verwiesen, das
sich mit dem häuslichen und geselligen Leben der Bauern im Mittelalter und in der
Neuzeit beschäftigt. Bei der Schilderung der Hörigenverhältnisse (S. 20f.) wird einiges
Volkskuudliche beigebracht. Neues wird dabei nicht gegeben, sondern nur aus dem be-
kannten Material eine recht lesbare, stellenweise etwas reichlich elementare Auswahl ge-
troffen. (F. Bac thgen.)
Jeremias Gottheit' und Karl Rudolf Hagenbach. Ihr Briefwechsel aus den Jahren
ls II bis 1853, herausgegeben von Ferdinand Vetter. Basel, C. F. Lendorff 1910. VI,
115 S. gr. 8°. 3 Mk. — In dieser namentlich für den Literarhistoriker wertvollen Brief-
sammlung, die reichlich mit schweizerischen Idiotismen durchsetzt ist, kommt auch allerlei
Volkskundliches zur Sprache. So erkundigt sich Hagenbach 1843 bei Gottheit nach
Weihnachtsgebränehen: im Kanton Zürich und in andern Gegenden der Schweiz rweiss
man nichts vom Christkinde; da regiert allein der Klaus; an andern Orten herrscht das
Notizen. 10H
Neujahr vor. Wie ists also bei Euch?" Darauf antwortet Gotthelf, nachdem sein Freund
offenbar noch einmal auf den Busch geklopft hat: „Du fragst mich nach unsern Weih-
nachtssitten? Dieselben sind unbedeutend. Baum wird keiner gemacht auf dem Lande,
die Geschenke sind unbedeutend, an vielen Orten gibt man gar nichts, an andern körnt
das Neujahrskindlein" usw. Weniger noch als in seinen Büchern scheut sich Gotthelf
natürlich, in seinen Briefen starke Ausdrücke zu gebrauchen. Aber es ist keine eitle
Kraftmeierei, es steckt wirklich ein Kerl dahinter. Als er, obwohl 'gstabelig und alt ge-
worden', unter die Jugendschriftsteller geht und dem Freunde seinen 'Knaben des Teil'
sendet, schreibt er dazu: „Es ist ein Versuch, die Kinder vom Nierizischen Brei zu er-
lösen und an kräftigere Kost zu setzen, ein Versuch, den Nothzüchtigungen der Schweizer-
geschichte zum Fluch unserer Jugend eine Art Spiegel vorzuhalten."
Karl Hoeber, Beiträge zur Kenntnis des Sprachgebrauchs im Volksliede des 14. uud
i:>. Jahrhunderts (Acta Germanica 7, 1) Berlin, Mayer & Müller 1908. 129 S. Su. 4ML -
Der Verfasser legt seiner Arbeit das 'volksmässige Liebeslied' des 14. und 15. Jh. zugrunde,
und zwar wie es ihm die Limburger Chronik, das Lochheimer Liederbuch, Unlands Volks-
lieder, Böhmes Altdeutsches Liederbuch, Georg Forsters frische Teutsche Liedlein. John
Meiers Ausgabe der Bergreihen und andere Sammlungen boten. Obwohl, wie der Verf.
betont, die Volkslieder der herangezogenen Sammlungen 'viele sprachliche und formale
Ungleichheiten aufweisen und nicht eine Einheit wie die Dichtungen eines einzelnen
Autors bilden1, so betrachtet er doch ihre lautlichen Verhältnisse 'nach dem üblichen
Schema", namentlich der Übersichtlichkeit halber. Offenbar misst nun der Verf. dieser im
1. Abschnitt der Untersuchung untergebrachten Lautübersicht im Rahmen der ganzen
Arbeit selbst geringere Bedeutung bei: wenigstens lässt sich das aus der Art des kleineren
Druckes schliessen. Beachtenswert nach der sprachgeschichtlichen Seite sind die Abschnitte
über 'Wortschatz und Wortgebrauclr sowie über den 'Bedeutungswandel'' der Wörter, besonders
da es sich um Volkslieder der Übergangszeit handelt. Als ein Beispiel für den Wandel
in der Bedeutung sei auf die Wortgruppe 'bule, geselle, knabe' hingewiesen. Vier andere
Abschnitte zeigen die Vorliebe des Volksliedes für Diminutiva, ferner die 'Poetische und
stilistische Technik der Volkslieder, ihre 'Beziehungen zum Minnesang" und die 'Spruch-
weisheit in den Volksliedern". Zum Schlüsse unternimmt es H., den Stilcharakter der
Lieder des Lochheimer Buches zu prüfen. Er gelangt dabei zu der Überzeugung, dass
..wir es im Lochheimer Liederbuch nicht mit einer vom Zufall beherrschten Sammlung
zerstreuter Volkslieder zu tun haben, sondern mit Erzeugnissen einer im ganzen einheit-
lichen Anschauung und Stimmung". Ja, er geht noch weiter: er spricht die Lieder d e m -
selben Dichter zu und ist der Ansicht, dass 'eine gewisse Abhängigkeit des Liederbuches
von dem Mönch von Salzburg besteht'. Gegen seine Behauptungen und Beweise lässt
sich meines Erachtens nichts einwenden. Ausser manchen annehmbaren Feststellungen
bietet H.s Arbeit viele Anregungen. Darin beruht nicht zuletzt ihr Wert, da auf diesem
Gebiete der Volksliedforschung noch vieles zu tun bleibt. Den in den genannten Samm-
lungen überlieferten Liedertexten gegenüber hat sich der Verf. zu konservativ verhalten.
Freilich ists eine missliche Sache, eine Aufgabe wie die vorliegende an einem kleinen
Orte, fernab von Bibliothek und Fachgeuossen, lösen zu wollen. (A. Wrede.)
M. Höfler, Gebildbrote der Sommer-Sonnenwendzeit. 16 S. (aus der Zeitschrift für
Österreich. Volkskunde IG).
Aaoyoaqt'a, dshiov r/yc '/•.'/./.>/ vc/S/; XaoygaqDixJjs haigelag '_', zevyos 1—3 (Athen,
Sakellarios 1910. ."»20 S.) — Die unter ihrem trefflichen Herausgeber Politis rüstig fort-
schreitende Zeitschrift enthält: G. Scope litis, Geburtsgebräuche auf Madagaskar:
D. Papageorgios, Fastnachtstänze auf Skyros (mit Abbildungen): S. P. Kyriakides,
Hochzeitsbräuche aus Giumultzina in Thracien; C. G. Pantelides, Akritas-Lieder aus
Cypern, K. D. Soterios, Albanische Lieder (Fortsetzung); Polites, Volkskuudliche
Zeitschriftenschau und ein Vortrag über die Volkskunde Macedoniens: S. Menardos,
Sagen von der h. Helena auf Cypern: A. C. Buturas, Nachträge zu den Monatsnamen:
G. P. Anagnostopulos, Sprichwörter aus Epirus; S. E. Stathes, Rätsel und Rätsel-
märchen aus Epirus, mit Anmerkungen von Polites: 1). Lukopulos, Märchen aus Ätolien;
E. G. Pappamichael, Hochzeitsbräuche auf Kynuria: Kyriakides, Aberglaube aus
104 Notizen.
Thracien: S. Z. Papageorgios, Hochzeitsbräuche der Kutzowlachen; ausserdem viele
kleine Beiträge an Liedern, Rätseln, Sagen, Besegnungen, auch Mitteilungen über
Speisen.
J. Lorrain. Trimazo (L'Austrasie, nouv. serie, Nr. 13, S. 81 — 9<i). — Behandelt einen
Maitanz, den junge Mädchen noch heute in der Gegend von Metz tanzen. Eine Erklärung
des Namens 'Trimazo' gelingt dem Verf. nicht.
Oskar Mann, Die Bachtiaren und ihr Land (Westermanns Monatshefte, Dezember
1910, S. 435—446). — Das von dem ausgezeichneten Kenner Persiens anschaulich be-
schriebene Nomadenvolk der Bachtiaren gehört zu den vier Lurstämmen, die im Süden
Westpersiens und im Osten weit hinein bis ins Innere des Hochlandes hausen. Auch sonst
enthält das schön ausgestattete Heft noch allerlei volkskundlich Interessantes.
A. Schrader, Sammlung neugriechischer Volkslieder übersetzt. Berlin, Dr. F. Leder-
mann 1910. 68 S. 2 Mk. — Die mit feinem Geschmacke getroffene Auslese bewahrt das
Versmass der Originale und umfasst historische Stücke, Charos-, Liebes-, Armatoien- und
verschiedene Lieder; S. 28 die oben 12, 155 erläuterte 'Verratene Liebe', S. 39 die Brücke
von Arta, S. 45 eine Lenorenballade. Freilich, verglichen mit früheren Verdeutschungen
neugriechischer Volkspoesie von Wilh. Müller bis auf Gustav Meyer und H. Lübke, erscheint
uns mancher Vers hart und ungelenk. Dass auch verschiedene Interpunktions- und Druck-
fehler den Genuss erschweren, darf man wohl dem in Athen weilenden Übersetzer (oder
ists eine Übersetzerin?) nicht zur Last legen.
Otto Schrader, Begraben und Verbrennen im Lichte der Religions- und Kultur-
geschichte. Breslau, Marcus 19L0. 31 3. 0,60 Mk. (aus den Mitteilungen der Schlesischen
Gesellschaft für Volkskunde 12, 1). — Unter "Würdigung prähistorischer Funde beweist
Schrader, dass der Tod den ältesten Zeiten als eine Fortführung des irdischen Daseins
mit allen seinen Bedürfnissen, Wünschen und Leidenschaften gilt. Das ursprüngliche
Hockergrab zeigt den Toten auch in der gleichen Stellung und Lage, die er im Leben
in seiner niedrigen Hütte vor der Kulturerscheinung des Hausmobiliars bei allen seinen
Beschäftigungen eingenommen hat. Erst verhältnismässig spät erscheint der Sarg, der in
waldreichen Gegenden an die Stelle des grossen Tongefässes 'Pithos' tritt, in welches in
Griechenland der Tote gezwängt wurde und der auch nur als eine Wohnung des Toten
aufgefasst wurde. Die später auftretende Feuerbestattung bedeutet einen Fortschritt in
der Deutung des Todes: J. Grimm denkt dabei an eine Opferung der Hingeschiedenen an die
Götter; es ist aber doch wahrscheinlicher, dass ihr der Gedanke der Befreiung der Seele aus
den Fesseln des Körpers zugrunde liegt, die so als ein Rauchgebilde schneller zu den Göttern
emporsteigt (ßvfiög, Seele = fumus, Rauch). Jedenfalls haben beide Bestattungsarten lange
friedlich nebeneinander bestanden, während heute, wie Sehr, mit launigem Humor erwähnt,
Verwandte zu Begrabender verabscheuen, mit den Verwandten zu Verbrennender eine
Grabkapelle gemeinsam zu haben. Jacob Grimm hielt noch 1849 die Rückkehr zur Feuer-
bestattung für eine Unmöglichkeit, Sehr, dagegen kann in seiner wertvollen Schrift ein
schnelles Aufleben der neuen Bewegung konstatieren, der heute schon einige zwanzig
Krematorien in Deutschland zur Verfügung stehen. (P. Wald st ein.)
B. G. Teubners Künstler- Steinzeichnungen sind wieder um eine Reihe von neuen
Blättern vermehrt worden, aus denen die Heimatfreude, die Grundtendenz der ganzen
Sammlung, kräftig und unaufdringlich zugleich hervorleuchtet. Wer die alten deutschen
Städte mit ihren schmalen Gassen, hochgiebligen Häusern und traulich stillen Winkeln
liebt, sei auf die schönen Bilder Fr. Beckerts hingewiesen, der gut beobachtete und mit
feinem Takt wiedergegebene Motive aus Nürnberg, Schwäbisch-Hall, Frankfurt a. M. usw.
bietet. Einen vollständigen Katalog der Sammlung mit verkleinerten Reproduktionen von
etwa 170 Blättern verschickt der Verlag B. G. Teubner in Leipzig gegen Einsendung
von 30 Pfennigen.
J. Leite de Vasconcellos, Ensaios ethnographicos, vol. 4. Lisboa, A. M. Teixeira
e O- 1910. XIV, 515 S. kl. 8°. Gleich den oben 14, 358 und 17, 246 erwähnten
früheren Bänden besteht der vorliegende aus zwei Teilen, einem Abdrucke eigner kleiner
Arbeiten zur portugiesischen Volkskunde, die der verdiente Autor in Zeitschriften ver-
öffentlicht hat, und in einer Fortsetzung seiner Übersicht über die volkskundlichen Studien
Notizen. — Entgegnung: W. Schultz. L05
in Portugal bis 1909. Unter jenen befinden sich manche Texte von Sprichwörtern. Gleich-
nissen, Liedern, Rätseln, Märchen und Mitteilungen über Volkssitten: S. 258 begegnet
z. B. eine Variante zu Chaucers Merchant's tale (R. Köhler, Kl. Schriften 2, 5GS). S. 259
der Schwabe mit dem Leberlein (Montanus, Schwankbücher S. 562), S. 263 die jung-
geschmiedete Frau (Köhler 1, 296), S. 272 der Dialog mit dem klugen Knaben (Köhler
1, 151), S. 290 ein Lied auf St. Katharina usw. Noch erfreulicher als diese Einzelbeiträge
wirkt die Ankündigung eines abschliessenden Werkes über die portugiesische Volkskunde,
das der aufs gründlichste vorbereitete Verf. unter der Feder hat.
L. F. Werner, Aus einer vergessenen Ecke, Beiträge zur deutschen Volkskunde.
2. Auflage. Langensalza, H. Beyer & Söhne 1910. VIII, 208 S. 2,80 Mk. - Mit Genug-
tuung begrüssen wir den neuen Abdruck des oben 20, 124 angezeigten Werkes als
ein Zeichen dafür, dass diese köstlichen Schilderungen unverfälschten hessischen Volks-
tums in weiten Kreisen Anerkennung und Liebe gefunden haben. Ein zweiter Teil soll
folgen.
A. Wiederaann, Die Amulette der alten Ägypter. Leipzig, Hinrichs 1910. 32 S.
0,60 Mk. (Der Alte Orient 12, 1). — Anschaulich, doch ohne Literaturangaben schildert W.
den ausgedehnten Gebrauch der für Lebende und Tote gleich wichtigen Amulette im
alten Ägypten, ihre Formen und Bedeutungen sowie die zur Abwehr böser Mächte
verwandten hieroglyphischen Zeichen. Neben dem auch anderwärts als schützendes
Zeichen bekannten Rindsschädel erscheinen z. B. Frosch und Skarabäus, die wegen
ihres vermeintlichen Ursprunges aus Schlamm und Mist als Sinnbilder der Auferstehung
galten.
Entgegnung.
(Vgl. oben 20. 447.)
Meine 'Gesetze der Zahlenverschiebung im Mythos und in mythenhaltiger Über-
lieferung1 (Mitt. d. Anthrop. Ges. in Wien XL, 100-150) fanden auf S. 4471. des
20. Bandes dieser Zeitschrift eine Besprechung, die meines Erachtens dem Inhalte dieser
Arbeit in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht wird.
Das von Röscher bemerkte Konkurrieren der 9 mit der 7 wurde von diesem auf
zahlenkundlichem Gebiete so rerdienten Forscher noch dahin verstanden, dass die 7 älter
sei als die 9. Meine Arbeit hingegen führt den Beweis, dass die 9 älter ist als die 7.
Und zwar habe ich zunächst Roschers eigenen Stoff zugrunde gelegt und
dann erst fernere gleichsinnige Fälle aus allen Weltgegenden beigebracht. Dass nun
meine Arbeit über Röscher hinaus und im Gegensatz zu Röscher einen wesentlichen
Schritt vorwärts tut, ist aber aus jener Notiz leider nicht zu entnehmen, obgleich der
Berichterstatter doch sozusagen verpflichtet gewesen wäre, sich auszusprechen, ob mir
die Widerlegung des Roscherschen Standpunktes gelungen und das durchschnittlich höhere
Alter der 9 gegenüber der 7 zuzugeben sei. Solche Stellungnahme zu den stofflichen
Grundlagen dieses Teiles meiner Arbeit hätte auch anzumerken gehabt, dass derselbe in
Anbetracht seines rein tatsächlichen Inhaltes noch völlig unabhängig ist von der durch
Hüsing und mich vertretenen Theorie, mittels welcher wir jenen Ersatz der 9 durch die
7 und der 3 durch die 12 aus 'Gesetzen der Zahlenverschiebung" erklären.
Irre führt wohl manchen, dass der Berichterstatter sagt, ich habe 'eine der
grammatischen Lautverschiebung entsprechende Zahlenverschiebung' belegen wollen.
Denn ein noch Ununterrichteter wird nur allzu leicht meinen, ich hätte wunder welch
absonderliche Beziehungen zwischen Lauten und Zahlen vor Augen gehabt. Die alsbald
folgende Polemik gegen meinen Standpunkt ist zu kurz und unbestimmt, um diesen
selbst hervortreten zu lassen. Überdies trifft sie nicht zu, da der Berichterstatter wissen
muss, dass auch Lautgesetze Ausnahmen haben und jede Zahlenverschiebung ein ungleich
grösseres und verschiedenartiger gegliedertes Gebiet als je irgend eine Lautverschiebung
106 Entgegnung: R. Eisler.
umfasst, so dass die Zeit, deren sie bedarf, um sich durchzusetzen, eben in verschiedenen
Teilen dieses Gebietes verschieden und im allgemeinen sehr gross ist.
Schwerer als diese Mäugel und Ungenauigkeiten des Gesagten scheint mir der
umfang des Verschwiegenen zu wiegen. Meine Arbeit bespricht bloss S. 100—126, also
nur ihrer Hälfte nach, die Zahlen 3 und ü in ihrer Beziehung zu 12 und 7. Die andere
Hälfte ist der Untersuchung anderer Zahlen gewidmet. S. 127 — 136 wird die 40 in
ihrem Zusammenhange mit der Plejadenrechnung in ebenfalls von Röscher abweichender
und über ihn hinausführender Weise besprochen, S. 138— 145 linden sich mehr als
200 Belege für die 8 in Europa und Ostasien, und es wird versucht, ein 'System der
Acht" und den wahrscheinlichen Ursprung desselben in Elam nachzuweisen — eine Ver-
mutung, die inzwischen durch Entdeckung des elamischen Kalenders von anderer Seite
glänzende Bestätigung erfahren hat.
Völlig ungewürdigt blieb auch in jenen wenigen Zeilen mein mythologischer Stand-
punkt, den ich in bewusstem Gegensatze zu bestimmten Richtungen mit umfassendem
Stoffe belegte und eingehend begründete. Da meine Untersuchung auch in last alle
Einzelfragen der Volkskunde, die auf Mythisches, Märchen, Sagen und Kultisches Bezug
haben, einschlägt, wäre meines Erachtens in der 'Zeitschrift des Vereins für Volks-
kunde' eben auch auf diese allgemeinere Bedeutung der Arbeit wenigstens so weit ein-
zugehen gewesen, dass der Berichterstatter seinen Willen zur Auseinandersetzung und
seine Berechtigung zum Urteile erwiesen hätte.
Dr. Wolfgang Schultz.
Unser Referent verzichtet angesichts seiner diametral entgegengesetzten Anschauungen
auf eine Erwiderung.
Zur Besprechung von Rob. Eisler, Weltenmantel und Himmelszelt.
(Oben 2(), 441.)
Die Dankbarkeit des Verlässers für die freundliche Besprechung seines Buches durch
Herrn Prof. Richard M. Meyer wird nicht vermindert durch den entschuldbaren Wunsch,
folgende Einzelberichtigungen vorbringen zu dürfen. Die S. 442 aus seinem Buch
angeführten polemischen Worte gegen die 'Puritaner der Exaktheit' dürften wohl
etwas anders klingen, wenn bedacht wird, dass es sich um ein Zitat aus einem
Aufsatz von Theodor Gomperz handelt, in dem sich der genannte, gewiss über
den Verdacht methodischer Zügellosigkeit erhabene greise Forscher gegen eine Be-
schränkung der nötigen Hypothesenfreiheit in der Wissenschaft wendet. Sehr wichtig
scheint mir im Interesse einer Sache, die die gründlichste Prüfung verdient, die Fest-
stellung, dass die vom Referenten bedauerten Rechenfehler bei der Rekonstruktion der
Isopsephien in keiner Weise dem Verf. zur Last fallen — der sie ja selbst aufgedeckt
hat — , sondern vielmehr Wolfgang Schultz, dem Entdecker des Systems, der allerdings
dadurch der Anerkennung der Theorie leider sehr geschadet hat. Des Verfassers eigene
Resultate sind mit der Rechenmaschine geprüft und absolut zuverlässig. Die
vielen gerügten Versehen in der Schreibung moderner Eigennamen glaubte der Ver-
lässer durch eine besondere Entschuldigung im Vorwort, die dem Referenten entgangen
zu sein scheint, ohnehin genügend gebüsst zu haben. Mit der Sache haben sie wohl
nichts zu tun.
Dr. Robert Eisler.
Brunner: Protokolle. 10"
Aus den
Sitzungs-Protokollen des Vereins für Volkskunde.
6
Freitag, den 28. Oktober 11)10. Der Vorsitzende, Hr. Geheiinrat Roediger.
beglückwünscht Hrn. Prof. Dr. Bolte, der für seine Arbeiten auf dem Gebiete
der vergleichenden Märchenkunde durch die Leibnizmedaille der Akademie aus-
gezeichnet worden ist. Er teilte ferner mit, dass der Vorsitzende des befreundeten
Vereins der Sammlung für deutsche Volkskunde, Hr. James Simon, von der
Universität Berlin den Ehren-Doktortitel der philosophischen Fakultät erhalten
hat. Der Königl. Sammlung für deutsche Volkskunde ist besonders durch die
Bemühungen des Hrn. Stadtverordneten H. Sökeland eine grosse Sammlung von
Votiven und Weihegaben, besonders aus Bayern und Österreich, als Schenkung
der Frau Professor Marie Andree-Eysn zugegangen: sie ist einzig in ihrer Art
und in zwanzigjähriger Sammelarbeit von der als volkskundlicher Sehriftstellerin
rühm liehst bekannten Geschenkgeberin zusammengestellt worden. Dem Verein
für Salzburger Landeskunde ist zu seinem fünfzigjährigen Jubiläum der Glück-
wunsch des Vereins telegraphisch ausgesprochen worden. Hr. Geheimrat
Friedel macht auf das deutsche Volkstrachtenfest am 22. November aufmerksam,
das der deutsche Schriftstellerinnen-Bund hier veranstaltet. Er legte sodann eine
Anzahl Photographien vor, die das wenig bekannte märkische Dorf Blumberg,
Kr. Niederbarnim, schildern. Hr. Privatdozent Dr. P. Bartels sprach dann
unter Vorführung eines Modells und mehrerer Abbildungen über schweizerische
Mostpressen. Das Modell stellt eine Presse zur Erzeugung von Birnenwein vor.
welche er in Rorschach bei Brunnen in der Schweiz vorfand. Das Original ist
in einer Scheune aufgestellt und von bedeutender Grösse. Es soll vor etwa
50 Jahren nach einem Muster im Kanton Luzern gebaut sein. Es besteht im
wesentlichen aus Holz. Eiserne Pressen sind nicht beliebt wegen des metallischen
Geschmacks, der durch sie dem ausgepressten Saft verliehen wird. Auch färben
sie den Saft durch Oxyd dunkel. Vor der Saftauspressung werden die Birnen
in einem andern Gerät zerquetscht. Der Redner betonte das hohe Interesse.
welches gerade solche ursprünglichen Geräte und Maschinen erregen, die seit
Jahrhunderten sich nicht wesentlich verändert haben und das Walten des primitiven
Menschengeistes neben den Wundem der modernen Technik bis in die neuestt
Zeit hinein beweisen. Hr. Geheimrat Roediger verweist auf ähnliche Geräte.
die Moriz Heyne im 2. Bande seiner 'Deutschen Hausaltertümer' abgebildet und
besprochen hat. Im alemannischen Gebiete ist der von Treten abgeleitete mhd.
Name 'Trotte'' für Mostpressen noch verbreitet. Schon Karl der Grosse verbot
auf seinen Gütern das Austreten des Weines mit den Füssen; aber dieser Brauch
erhielt sich trotzdem im Volke fast bis heute. Der ebenfalls bekannte Ausdruck
Kelter für Weinpresse ist dagegen vom lat. calcatura abgeleitet. Auch das mhd.
Wort 'Torkel' ist vom lat. torculare oder torcula abzuleiten und ist noch als Be-
zeichnung für Mostpressen bekannt. Dagegen sind die aus dem Gothischen ent-
108 Brunner:
nominellen mhd. leite oder lit = gegorenes Getränk ausser Wein, ferner lithüs
= Wirtshaus und litgebe = Schankwirt, leitfa^ = Fass für gegorenes Getränk
jetzt im Volke vergessen. Hr. Dr. Ed. Hahn wies auf eine grosse Torkel ander
Strasse nach Sargans hin sowie auf einen Ortsnamen Kaltenleutgeben in Nieder-
österreich, der wohl mit dem vorher erwähnten lit- oder leitgebe zusammenhänge.
Er erinnerte auch daran, dass man in älterer Zeit verschiedene Volksgetränke aus
mannigfaltigen Substanzen gekocht habe. — Dann hielt Hr. Stadtverordneter
Sökeland einen Vortrag über St. Leonhard, den Eisenheiligen, und die Leonhards-
fahrt zu Tölz. Der hlg. Leonhard, von Sepp der altbayrische Herrgott genannt,
soll im Jahre Ö09 gestorben sein. Er wurde besonders von den Zisterziensern
verehrt. Er ist Schutzpatron der Haustiere (als solcher wird er 1422 zuerst
erwähnt) und hat auch alte Beziehungen zum Eisen. Nach der Legende wurde
die Kette 'Mora' von einem Gefangenen mit Hilfe des hlg. Leonhard gebrochen
und ihm geopfert. In den Mirakelbüchern werden auch oft eiserne Leibgurte
erwähnt, welche von Hilfesuchenden dem hlg. Leonhard 'verlobt' d. h. angelobt
werden. An Stelle dieses Ringes werden aber oft kleine Eisenfiguren mit einem
Ringe um den Leib geopfert. Auch Wachsopfer ersetzten den alten Brauch.
Die dem hlg. Leonhard gewidmeten eisernen Opfertiere wurden früher nur massiv
geschmiedet, werden aber in neuerer Zeit aus Eisenblech einfach ausgeschnitten.
Für die Annahme, dass diese Tieropferform aus der prähistorischen Zeit über-
liefert sei, findet sich kein Beweis. Eigentümlich sind im Kultus des hlg. Leonhard
seine von Ketten umspannten Heiligtümer, von denen Andree etwa 12 nachweist.
Bilder solcher Kirchen in Tölz und Ganacker wurden vorgeführt. Die Ketten
werden, wie Andree annimmt, ursprünglich aus den Hufeisen gebildet worden
sein, welche dem hlg. Leonhard geopfert worden waren. Der Vortragende gab
sodann aus eigener Anschauung eine Schilderung der Tölzer Leonhardifahrt am
6. November 190!». In reichem Schmuck werden die Gefährte um die Kirche
geführt. Mit Wachholderruten werden die Pferde berührt, um ihnen Gesundheit
für das nächste Jahr zu bringen. Rote Tücher und das Dachsfell am Pferde-
kumraet sollen die Tiere vor Unheil beschützen. Das Dachsfell schützt in der
Tat durch seinen scharfen Geruch wenigstens vor Ungeziefer. Aus dem von
alters her üblichen roten Tuch ist oft nur Andeutung der roten Farbe am Riemen-
zeug geworden. Die Opferung der eisernen Tierfiguren in den Leonhardskirchen
findet heute in der Weise statt, dass sie gegen ein kleines Geldopfer vom Messner
geliehen, im Gebet um den Altar getragen und wieder dort niedergestellt werden.
Man leiht sieh gewöhnlich soviel Eisenfiguren, als Vieh im Stalle steht. Ausser
diesen vierfüssigen Figuren kommen auch eiserne Opfervögel selten vor, ferner
landwirtschaftliche Eisengeräte, wie Sensen, Pflugschar usw., die ebenfalls dem
hlg. Leonhard geopfert werden. — Hr. Prof. Dr. Schulze-Veltrup erwähnte
eine Kapelle desselben Heiligen in Graz. Ausser Leonhard kommen als Pferde-
heilige in Deutschland vor: Erhard, Martin, Bartolomäus, Stephan; in Frankreich
■Cornelius, in Spanien Antonius und in Russland noch eine ganze Anzahl anderer
Namen. Hr. Prof. Dr. Bolte wies auf die seit dem IG. Jahrh. bemerkbare Vor-
liebe des Volkes für Leonhard als Vorname hin. Der Kultus der Heiligen Leonhard
•und Martin sei aus Frankreich nach Deutschland eingedrungen. Beide haben hier
verschiedene Verbreitungsgebiete. Hr. Geheimrat Friedel erinnerte sich, dass der
hlg. Kilian in Kissingen als Patron der Schafe gilt und fragte nach der Be-
deutung der massiven Leonhardsbilder, die zum Anheben benutzt werden. Ein
solches Bild werde im National museum in München aufbewahrt. Hr. Sökeland
erklärte sie für grosse Votive, die zum Teil das eigene Gewicht des Opfernden
Protokolle. 10! >
darstellen. Hr. Dr. Bartels wies auf Leonhardifahrten aus der Mainzer Gegend
hin, die neuerdings im 'Globus' beschrieben sind.
Freitag, den 25. November 1910. Der Vorsitzende, Hr. Geheimrat Roediger,
machte davon Mitteilung, dass Hr. Prof. Bolte aus Mangel an Zeit die Redaktion
der Zeitschrift des Vereins niedergelegt habe, die er neun Jahre geführt hat.
An seine Stelle tritt Hr. Dr. Michel. Der Verein ist Hrn. Prof. Bolte für die
langjährige grosse Mühewaltung und Opferfreudigkeit zum herzlichsten Dank ver-
pflichtet, denn das Ansehen, das er geniesst, beruht wesentlich auf der Zeitschrift,
bei deren Leitung Hrn. Prof. Bolte eine ungewöhnlich umfassende Literatur-
kenntnis zustatten kam. Hr. Prof. Bolte teilte mit, dass in San Jago di Chile
eine Gesellschaft für chilenische Volkskunde gegründet worden sei, die auch eine
eigene Zeitschrift herausgebe (s. o. S. 88 f.). Frl. Elisabeth Lemke hielt sodann unter
Vorführung zahlreicher Lichtbilder einen Vortrag über volkstümliche Puppen.
Die Erfindung der Puppe als Spielzeug ist uralt. In Ägypten findet sie sich schon
aus einer Zeit, die 1000 Jahre v. Chr. Geburt liegt. In prähistorischen europäischen
Gräbern kommen Puppen zuweilen vor, wenn auch in äusserst rohen Formen. Aber
diese rohe Form ist an sich kein Merkmal des Alters, weil auch in neuester Zeit
noch hier und da die einfachsten und hässlichsten Puppenformen vorhanden sind, wie
die Puppen mit Kartoffelköpfen und die aus Binsen und Stroh, die von dem Land-
volk mitunter höchst primitiv zusammengestellt werden. Gelenkpuppen finden
sich in Nürnberg im 14. Jahrh. vor. Zahlreich waren die vorgeführten Puppen
aus Italien, wo man sie oft aus Pappe herstellt und auch als Klapper ausbildet.
Blondes Haar ist dort besonders beliebt. Nonnenpuppen werden Kindern geschenkt,
die Nonnen werden sollen. Den kürzesten Lebenslauf haben die häufigen Puppen
zum Essen. Eine der berühmtesten Puppen ist diejenige, welche bei den Auf-
führungen der klassischen Zeit von Weimar gebraucht wurde und Frieda hiess.
Goethe hat ihrer Erwähnung getan und ihr 30 Unsterblichkeit verschafft. Hr.
Dr. Bartels zeigte einige Lichtbilder zur Erläuterung des bekannten und weit
verbreiteten Heilbrauches des Durchziehens oder Abstreifens aus Winkel im
Rheingau. Hier pflegt man zu diesem Zweck einen jungen kräftigen Steinobst-
baum zu spalten, so dass er oben und unten noch zusammenhängt, und kranke
Kinder mittags zwischen 11—12 Uhr dreimal mit dem Kopf voran hindurch-
zuziehen unter Anrufung der heiligen Dreieinigkeit. Das geschieht mehrere Tage
hintereinander. Dann wird der Baum mit einem Verbände versehen. Heilt die
Wunde des Baumes, dann wird auch nach dem Volksglauben das Kind gesund
werden. Namentlich Bruchschäden werden so behandelt, und man findet solche
bandagierten Bäume häufig in der Gegend. Über die Bedeutung des Brauches ist
man verschiedener Ansicht. Die einen fassen ihn als Wiedergeburtsakt, andere
als ein symbolisches Abstreifen von Krankheit und Sünde auf, und eine dritte
Erklärung nimmt eine Wanderung des Leidens in die Baumseele an. Vgl. hierzu
M. Andree-Eysn 'Volkskundliches' S. 9. Schon im römischen Altertum scheint
der Brauch bekannt gewesen zu sein (Marcellus). Hr. Geheimrat Fr i edel be-
zeugte den Brauch aus dem Kr. Ruppin. Namentlich werden Bucklige durch
Spalten gezogen. Auch ist die Hainbuche und Esche zu solchen Kuren beliebt.
Verwandt ist das Verpflöcken von Krankheiten, das er am Krähensee bei Riiders-
dorf, nahe Berlin, beobachtet habe. Hr. Dr. Ed. Hahn erinnerte an den Klabauter-
mann, der die Seele eines Kindes sein soll, das durch einen Baum gezogen wurde,
um Bruchschaden zu heilen. Stirbt das Kind, so fährt die Seele in den Baum
und wird zum Klabautermann, wenn dieser Baum zum Kiel eines Schiffes wird.
In Frankreich gehörten alle Krummhölzer im Walde der französischen Flotte, und.
1]0 Brunner:
nach dem Volksglauben steckt im Krummholze die Seele eines Kindes. Hr.
I>r. Richard Böhme besprach zum Schluss einige literarische Neuigkeiten:
R. Wossidlo 'Aus dem Lande Fritz Reuters', eine Darstellung der Erlebnisse
auf des Verfassers Wanderungen zur Sammlung von Volksüberlieferungen und eine
Nachlese derselben: Wilhelm Busch 'Ut 61er Welt', München 1910, Märchen und
Sagen, bereits um 1850 gesammelt, aber wegen der Grimmschen Publikationen zu
derselben Zeit damals nicht herausgegeben; K. Deicke 'Des Jobsiadendichters
0. A. Kortum Lebensgeschichte', Dortmund 1910.
Freitag, den 16. Dezember 1910. Der Vorsitzende, Hr. Geheimrat Roediger.
widmete dem verstorbenen Mitgliede, Univ.-Prof. Dr. Bernhard Kahle in Heidel-
berg warme Worte des Gedenkens. Die Anwesenden erhoben sich von ihren Plätzen,
um den Heimgegangenen zu ehren. Es wurde dann ein kleines neu erschienenes
Buch des Hrn. Rektor Monke 'Berliner Sagen und Erinnerungen' vorgelegt. Der
Vorsitzende machte auf die in grosser Zahl ausgestellten Arbeiten des Hrn. Maler
Rieh. Edler aufmerksam, welche märkische Landschaften und märkisches Volksleben
aus der Umgegend von Fichtengrund a. d. Nordbahn zum Vorwurf haben. Frl.
Elisabeth Lemke wies in längeren Ausführungen auf die von Frau Christine
Duchrow aus Tempelhof ausgestellten kunstvollen Spitzenstrickereien hin und gab
einen geschichtlichen Rückblick auf die Entwicklung dieser Kunst, die vor etwa
vier Jahrhunderten in Spanien zuerst geübt wurde. Man fertigte dort gestrickte
Beinkleider für die männliche Tracht, und aus diesen entwickelten sich um 1550
die Strümpfe. Die Kunst des 'Strickeisens' wurde bald volkstümlich, und alter-
tümliche Muster werden aus anderen Techniken herübergenommen, umgebildet und
in Musterbändern von Geschlecht zu Geschlecht übertragen. Die in den Städten
seit Jahrzehnten vergessene Spitzenstrickkunst, ausgezeichnet durch grosse Halt-
barkeit ihrer Erzeugnisse, wird von Frau Duchrow jetzt in regelmässigen Kursen ge-
lehrt. Der Unterzeichnete legte dann eine grössere Anzahl neuer Erwerbungen
der Königl. Sammlung für deutsche Volkskunde vor. Unter Bezug-
nahme auf den in der vorigen Sitzung besprochenen volkstümlichen Heilbrauch
des Durchziehens wurde ein von Hrn. von Preen eingesandter Eichenscheit mit
mehreren grossen Bohrlöchern sowie eine Anzahl von Kupfermünzen. Haaren und
Wachspfropfen gezeigt, welche in einem solchen Bohrloche aufgefunden wurden
und so den im Innviertel, Oberösterreich, bezeugten Heilbrauch des Verpflöckens
oder Einkeilens von Krankheiten veranschaulichen können. Ein Bauopfer aus
Berlin wurde sodann vorgelegt, das aus einer ßleimarke mit Namen, Datum 1669
und Maureremblemen sowie einer Rattenmumie bestand. Beides wurde in einem
gemauerten Hohlraum innerhalb des Mauerwerkes im Hause des Hofjuweliers
Teige gefunden. Das Baujahr des Hauses ist auch anderweitig bekannt und
stimmt mit der Angabe der Bleimarke überein. Aus der Sammlung M. Andree-
Eysn stammen vier Wetterkerzen aus Wachs von schwarzer (Altötting) und roter
(Maria Einsiedel) Farbe. Sie werden in Bayern, Salzburg, Tirol usw. bei schwerem
Unwetter, besonders in der Nacht, entzündet zum Schutze von Haus und Hof.
Derselben Sammlung gehören einige Holz-Puppenköpfe an, die von einer 75jährigen
Frau in Südtirol mit einfachem Werkzeug und wenigen Schnitten hergestellt
worden sind und um ein paar Pfennige verkauft wurden. Sie bieten in ihrer
derb naturalistischen Art ein charakteristisches Bild des Volksstammes dar. Das
Friesenmuseum in Wyk auf Föhr hatte zur Vorlage in der Sitzung einige der
früher auf der Insel als Weihnachtsbäume üblichen Holzgerüste in Form eines
Mastes mit Raaen eingesandt. Diese Geräte sind mit Stacheln besetzt, an welchen
zu Sylvester Kuchen, Pflaumen. Nüsse, Rosinen, Zucker usw. angeheftet wurden.
Protokolle. 111
Das ganze Gerüst wurde so ans Fenster gestellt, woher die Hache Form mit zu
erklären ist. Das eine Gerät zeigt durch die hegrenzende Holzleiste ringsherum
deutlich die Form eines betakelten Segelschiffsmastes. Heute ist diese alte Sitte
der Föhringer schon fast vergessen, und man gebraucht den lichtergeschmückten
Tannenbaum wie auf dem Festlande zu Weihnachten. Ein Kirchenleuchter aus
Holz mit eisernem Stachel zum Einstechen in die Kirchenbank und eiserner Licht-
tülle ist der Sammlung durch Hrn. Lehrer Scharnweber aus Luckau zugegangen.
Diese Leuchter brachten sich die Besucher vor dem Jahre 1860 selbst mit in die
Kirche. Eine kleine Sammlung Lausitzer Keramik und Silberschmucksachen aus
Schlesien wird Hrn. Direktor Dr. Minden verdankt. Vorgezeigt wurden daraus
Steingutteller mit aufgedruckten Abbildungen des früheren Papiergeldes aus der
Fabrik Tiefenfurth bei Bunzlau sowie Filigran -Bauernschmuck, der etwas an
niederdeutsche Formen erinnert. Zur Volkstracht der Insel Poel in Mecklenburg
wurden zwei Brusttücher älterer Zeit vorgelegt, von denen ein seidenes noch mit
dem Zollstempel Waren 1790, der Grenze zwischen Mecklenburg und Schweden,
versehen ist. Ferner kamen noch zur Vorlage eine Nachbildung eines zepter-
fürmigen Teidingstabes aus dem Landesarchiv zu Salzburg (Sammlung M. Andree-
Eysn), ein ähnlicher Stab mit Schwurhandendigung und farbiger Bemalung, an-
geblich aus der Schweiz, sowie ein Schafferstab einer mecklenburgischen Zunft.
Schliesslich wurden noch einige aus der Lausitz stammende Drucksachen von
volkstümlichem Interesse vorgelegt, nämlich ein sog. Himmelsbrief, zwei Passions-
darstellungen und mehrere sog. Planeten, das sind Prophezeiungen für Leute, die
unter einem gewissen Sternbilde geboren sind. Hr. Pfarrer Gross in Sacro bei
Forst hat diese jetzt schon seltenen Drucksachen, die in bekannten Neuruppiner
Fabriken angefertigt und besonders von Wenden gekauft wurden, dem Museum
verehrt. In der anschliessenden Besprechung wies Hr. Geheimrat Friedel darauf
hin, dass es für die noch nicht geklärte Frage über Alter und Ursprung des
Weihnachtsbaumes von Wichtigkeit sein dürfte, das Alter der Föhringer Sylvester-
baume genauer festzustellen. In betreff des vorgelegten Berliner Bauopfers er-
innerte er an den südslavischen Gebrauch, in einem Neubau ein Kind über die
Schwelle zu heben und im gleichen Augenblick, wo der Schatten des Kindes
darüber ist, den Schlussstein dort einzumauern. Was die Gebräuche des Ein-
keilens von Krankheiten in Bäume betreffe, so sind seiner Ansicht nach im vor-
liegenden Eichenscheit Bohrgänge wahrscheinlich von Lucanus cervus oder Cerambyx
heros vorhanden, die mittels Nachbohrens von Menschenhand zu dem besprochenen
Zwecke benutzt sind. Hr. Rektor Monke wies auf seine Beobachtungen über
volkstümliche Heilbriiuche in der Mark hin. Vielleicht seien auch die öfter unter
den Fundamenten von Gebäuden vorkommenden Funde von Schweinegerippen
als Bauopfer zu deuten. Hr. Oberrevisor Maurer ist der Ansicht, dass es sich
bei so vergrabenen Tieren nicht notwendig um Bauopfer handele, sondern dass
vielfach vom Volke Haustiere unter der Schwelle des Stalles vergraben worden
seien, von denen man annahm, dass sie durch Behexung zugrunde gegangen. Hr.
Geheimrat Roediger wies mit Bezug auf den vorgelegten Stab mit Schwurhand
auf die alte Wendung hin: 'Den Eid staben", d. h. den Wortlaut des Eides feststellen.
Hr. Dr. Michel sprach dann über die ältesten Berliner Weihnachtsspiele.
Grundlegend für das Studium des Volksschauspieles und des Weihnachtsspieles
sind die Arbeiten von Karl Weinhold. Das spätere mittelalterliche Drama ist das
Handiungsdrama par excellence; alle Vorgänge werden höchst anschaulich aus-
geführt und nicht nur angedeutet, wie es auf der Humanistenbühne der Fall ist.
Diese besteht in der Regel nur aus einem einfachen Podium, an dessen Rückseite
LI -2
Brunner: Protokolle.
sich eine oder mehrere Türen befinden. Für eine solche Bühne ist das älteste
Berliner Weihnachtsspiel um 1540 von Knaust (Chnustinus) geschrieben. Mit
starkem Gefühl für wirksame Stoffe begabt, hat er ein nicht dem Inhalt, wohl
aber der Form nach originelles Spiel den Berlinern dargeboten. Der zweite
Berliner Dramatiker, den wir genauer kennen, Pfund (Pondo), lebte etwa gleich-
zeitig mit Shakespeare. Auch er war vorwiegend für die Humanistenbühne tätig
und hatte wie Knaust Sinn für interessante Stoffe. 158!» wurde am Berliner Hofe
ein Weihnachtsspiel aufgeführt, das im allgemeinen Pondo zugeschrieben wird,
ohne dass die Sache bisher genügend untersucht wäre. Es wird in dem Spiele
auffallend viel musiziert, sicherlich, weil Kurfürst Johann Georg sehr musikliebend
war, worüber man in dem neuen Buch von Curt Sachs 'Musik und Oper am
Kurbrandenburgischen Hofe' (Berlin. Bard 1910) eingehende Auskunft findet. Im
Verlauf des Spieles tritt ein gewisser Zwiespalt zwischen der mittelalterlichen und
modernen humanistischen Bühneneinrichtung hervor. Bolte hat nachgewiesen,
dass der Verfasser des Spiels ganz ungeniert ältere Dramen ausgeschrieben hat.
Hr. Prof. Dr. Bolte bemerkte im Anschluss an den Vortrag noch, dass vor einer
Reihe von Jahren das Pondosche Weihnachtsspiel von den Milchjungen der
Meierei Bolle in Berlin recht gut aufgeführt worden ist. . — Die statutenmässige
Neuwahl des Vereinsvorstandes ergab Wiederwahl der bisherigen Mitglieder auch
für das Jahr 1911. — Hr. Geheimrat Roediger teilte mit, dass die nächste Sitzung
am '20. Januar 1911 zugleich der Erinnerung an das zwanzigjährige Bestehen des
Vereins gewidmet sein solle. Mit der Vorbereitung einer kleinen Feier wurden
die Herren Friedel, Fiebelkorn. Maurer und Edler beauftragt.
Berlin.
Karl Brunner.
,3
I
fieoojciHKa Kyflapuua c*a
Ka*'iapK0M ua Bpxy.
(CKuiicKit Hpiia Popa).
Abbildung zu dem Aufsalz von Rhamni, oben S. 48.
Katholische Überlebsel beim evangelischen Volke.
Von Richard Andree.
Regel ist, dass jede neu zur Herrschaft gelangende Religion von
ihrer durch sie unterdrückten Vorgängerin mehr oder minder auch im
Kultus beibehält. Sie schleppt diese Elemente durch die Zeiten mit sich
fort, ändert sie, passt sie ihren Zwecken an und macht sie dabei öfter so
unkenntlich, dass nur ein sorgfältiges Studium den Ursprung wieder er-
kennen lässt.
So ist es auch dem Christentum ergangen, das viel Jüdisches und
Heidnisches in sich aufgenommen hat. Von den Juden hat es die Woche
und deren Einteilung; das christliche Osterfest ist aus dem jüdischen
Passahfeste hervorgewachsen usw., so dass man sagen kann, die christliche
Kultusordnung sei jüdischer Herkunft. Und ebenso entstammt vieles dem
Heidentum. Die wichtigste Ergänzung des christlichen Pestkalenders aus
dem Heidentum ist das Weihnachtsfest, auch Bitt- und Sühngänge und
Heiligenfeste sind von der Kirche nach Massgabe heidnischer Feste fixiert
worden, Kerzen und Weihrauch entstammen dem Heidentum, und wenn
der Heiligenkult auch aus der Verehrung der Märtyrer herauswuchs, so
nahm er doch immer mehr die Formen des Heroenkults an. Auch Weih-
geschenke und Amulette entlehnte die Kirche aus dem Heidentum. Dass
der Übergang von einer Religion in die andere sich nur stufenweise voll-
ziehen konnte, liegt auf der Hand. Manches, was noch heidnisch war,
wurde von den Bekehrern in politischer Weise anfangs noch geduldet, um
es dann später zu unterdrücken, während anderes durch die Jahrhunderte
mitgeschleppt wurde bis auf den heutigen Tag. Und darüber sind anderthalb
Jahrtausende vergangen.
Ist es da zu verwundern, dass bis zur Gegenwart im Volke bei den
Bekennern der evangelischen Kirche, die doch kaum 400 Jahre alt ist,
sich noch echt katholische Gebräuche und Anschauungen erhalten haben,
die von jener verworfen werden? Zähe hält das Aolk an mancherlei auf
diesem Gebiete fest, zumal in jenen Gegenden, wo die Konfessionen
gemischt oder einander benachbart sind und das katholische Beispiel den
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1911. Heft 2. 8
]]4 Andree:
Evangelischen stets vor Augen schwebt. Die vielen Äusserlichkeiten des
katholischen Kultus, die im evangelischen fortfielen, trugen dazu bei, dass
das Volk darin etwas Besonderes und kräftiger Wirkendes, als im ein-
fachen, nüchternen protestantischen Kultus erblickte. Die von den
Protestanten mit der Zeit nicht mehr verstandenen katholischen Kult-
handlungen erschienen als etwas Geheimnisvolles, regten die Einbildungs-
kraft an, und das Volk schrieb ihnen eine besondere Kraft zu. Und diese
Kraft übertrug man auf die katholischen Geistlichen, die man vielfach
mit Zauberkräften ausgestattet wähnte und nach dieser Richtung hin den
protestantischen als überlegen ansah.
Ich habe das im Hildesheimschen, wo die Konfessionen dureheiuander-
o-ehen, erfahren. Alles, was sich auf Zauberei und abergläubige Handlungen
bezieht, kann dort weit wirkungsvoller von einem katholischen Geistlichen
als von einem evangelischen ausgeführt werden, wozu manche katholische
Handlung, wie das Weihen neuer Häuser, das Ausräuchern von Ställen usw.,
Anlass gegeben haben kann. Allen Ernstes erzählte mir noch ein 'Alt-
vater' namens Brandes, dass, als in ölsburg ein Verstorbener namens
Rittmeyer spukend in seiner Wohnung umging und die Überlebenden
belästigte, man einen katholischen Geistlichen gerufen habe, um den Geist
zu bannen, 'denn ein lutherischer kann so was nicht'1). Im Oldenburgischen
haben wir die gleiche Volksmeinimg. Man erzählt: Zu Vechta stritten
sich ein evangelischer und ein katholischer Geistlicher darüber, welche
von beiden Religionen die stärkere sei und ihren Priestern die meiste
Gewalt über die bösen Geister gebe. Um das auszuproben, holte man
einen 'bösen Geist' aus der Heide und setzte ihn auf einen Tisch, da
wurde er zu einem schwarzen Hund. Der katholische Geistliche steckte
ihm zum Zeichen seiner Gewalt den Arm bis an die Schulter in den
creöffneten Rachen und zog ihn wieder unversehrt heraus. Als aber sein
protestantischer Kollege das gleiche tun wollte, schnappte der Hund zu,
so dass jener eiligst zurückfuhr. Da ward offenbar, bei wem die grössere
Kraft zu finden war2).
In Ostpreussen bitten Evangelische bei schwerem Unglück, besonders
auch, wenn Verstorbene umgehen, um die Fürbitte katholischer Priester
als besonders wirksam und machen Geschenke au deren Kirchen. Das
protestantische Landvolk Ost- und Westpreussens wendet sich, wenn es
durch unmittelbare Vermittlung des Himmels etwas erreichen will, z. B.
die Entdeckung eines Diebstahls, nicht an seinen eigenen, sondern an
einen katholischen Geistlichen, und wenn dort katholische Prozessionen
nach Wallfahrtsorten ziehen, so geben viele evangelische Leute den Wall-
fahrern Geld, um dort für sie zur Heilung von Krankheiten beten zu lassen3).
1) R. Audree, Braunschweiger Volkskunde2 S. 377.
2) Strackerjan, Aberglaube aus Oldenburg 2, 4 (1867).
3) Wuttkc, Der deutsche Volksaberglaube8 §207.
Katholische l'berlebsel beim evangelischen Volke. 115
Im Beginne der Reformation herrschte selbstverständlich eine Art
Verwirrung- in der Kirche, und die Besucher richteten sich noch nach den
alten längst gewohnten Bräuchen, die erst allmählich abgestellt wurden.
Ich will diese Übergangsverhältnisse an dem Beispiele der Kirchen-
ordnung Joachims II. von Brandenburg im Jahre 1540 erläutern, in welcher
viele katholische Elemente erhalten blieben. Bei der Taufe wurden der
Exorzismus, die Salbung mit Chrysam, das Kreuzmachen beibehalten.
Auch die Beichte beliess Joachim II., lateinische Lieder, Chorröcke und
Kasein blieben. Prozessionen am Markustage, zu Ostern und am Palm-
sonntage, die katholischen Feste Circumcisio domini und Fronleichnam
blieben, ebenso die Feste der Heiligen Stephan, Lorenz, Martin, Katharina
und Fasttage wurden mit der Begründung beibehalten, „weil Brandenburg
f berfluss an Fischen habe." Diese aus der katholischen Kirche herüber-
oenommenen Bestandteile der Kirchenordnung Joachims II. verschwanden
erst nach und nach nicht ohne erbitterte Kämpfe1).
Auch in der Beurteilung des Weihwassers herrschte Verwirrung.
Luther war in dieser Beziehung anfangs schwankend und unentschieden.
Dem katholischen Begriffe des benedizierten Wassers nachgebend (im
kleinen und grossen Katechismus) erklärte er das Taufwasser als göttlich,
himmlisch, heilig und selig Wasser, während die evangelische Kirche dann
die besondere Konsekration des Taufwassers abschaffte2).
Aber noch jetzt wird die dem Weihwasser innewohnende Kraft in
evangelischen Teilen Oldenburgs gewürdigt. Man besprengt damit die
Stuben, um bösen Zauber von diesen oder den Menschen abzuhalten. In
der oldenburgischen protestantischen Geest werden katholische Geistliche
zu diesem Zwecke aufgesucht3).
Die heilkräftigen heiligen Quellen und Wässer, die in un-
gemessener Zahl heute noch in katholischen Kapellen und an Wallfahrts-
orten sprudeln, von Hunderttausenden von Pilgern benutzt werden und
ein reinliches Erbstück des Heidentums sind, haben noch vielfach ihre
Bedeutung auch bei Evangelischen behalten und werden von diesen, wie
von den Katholiken benutzt, wiewohl die evangelische Geistlichkeit dagegen
kämpfte. In der Übergangszeit war die Quellenverehrung natürlich noch
weit stärker, während sie heute nur noch sporadisch bei J]vangelischen
nachweisbar ist. Eine Wolfenbüttler Handschrift vom Jahre 1584, also
bald nach der Durchführung der Reformation im Braunschweigischen,
berichtet von einer solchen Quelle bei Adersheim, aus der die Leute
Heilung tranken und bei der sie noch ganz in alter Art opferten, indem
sie an die benachbarten Sträucher Lumpen, Ilosenbänder, Nesteln, Kränze,
1) J. Sonneck, Die Beibehaltung katholischer Formen in der Reformation Joachims 1 1.
von Brandenburg. Rostocker Dissertation 1903, S. 11.
2) H. Pfannenschmid, Das Weihwasser 1869, S. 104.
3) Strackerjan a. a. 0. 2, 10.
8*
]_]_(; Andree:
Kerbhölzer und andere Dinge anknüpften1), ein vielfach auch anderwärts
bekannter Brauch.
Kirchliche Verbote von protestantischer Seite gegen die ursprünglich
heidnische und durch den Katholizismus überkommene Quellenverehrung
sind nicht immer befolgt worden, und so wuchert sie noch hier und da
fort. Die St. Veitskapelle zu Wieseht in Mittelfranken war in katholischer
Zeit ein berühmter Wallfahrtsort, der 15.">9 evangelisch wurde. Bis zum
Jahre 1671 befand sich noch unter der Kanzel ein vergittertes, mit Wasser
gefülltes Loch, das man in Töpfen heraufzog und gegen Augenschmerzen
nach alter Art benutzte. Der evangelische Pfarrer schrieb damals an das
Konsistorium zu Ansbach: „Ich habe dieses Unwesen zwar insoweit
abgestellt, dass es in meinem Beisein nicht mehr verrichtet wird, aber
wenn ich hinweg bin, geht es gleichwohl vor"2). — Schon im 18. Jahr-
hundert kämpfte das evangelische Konsistorium zu Lauterbach in Hessen
gegen ein ähnliches Augenwasser, drohte selbst mit harten Geldstrafen,
aber ohne Erfolg. Noch jetzt wird das Regenwasser, das sich in einem
alten gotischen Taufstein bei der evangelischen Totenkapelle von Meiches,
hessisches Amt Schotten, sammelt, als heilkräftiges Augenwasser, wie in katho-
lischer Zeit, benutzt, in Flaschen geholt und sogar bis Amerika verschickt3).
Und im protestantischen Dänemark ist es gerade so, auch von dort
finde ich ein Zeugnis, dass gerade heilige Quellen und deren Wirkungen
sich ungewöhnlich zähe erhalten. Hans Christian Andersen hat uns in
seinem Roman 'Nur ein Geiger' eine genaue Schilderung von dem Kult
hinterlassen, der bei der St. Regissenquelle in der Gegend von Nyborg
zwischen den Dörfern Oerebäk und Frörup betrieben wird. Die Quelle
hat den Namen nach einer gottesfürchtigen Frau, deren Kinder ermordet
wurden. An der Stelle aber, wo dieses geschah, entsprang eine herrliche
Quelle, über welcher fromme Pilger eine Kapelle erbauten. Jedes Jahr,
an St. Boelmessentag, wurde bis zur Reformationszeit hier gepredigt und
erwies sich die Quelle als heilkräftig. Und das ist sie in der Meinung
des evangelischen Volkes bis jetzt geblieben. Nur treten die Wirkungen
in der Johannisnacht auf. Dann bringt man die im Freien lagernden
Kranken dorthin und wäscht sie mit dem Quellwasser. Die Quelle ist
von hohen Bäumen umschattet, an denen das Volk noch heutigen Tages nach
katholischer Sitte seine Opfer befestigt, die in einigen Lichtern bestehen.
Sehen wir so schon nach diesen Beispielen, dass die alte Quellen-
verehruug sich aus dem Katholizismus in die protestantische Zeit hinüber-
gerettet hat, so ist dieses in noch weit gesteigertem Masse bei den Wall-
fahrten und der Darbringung von Votiven der Fall. Luther hatte gegen
1) Braunschweigisches Magazin 190"), S. 5<».
2) Beiträge zur Bayerischen Kircheugeschichte, Band 9, Heft G. Erlangen 190:5.
Nach Hess. Blätter f. Volkskunde 3, 93.
3) Hessische Blätter für Volkskunde 3, 92.
Katholische Überlebsei beim evangelischen Volke. 1 1 7
die Wallfahrten geeifert und in einer Predigt gesagt: „Wenn der Geist
des Wallfahrens in dein Weib oder deinen Knecht fährt, so höre meinen
Rat, nimm einen Kreuzstock von Eichenholz und heilige ihren Rücken
tapfer mit einigen Schlägen, und du wirst sehen, wie durch diesen Finger
(iottes jener Dämon ausgetrieben wird"1). Indessen ganz ist dieser Dämon
doch nicht bei Evangelischen bis auf den heutigen Tag ausgetrieben,
und auch hier erfolgte die Abschaffung nur allmählich. Sehr schwer ist
das z. B. in dem berühmten holsteinischen Wallfahrtsorte Buchen geworden,
wo heiliges Blut, eine wundertätige Hostie und ein wundertätiges Marien-
bild verehrt wurden. Um die Wallfahrt auszurotteu, vernichtete man die
Hostie, aber noch im Jahre 1581 kamen die „Bedefahrer" dorthin und
nun verbot man bei schwerer Strafe die Kirche zu öffnen und Opfer an-
zunehmen. 1590 berichtet der dortige Pastor, der Aberglaube daure
trotzdem heimlich fort, und um ihn gänzlich auszurotten, liess man die
Kapelle zerstören und das Kirchensilber verkaufen2).
Für den Fortbestand evangelischer Wallfahrten in der Gegenwart
liegen Beispiele vor. „Wie vor der Reformation so ist heute noch
die Margarethenkapelle zu Rennhofen (bei Neustadt a. d. Aisch) für
Protestanten ein Wallfahrtsort, wo Gelübde gelöst, Linderung leiblicher
und geistiger Gebrechen für Menschen und Vieh gesucht und reiche Opfer
gespendet werden" schreibt Dr. G. Lammert3).
Reichlich sind die katholischen Überlebsei bei den evangelischen
Masuren in Ostpreussen vorhanden. Noch im Beginne des 18. Jahrhunderts
wallfahrteten sie zu den Ruinen der Kapelle, welche an der Stelle der
Schlacht von Tannenberg (1410) errichtet war. In einer Eingabe an die
Regierung zu Königsberg von 1719 wird über das 'abergläubische Unwesen1
geklagt, welches dort, sowohl von lutherischem als päpstlichem Volke
getrieben wird. Man opfere dort „ein gewisses Geld, auch von Wachs
gemachte Figuren in Form von Hand, Fuss oder, wenn das Kopfweh
durch die AVallfahrt gehoben werden solle, in Form eines wächsernen
Kranzes"4).
Wo sich, in Anknüpfung an katholische Wallfahrten, dem evangelischen
Masuren Gelegenheit bot und noch bietet, da ist er dabei, wofür bei
Toppen sich Belege finden5), so die Wallfahrten nach der heiligen Linde
bei Rössel im Saarburger Kreise und nach Dietrichswalde. WTie zahlreich
einst die protestantische Bevölkerung nach Zluttowo bei Löbau pilgerte,
lässt sich daraus ermessen, dass einmal die Kirchenvisitation in Mühlen,
welche auf den 6. August festgesetzt war, verschoben werden musste, weil
1) A. Hausrath, Luthers Leben 1, 115.
2) Zeitschrift „Niedersachsen" 13, 327 (11)08).
3) Lammert, Volksmedizin in Bayern 18(i9, S. •_':'>.
4) Mitteilungen der literarischen Gesellschaft Masovia 190G, S. 73.
5) Aberglauben aus Masuren - S. lOf.
11£ Andree:
an diesem Tage ein grosser Teil der Schulkinder mit ihren Eltern sich
auf dem Ablassmarkte zu Zluttowo befand. Dort liess man sich Wein
segnen oder gar Ablass geben.
Für Wallfahrten Evangelischer in Hessen gibt uns das schon er-
wähnte 'TotenkippeF beim Dorfe Meiches den Beleg. Am zweiten Pfingst-
tage wallfahrten aus den evangelischen Dörfern Helpershein, Dirlammen,
Engelrod, Hörgenau und Eichelhain kraDke Leute dorthin, um im Opfer-
stock dort zu opfern, in der Voraussetzung, dass sie dadurch gesunden1).
Diese Wallfahrten sind einfache Fortsetzungen der alten katholischen, da
das Totenkippel eine alte St. Georgskapelle und Wallfahrtsort war, zu
dem, schon als es evangelisch war, noch im 19. Jahrhundert einzelne
Katholiken wallfahrteten.
Dazu noch ein Beispiel aus Norwegen. In der Kirche zu Köldal
befand sich in katholischer Zeit ein wundertätiges Christusbild, zu dem
in der Johannisnacht die Leute wallfahrteten, um mit dem Schweisse, den
das Bild von sich gab, Krankheiten, namentlich Blindheit zu heilen.
Zahlreiche zurückgelassene Yotive legten von den Heilerfolgen Zeugnis
ab. Die Wallfahrt nach Röldal wird zuerst im 17. Jahrhundert erwähnt,
also in protestantischer Zeit, wiewohl sie natürlich älter ist. Professor
B. Kahle, der dort war und dem wir obiges entnehmen, schreibt: „Höchst
merkwürdig ist es, wie lange sie sich in diesem protestantischen Lande
erhalten hat: Sie wurde erst im Jahre 1840 infolge eines Berichtes der
Propstei von Ryfylke durch den (protestantischen) Bischof von Kristians-
sand abgeschafft. Wie mir der Pfarrer von Röldal erzählte, seien in den
letzten Jahren der Wallfahrt die Leute vom Ort freilich nicht mehr
ü'läubiir o-ewesen, aber von weither sei mau noch gekommen1'2).
Auch bei den heut noch so vielfach in katholischen Landen vor-
kommenden Pferde- und Viehsegnungen beteiligen sich gern Evangelische.
So z. B. bei der Pferdesegnung von Gaualgesheim im Rheingau am
Laurenzitage3).
Ziemlich verbreitet ist auch die öfter mit Wallfahrten zusammen-
hängende Darbringung von Opfern in Geld und Naturalien und von
\\ eihegeschenken, Wachsvotiven usw., ganz nach alter katholischer Art in
evangelischen Kirchen bis auf unsere Tage. Am stärksten musste natürlich
diese Fortdauer noch in der Zeit gleich nach der Reformation sein, und
die ersten evangelischen Geistlichen hatten genug damit zu tun, die alten
katholischen Gewohnheiten auszurotten. So berichtet am Ende des
IC). Jahrhunderts der erste evangelische Superintendent vom braun-,
schweigischen Dorfe Engerode: „Es geschieht aber noch bisweilen an
diesem Orte Abgötterey, dieweil im Babstthumb daselbst gross Ablass
1) Hessische Blätter für Volkskunde 3, 89.
•_') Archiv für Religionswissenschaft 12, 147.
3) Mitt. d. Ver. f. Nassauische Altertuniskunde, Juli 1909, S. 73. Globus (.)7, 133.
Katholische Überlebsel beim evangelischen Volke. IT.»
gewesen, die Leute oft noch kommen und was sie in ihren Nöten gelobt,
darbringen, als Arme, Beine, Hände, Füsse, Kreuze, Kinder u. dgl. von
Wachs aufhängen in die Ehre unsrer Lieben Frauen"1).
Das hielt aber, trotzdem dagegen gewirkt wurde, in jenen Gegenden
noch lange an, worüber der Harzburger Superintendent Andreas Krieg
uns ausführliche Schilderungen hinterlassen hat2). Wir müssen da eine
Abhandlung über den sagenhaften Harzgötzen Krodo samt vier 'Salz-
predigten" des frommen Superintendenten über uns ergehen lassen, bis er
Seite 24 darauf kommt, dass in Harzburg Abgötterei und Aberglauben,
welche tiefe Wurzel zu schlagen pflegen, nicht gänzlich ausgerottet werden
können. Und nun klagt Krieg darüber, dass in der damals noch vor-
handenen alten, ehemals katholischen Kapelle auf dem Burgberge noch
katholische Kulthandlungen vorkamen, indem nicht allein in der Nähe,
sondern auch aus weit abgelegenen Orten viel presshafte Kranke und an
Händen und Füssen Lahme, auch blinde Leute, sich durch Mittel auf die
Harzburg, durch Konivenz des Pförtners, gemacht, ihr Gebet vor dem
Altar verrichtet, ein wenig Geld in den 'Armen Sack' geleget und dann
<las ungesunde Leibesglied in Wachs abgebildet in der Kirchen auff und
an die Wand nebst den Krücken, worauff sie hinauff gekrochen, gehenckt,
und sich alsdann gesund davon gemacht.
„Es wird auch beständig berichtet, dass an der Mutter Maria Rock,
welches Bildnis auff dem Altar gestanden — Krücken und ab-
gebildete Wachsbilder der menschlichen Glieder von der Kirchen ab-
genommen und also diesem neuen Greuel durch die hohe christliche
Obrigkeit das Final gemacht worden."
Im Jahre 1654 wurde dann dieses Kirchlein auf der Harzburg auf
Befehl des Herzogs August 'gänzlich demoliert'. Mit den 'von press-
haften Leuten zurückgelassenen Krücken' ist man aber ganz besonders
verfahren. Der über die katholischen Überlebsel empörte evangelische
Superintendent, der indessen kaum aufgeklärter als die armen, zur Mutter
Maria pilgernden Kranken gewesen sein wird, erzählt nämlich auf S. '2b
von den geopferten Krücken, „dass selbige der damahlige Ambt-Mann,
•Caspar Wiedemann, herüber auffs Ambt (in Harzburg) fahren lassen und
intendiert ein Gebrau Breyhan damit brauen zu lassen. Als aber die-
selben unter die Pfanne gestecket worden, ist ein solcher Lärm im Brau-
hause entstanden, dass nicht allein kein Mensch darinnen verbleiben
können, sondern das Bier dergestalt missrathen, dass auch die Schweine
selbiges nicht gemessen mögen. So gibt der Höllen-Geist seinen Unmuth
zu erkennen, wenn sein Reich zerstöret wird."
1) Braunschweigisches Magazin 1898, S. 67.
■2) Andreas Krieg, Hartzburgscher Mahl -Stein usw. Goslar bey Joh. Christoph
Koni? 1709.
120 Andree:
Ein anderes Beispiel ans der Übergangszeit, wobei es sich um die
Fortdauer des lebenden Tier Opfers nach noch heute in Süddeutschland
üblicher Art in der protestantischen schon erwähnten St. Veitskapelle bei
Wiescht in Mittelfranken handelt. Zu Zeiten des evangelischen Pfarrers
Hörn (1632 — 1(561) wurde dort eine lebende Kuh geopfert und an den
Kirchthurm gebunden. 1671 berichtet der evangelische Pfarrer an das
Konsistorium zu Ausbach: „Von jungen Hühnern geht wenig ein, welche
man sonst häufig geliefert und in einem gewissen Behälter in der Kapelle
gesperrt. Weil ich aber dieses wegen des Krähens unter der Predigt
nicht leiden wollen, so unterlässt man's. Doch bringt man manchmal etwas
von Hühnern in mein Haus"1).
Auch bei dem schon erwähnten evangelischen Totenkippel von
Meiches in Hessen werden — wenigstens noch in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts - Naturalopfer von Evangelischen auf dem alten Stein-
altar niedergelegt, Mehl, Früchte, Kleider, Hemden und ein Mann, der an einer
Salzfluss genannten Flechte litt, liess dort einen Zentner Salz hinschaffen2).
Von den Masuren Ostpreussens wissen wir, dass sie noch im 16. Jahr-
hundert trotz der Wirksamkeit der katholischen Geistlichkeit die alten
heidnischen Götter anriefen und ihnen Opfer brachten. Es ist daher auch
nicht zu verwundern, wenn wir bei diesem slawischen Volksstamme,
trotzdem er schon lange (nach 1525) die Reformation angenommen hat,
noch eine ganze Anzahl katholischer Überlebsel finden, von denen er sich
nicht losmachen kann, weil er mit ihnen eine wundertätige Kraft ver-
bunden glaubt3). Opfer in Kirchen niederzulegen ist bei ihnen etwas
ganz Gewöhnliches. Wenn für die Genesung einer Epileptischen geopfert
wird, so geschieht dieses gleichzeitig in drei Kirchen, von denen aber
eine eine katholische sein muss. Am 6. August (Tag der Verklärung
Jesu) werden von den Masuren Opfer in katholischen Kirchen nieder-
gelegt, und sie strömen dann scharenweise zum katholischen Gottesdienst.
Das hat nach einem Synodalberichte des Superintendenten Schelling in
Marggrabowa vom Jahre 1882 in letzter Linie einen sprachlichen Grund.
„Weil das Wort Verklärung in der polnischen Sprache mit dem Worte
'Umwandlung' wiedergegeben wird, so hat sich in der katholischen Kirche
und von dorther auch bei den. Masuren die Vorstellung ausgebildet, dass
die Feier dieses Tages den Teilnehmern eine Umwandlung ihrer be-
sonderen Übel und Leiden einbringt, besonders wenn sie ihre Gebete mit
Altargeschenken begleiten" 4).
Durch Opfergaben können auch die armen Seelen bei den evan-
gelischen Masuren erlöst werden. Eine Frau opferte fünf Silbergroschen
1) Beiträge zur bayerischen Kircheugeschichte, Band 9, Heft 6. Erlangen 100."!.
2) Hessische Blätter für Volkskunde 3, 88.
3) Vgl. dazu A. Zweck, Masuren. Stuttgart 1900, S. 215.
4) P. Hensel, Die evangelischen Masuren. Königsberg 1908, S. 43.
Katholische Überlehsel beim evangelischen Volke. 121
für den Mann, dessen Seele keine Ruhe finde, und sprach dabei die
Hoffnung aus, dass eine glückliehe Seele diese fünf Silbergroschen finde
und durch Gebet die arme Seele erlösen möchte. Wenn das Opfer an
eine katholische Kirche käme, wäre es wirksamer, als an eine evangelische,
glaubte sie1). Selbst Naturalopfer, Mehl und Wachs, an katholische
Kirchen kommen noch vor.
Dass auch heimlich in evangelischen Kirchen in versteckter Form
Geldopfer dargebracht werden, dafür liegt ein Beispiel vor; es handelt
sich um den heiligen Ort, im Glauben dadurch eine Wirkung zu erzielen.
Als im Jahre 1900 mit dem Abbruche der alten baufälligen Kirche zu
Bukow bei Lübbenau in der Niederlausitz begonnen wurde, fand man in
den Spalten der alten Holzsäulen und Balken viele Taler und Zweitaler-
stücke aus dem 18., weniger aus dem 19. Jahrhundert versteckt. Jedes
einzelne Geldstück war in Papier eingeschlagen. Als Grund wurde an-
gegeben, dass man auf diese Weise opfere, wenn ein Kind gestorben sei
und man die übrigen vor dem gleichen Schicksale bewahren wolle" 2).
Eine besondere Art der Weihgeschenke stellen die Schiff svotive
dar, die bei den Seefahrern katholischer Länder oft in grosser Anzahl in
den Kirchen aufgehängt werden von Schiffern, welche Seenot glücklich
überstanden haben und nun zum Danke in den Kirchen des h. Nikolaus,
des Patrons der Seefahrer, oder in den Marienkirchen von der Decke
herabhängen oder an den Pfeilern befestigt werden. Reich an solchen
Schiffsmodellen sind z. B. die Heiligtümer der Notre Dame de Roc-Amadour
(französische Nordküste), die Kirche der Maria d'Annuuziata auf der
dalmatinischen Insel Lussin piccolo; ein kleines Museum solcher Schiffs-
votive fand ich in der Kirche der Madonna del Soccorso zu Forio auf
Ischia, wo die Votive vom 18. Jahrhundert an bis auf die Gegenwart
reichen.
Schon früher3) habe ich darauf hingewiesen, dass bei unseren nord-
deutschen evangelischen Schiffern sich dieser katholische Brauch, ein
Zeichen der Dankbarkeit an die himmlischen Mächte für Errettung aus
Seenot, forterhalten hat. Und wenn es auch nicht immer sich um die
Aufstellung eines Modells des dem Untergange entrissenen Schiffes handelt,
so findet doch eine einfachere Form der Dankbezeugung statt. Auf den
schleswigschen Halligen bittet ein von langer Fahrt glücklich zurück-
gekehrter Seemann den Pastor, am nächsten Sonntag nach der Predigt
ein öffentliches Dankgebet für ihn zu sprechen, wofür er eine kleine
Summe zu zahlen pflegt4). Noch heute sind Schiffsmodelle in den Kirchen
1) Toppen, Aberglauben aus Masuren - S. 7.
2) Nach einem Berichte aus Lübbenau in der Frankfurter Oderzcitung vom
10. April 1900.
3) Korrespondenzblatt der deutschen Anthropolog. Gesellschaft 190."), Nr. 1".
4) E. Traeger, Die Halligen der Nordsee 1892, S. 50.
122 Andree:
an der Ost- und Nordsee nicht selten, und sie reichen zum Teil, wie die
Formen der Fahrzeuge beweisen, in alte Zeiten, aber kaum in die vor-
reformatorische zurück. Auch in der Sage spielen diese Schiffsmodelle
eine Rolle, so das noch heute in der evangelischen Pfarrkirche zu Rambin
■auf Rügen aufgehängte1). Von dem bewährten Kenner der pommerschen
Volkskunde, Herrn Professor A. Haas in Stettin, an den ich mich um
Auskunft wendete, erhielt ich noch eine Anzahl auf Schiffsvotive in evan-
gelischen Kirchen bezügliche Angaben, die auch nach seinen Beobachtungen
erst in evangelischer Zeit gestiftet wurden, einmal zum Andenken solcher
Schiffer, die auf See blieben oder aus dankbarer Erinnerung an eine er-
folgte Rettung aus Seenot. Als Beispiele führt mir Herr Professor Haas
an ein Schiffsmodell von 1777 in der Kirche zu Lübzin am Dammschen
See und mehrere aus evangelischen Kirchen in das Pommersche Altertums-
museum zu Stettin gelangte Schiffsmodelle, die teilweise auf das 16. bis
17. Jahrhundert zurückgehen. Eines stellt ein Vollschiff aus der ersten
Hälfte des 19. Jahrhunderts, unter Kapitän Wilhelm Bödow aus Stepenitz,
dar. Er verlor im Sturme bei Kap Hörn seinen Steuermann. Ihm zum
Andenken wurde das Modell angefertigt und seinerzeit in der Köpitzer
Kirche aufgehängt. Auch in Schweden haben sich solche Votivschiffe
lange in der evangelischen Zeit erhalten, wie die Exemplare im Nordischen
Museum in Stockholm beweisen. Sie hingen vordem in den Kirchen
norwegischer und schwedischer Küstenstädte, als Zeichen der Dankbarkeit
für Errettung aus Seenot2).
Und nicht nur die Votivschiffe in alter Weise lassen sich nachweisen,
sondern auch, wenigstens an die Schiffahrt anknüpfend, auch Votiv-
bilder. Die Chorfenster der Kirche zu Gross-Zicker auf der Halbinsel
Mönchgut enthalten Glasmalereien, wahrscheinlich Erzeugnisse nieder-
ländischer Künstler aus dem 16. bis 17. Jahrhundert, die ältesten von 1595,
welche vielfach Schiffe darstellen. Eines dieser Bilder zeigt einen vom
.Mäste in die See stürzenden Mann, also wohl die Darstellung eines wirk-
lichen Vorganges3). Die Übereinstimmung mit der Darstellung von
Unglücksfällen, wie sie so vielfach auf den Votivtafeln der katholischen
Kirchen erscheinen, liegt hier klar vor, wenn auch ein Gelöbnis, wie es
sich bei den Katholiken in solchen Fällen findet, hier sich nicht nach-
weisen lässt. sondern mehr der historische Vorgang betont zu sein scheint,
In der Übergangszeit der Reformation herrschte bezüglich des Kultus
häutig Verwirrung. Es gab Geistliche, die nach Belieben ihrer Pfarr-
kinder diese auf katholische oder evangelische Weise bedienten. Das
drückte sich auch bei Luther aus, der manchen katholischen Brauch erst
1) Jahn, Volkssagen aus Pommern 1886, S. 43. Haas, Rügensche Sagen2 S. 139.
2J Hazelius, Guide to tlie Collections of ttae Northern Museum 1889, S. 50.
3) Baltische Studien 15, 2, S. KJ6. Haas und Worm, Die Halbinsel Mönchgut
1909, S. 40.
Katholische Überlebsei beim evangelischen Volke. 123
nach und nach abstreifte. Im Kleinen Katechismus, der die "Eierschalen
der Papstkirche an sich trug', wie die Zwinglianer sagten, empfiehlt er
noch das Segnen mit dem Kreuzschlagen1). Und was tut heute der
evangelische Masure? Er verneigt sich beim Ein- und Austritte aus der
Kirche vor dem Altar und macht dabei das Zeichen des Kreuzes2). Früher
war die Bekreuzigung bei den Masuren noch weit häufiger; die auf-
o-etrao-enen Sneisen wurden vor der Mahlzeit mit dem Zeichen des Kreuzes
versehen, und selbst der Fuhrmann machte mit der Peitsche vor seinen
Pferden dieses Zeichen, wenn er eine Reise antrat3).
Auch das katholische Fasten hat sich in Überlebseln bei Protestanten
erhalten. Es war ja als ein der Orottheit wohlgefälliges Werk der Selbst-
verleugnung; bei vielen Völkern des Altertums üblich. Da Luther es für
eine 'feine äusserliche Zucht' erklärte, erhielt es sich bei den Evangelischen
noch lange, und die Reste sind auf unsere Tage gekommen. Wenigstens
am Karfreitag fastet man im protestantischen Ostpreussen noch vielfach*),
und im Zürcherischen Oberlande werden, nach vorreformatorischer Über-
lieferung, noch jetzt am Freitage von Protestanten nur Fastenspeisen ge-
nossen. Man isst 'Wäfen' aus Äpfeln oder Birnen, 'Nidel1 (Rahm) und
Bollen5)-
Eine unmittelbare Beibehaltung der katholischen Feiertage
finden wir wieder bei den evangelischen Masuren. Man findet bei ihnen
Gelöbnisse am Jakobitage, an Christi Verklärung, an den Marientagen u. a.
nicht auf dem Felde zu arbeiten. Als ein evangelischer Pfarrer an einem
solchen Tage dieses doch tun liess und unerwartet ein Hagelwetter
eintrat, sammelten die Bauern einige Metzen Hagelkörner, brachten sie
zum Landrate nach Neidenburg und verklagten den Pfarrer, dessen
Gottlosigkeit sie durch die Hagelkörner zu beweisen meinten. Die Rück-
wirkung der katholischen Anschauungen zeigte sich bei den Masuren auch
dadurch, dass, nach katholischer Art, der Karfreitag nicht, wie bei den
Evangelischen, als rechter Festtag gefeiert und bei vielen der Grün-
donnerstag höher gestellt wird6).
Sehr stark sind die Niederschläge, die sich auf die katholische Ver-
ehrung der Heiligen beziehen, und sich wenigstens im Sprachgebrauche
und auch in Sitten bei den Protestanten erhalten haben. Während bei
der Reformation nur jene Feste erhalten blieben, die sich auf das
Leben Jesu bezogen, wurden die Feste der Heiligen und Fronleichnam
abgeschafft. Aber die Kalenderbezeichnungen nach den Heiligen sind bis
1) A. Hausrath, Luthers Leben 2, 113.
2) P. Heusei, Die evangelischen Masuren S. 42.
3) Toppen, Aberglauben aus Masuren- S. <>.
4) E. Lemke. Volkstümliches aus Ostpreussen 1, 13 (1884
5) H. Messikommer, Aus alter Zeit 1, 43 (Zürich 1909).
6) Toppen a. a. 0. S. 7. 9.
124 Andree:
auf diesen Tag in evangelischen Landen geblieben; wir rechnen nach
Michaelis, erinnern uns an den heiligen Martin, dessen Tag im Deutschen
Reiche allgemeiner Termintag war, an dem das Gesinde an- und abzog.
So kann man denn im protestantischen Niederdeutschland noch die
Redensart hören für einen Knecht, der zu früh seinen Dienst verlässt:
he maket Martinich. Erst in neuer Zeit werden die neugebauten pro-
testantischen Kirchen nach Luther, der Dreifaltigkeit, den Evangelisten u. dgl.
benannt, während bei den in der Vorreformationszeit erbauten die alten
katholischen Heiligennamen fortbestehen. Und so gelten diese auch bei
Festen in evangelischen Gegenden. Wenn in Hamburg ein Schulfest
gefeiert wurde, bei dem man die Kinder ins Grüne führte, so sagte man:
Se gät in't Pantaljohn1), wobei man natürlich nicht mehr an den heiligen
Pantaleon von Nicomedien dachte, der im vierten Jahrhundert lebte und
Schutzpatron der Ammen und gut gegen Heuschrecken ist. Und wie
beliebt ist nicht auch bei protestantischen Kindern St. Nikolaus, der ein
Bischof von Myra in Lykien war! Dieser am 6. Dezember bei unsern
Kindern wegen seiner Rute ebenso gefürchtete als wegen seiner Äpfel
und Nüsse beliebte Heilige ist ja bei Evangelischen noch ebenso ver-
breitet, wie bei den Katholiken. Auch in Kinderspielen klingen bei
Evangelischen katholische Heilige nach. Das von der Kirche gesegnete
Agathenbrot, welches ins Feuer geworfen, dieses hemmt, ist in evan-
gelischen Kantonen der Schweiz in Abzählreimen erhalten geblieben,
wobei neben richtigen Yersen 'Agathenbrot in der Not' auch allerlei un-
sinnige Namenentstelluugen vorkommen2).
Selbst zur Bezeichnung der Bilderbücher schlechthin ist der Name
der Heiligen geworden und hat sich so nach der Reformation erhalten.
In den Büchern, die in den frühesten Zeiten nach der Erfindung der
Buchdruckerkunst in die Hände des gemeinen Mannes gelangten, waren
es zumeist die erbaulichen, welche Bilder enthielten, unter denen die
Heiligen die erste Rolle spielten, und daher kam der noch im 18. Jahr-
hundert übliche plattdeutsche Ausdruck Hilligen für Bilderbücher3). Auch
die Weidmannssprache hat die Heiligen überall bewahrt. Sie redet von
der Hubertusjagd und sagt, dass der Hirsch Ägydi auf die Brunft tritt.
AVährend so die Heiligen unter dem evangelischen Volke immerhin
noch in Überlebseln vertreten sind, vermag man von der Reliquien-
verehrung nur noch schwache Spuren nachzuweisen. Ausserordentlich
scharf sind die Reformatoren gegen diese vorgegangen, und wie heute
von christlichen Missionaren noch afrikanische Götzenbilder verbrannt
wurden, so zerstörte man vielfach Reliquien, die aber auch von guten
1) Richey, Idioticon Hamburgense 1755, S. 180.
•J) Rochholz, Alemannisches Kinderlied S. 14. (Fritz Staub), Das Brot im Spiegel
scbweizer-deutscher Volkssprache 1868, S. 115.
3) Richey a. a. 0. S. 95.
Katholische Überlebsel beim evangelischen Volke. 125
Katholiken wiederholt vor Zerstörung- bewahrt und gerettet wurden, wie
jene St. Bennos von Meissen, die Herzog Albrecht V. von Bayern nach
München brachte. Bei der nachdrücklichen Reliquienbeseitigung in
protestantischen Ländern konnte natürlich eine unmittelbare Anknüpfung
an solche dort nicht mehr erfolgen. Wo aber die Vorstellung herrschte,
solche Reliquien könnten in irgend einer Beziehung helfen, da suchte
man bei auswärtigen Hilfe. Dafür wenigstens ein Beispiel. Noch heute
verkauft die Kirche in Augsburg in kleinen Tüten St. Ulrichserde, die
wirksam für die Vertreibung von Ratten und Mäusen sein soll. „Der
Umstand, dass St. Ulrich ursprünglich auf blosser Erde bestattet wurde,
war die Veranlassung, dass man Jahrhunderte lang die Erde, die man im
Jahre 1183 dem Grabe entnahm, als eine Art Reliquie ansah und sie
besonders zur Vertreibung der Ratten und Mäuse verwendete. Im Pfarr-
archiv St. Ulrich befindet sich ein von dem (protestantischen) Herzog
Friedrich von Schleswig-Holstein selbstgeschriebener Brief, datiert 24. März
1700 an das Kloster St. Ulrich, in welchem er seine Bitte um Verabreichung
von Ulrichserde zur Vertreibung der Ratten und Mäuse auf seinen Feldern
und in seinen Schlössern erneuert und verspricht, dass mit derselben
kein Missbrau ch getrieben, sondern sie nur im Vertrauen zum h. Ulrich
gebraucht werde"1). Es ist nicht ausgeschlossen, dass einzelne Reliquien
sich in evangelischen Kirchen erhielten und der Zerstörung entgingen.
Darauf deuten die mehrfach erhaltenen sagenumwebten Mumienhände,
wohl ursprünglich Reliquienhände, hin. Hinter dem Altar der Kirche zu
Mellentin in Pommern liegt eine solche Hand, von der die Sage berichtet,
sie hätte einem Mädchen angehört, das seine Mutter geschlagen und sei
aus dem Grabe herausgewachsen2). Und so verhält es sich mit der
mumifizierten Menschenhand, die an eiserner Kette in der Dorfkirche zu
Gross-Redensleben in der Altmark hängt, dabei eine Tafel, welche in
Versen die Geschichte von dem Sohne erzählt, der den Vater schlug3).
Auch in der Sakristei der Petri-Paul-Kirche zu Stettin sollen zwei mumi-
fizierte Kinderhände gehangen haben, die aus dem Grabe gewachsen
waren. Überall erscheint mir die echte Reliquienhand als das ursprüng-
liche, au das dann später sich die so weitverbreitete Sage von dem
undankbaren Kinde anschloss, dem die Hand aus dem Grabe wuchs.
Das sind nur einige Beispiele von der zähen Ausdauer, die alt-
katholische Bräuche und Anschauungen heute noch im evangelischen
Volke besitzen, und ein Beleg dafür, wie neue Religionen von ihren Vor-
gängerinnen immer noch einzelnes übernehmen und weiter gebrauchen.
München.
1) Friesenegger, Die St. Ulrichskirche zu Augsburg 1900, S. 59.
2) Kuhn und Schwartz, Norddeutsche Sagen 1848, Nr. 28. 16.
3) Temme, Volkssagen der Altmark 1839, S. 48 Nr. 56.
126 Loewe:
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben.
Von Richard Loewe.
(Vgl. oben 18, 1. 151. 21, 31.)
I. Der Südosten.
Aus dem Riesengrund (Riesenhain) berichtete mir noch der daselbst 1838
geborene und jetzt noch wohnhafte Feldgärtner Stefan Buchberger, der selbst
nicht mehr wundergläubig ist, folgendes:
„Die alten Leute haben viel von Rübezahl gesprochen, wenig vom Nacht-
jäger, nichts vom Feuermann.
Rübezahl lebte in Teufels Lustgärtchen. Doch war er auch öfters in der
Blauhölle und in Rübezahls Garten. Im Riesengrund ist er oft auf- und ab-
gegangen. Neben einem Wassergraben hatte er seinen Weg von Teufels Lust-
gärtchen in das Tal (den Riesengrund); der Weg führte über eine felsige Klippe.
Jetzt ist der Weg überwachsen; es ist nur noch mühsam hindurchzukommen.
Der Teufelsgrat führt vom Teufelsgärtchen aus sowohl abwärts als auch nach
rechts und links; er erreicht auch noch die Blauhölle. In Teufels Lustgärtchen
wuchs auch ein Apfelbaum.
Rübezahl hat so ausgesehen, wie man ihn darstellt. Er hat sich auch ver-
wandeln können, z. B. in einen Jäger oder einen feinen Herrn.
Rübezahl hatte auch eine Frau namens Emma, die hübsch war. Sie hat sich
öfters entfernt, er hat sie aber immer wiedergeholt.
Rübezahl holte sich oft Wasserrüben aus dem Riesengrund; die Leute waren
froh, wenn er sich wieder entfernt hatte; beschwert hat sich niemand darüber
aus Angst. Die Leute haben auch gefürchtet, dass Rübezahl ihnen auf Zauber-
art schaden könnte. Sie hielten ihn für einen bösen Geist und sagten auch,
er sei der Teufel. Wenn Rübezahl jemandem etwas in den Weg legen wollte,
so stieg ein Gewitter auf. Oft ging er auch mit den Leuten und zeigte sich
anfangs dabei freundlich, ärgerte sie aber nachher. Öfters hat er auch Leute irre
geführt."
Gutes wusste Stefan Buchberger über Rübezahl überhaupt nicht zu be-
richten, auch nicht, dass er die Äpfel seines Apfelbaumes irgend jemandem ge-
schenkt hätte.
Aus dem vom Riesengrund aus zunächst talwärts gelegenen Stumpengrund
erhielt ich folgende Auskunft von der dort 1836 geborenen und jetzt noch wohn-
haften Schneidermeisterswitwe Katharina Boensch, geb. Mitlöhner:
„Rübezahl lief immer von der Schneekoppe auf die gegenüberliegende Koppe
(schwarze Koppe oder Brunnberg) durch den Riesengrund. Er ist ein Geist und
schickt noch jetzt Gewitter und plötzliche Unwetter, führt auch noch jetzt die
Menschen irre. In Rübezahls Lustgarten gibt es noch allerlei Obstbäume, braune
Nelken, rote Nelken und andere schöne Blumen. Getanzt hat Rübezahl oft mit
jungen Mädchen."
Dazu erzählt Katharina Boensch noch folgende Geschichten, davon die erste
nach Erzählung ihrer Grossmutter (Vaters Mutter) aus Klein-Aupa:
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 127
1. „Der Grossvater (meines Vaters Vater aus dem Stumpengrunde) ging ein-
mal um die zwölfte Stunde nachts durch den Riesengrund über das Wasser, da
kam Rübezahl mit spitziger Kappe und mit einer Pfeife im Mund, mit einer
Schüssel in der Hand und sagte, er sollte sie nehmen, es wären Dukaten darin.
Er musste sie nehmen, obgleich er sah, dass nur Kartoffelschalen darin waren.
Als Rübezahl fort war, schüttete er die Schüssel aus, nahm sie aber selbst noch
mit, um sie zu Hause zu gebrauchen. Da fand er aber noch einen Dukaten
darin.
2. Mein Mann und meine beiden Söhne wollten zum heiligen Abend von
Krummhübel nach Hause gehen. In der Nähe der Riesenbaude aber verirrten
sie sich im Nebel und kamen immer wieder an den alten Ort zurück. Das
machte Rübezahl. Ein paarmal wären sie beinahe in den Melzer Grund gestürzt,
aber die Schutzgeister sagten: 'Jesses, ihr verunglückt'. Sie sind statt mittags,
wie sie wollten, erst am Abend nach Hause gekommen.
3. Alte Leute, die bei der jetzigen Riesenbaude Gras mähten, haben gesehen,
wie Rübezahl von der Schneekoppe zum Brunnberg lief. Ein Mann kam einmal
von der Stelle, wo jetzt (seit 1847) die Riesenbaude steht, herunter in den Riesen-
grund mit einer Hucke voll Heu und ass sein Frühstück. Da sah er, wie jemand
von der Schneekoppe auf den Brunnberg durch die Luft hinschwärmte. Erdachte:
•Du Rübezahl-Aas, du willst gewiss ein Gewitter machen'. In demselben Augen-
blicke bekam er eine furchtbare Ohrfeige. Da lief er davon."
Meine Frage, ob Rübezahl mehr gut oder schlecht gewesen wäre, beant-
wortete Katharia Boensch dahin, dass er wohl mehr ein böser Geist war.
Die Anschauungen über Rübezahl aus dem auf der Rückseite des Brunn-
berges gelegenen Blaugrund erfuhr ich von dem dort 184<i geborenen, seit 1905
aber in Dunkeltal wohnhaften Feldgärtner Ignaz Mergans:
„Meist hielt sich Rübezahl im Teufelsgärtchen auf, das eigentlich Rübezahls
Lustgarten heisst, zuweilen auch in der Blauhölle. Im Blaugrund selbst wurde
er nicht gesehen; dagegen erzählten die Ureltern, dass man ihn öfters im Riesen-
grund gesehen hätte.
Um das Teufelsgärtchen herum hatte Rübezahl Goldblätter ausgestreut, die
er sich aus Enzianblättern gemacht hatte. Im Garten hatte er einen Apfelbaum, der
vielleicht jetzt noch zu finden ist. Es ist ein Zwergapfelbaum. Die Äpfel waren
nicht grösser als etwa Ebereschenbeeren. Einmal, Ende der 1870 er oder Anfang
der 1880er Jahre, sind sie reif geworden; der Vater des jetzigen Ortsvorstehers
von Petzer hat sie nach Prag als Delikatesse geschickt. Piübezahl pflegte viele
Blumen, besonders Enzian, Habmichlieb, Almonie (weisse Blume, wovon 8 — 10
auf einem Stengel), auch Teufelsbart. Alle seltenen Pflanzen im Gebirge sollen
von Rübezahl stammen.
Eltern und Ureltern schilderten Rübezahl als einen Mann im grauen Anzug
mit langem Bart. Getanzt hat Rübezahl öfters für sich allein auf einem ebenen
Fleck, aber nicht in Gesellschaft. Seine Frau hiess Emma.
Einmal in meinem Leben, als ich etwa 15 Jahr alt war, sah ich zusammen
mit meinem Bruder und meiner Schwester einen grossen Mann (anderthalbmal so
gross als ein gewöhnlicher Mann) mit grauem Anzug und tüchtigem grossem
Hut mit gewaltig grosser Krampe in der Blauhölle, wo kein Mensch und kein
Wild hingelangen kann. Von Simmalehnich ging er über eine grosse Kluft mit
einem Schritt zur Blauhölle, wie ein Mensch es nicht fertig bekommt. Er blieb
sodann mindestens eine Viertelstunde ganz still stehen, die Hände gegen die
Seiten gestützt. Dann wurde er immer undeutlicher zu sehen, bis er ganz zer-
128 Loewe:
gangen war. Wir dachten uns gleich, dass es Rübezahl wäre. Als wir es
unserem Vater erzählten, sagte er auch, es wäre Rübezahl gewesen; nun würde
es bald Winter. Am Nachmittag desselben Tages schneite es schon.
Etwa 1887 sah ich Rübezahl noch einmal, als ich auf meiner Heuung auf
dem Steinboden beschäftigt war. Er war gross, trug grauen Rock und graue
Hose, aber eine grüne Weste wie ein Tiroler. Er erschien über einer Kniescheibe,
verschwand aber sehr schnell wieder. Das war morgens 9 Uhr; am Nachmittag
gab es ein furchtbares Gewitter mit Schlössen. Rübezahl wollte mir wohl an
deuten, dass ich mich von dort entfernen sollte."
Meine Fragen, ob Rübezahl die Leute irre geführt und geneckt sowie Eulen-
spiegelstreiche gemacht hätte, verneinte Ignaz Mergans: Rübezahl sei ein guter
Geist gewesen, der niemandem etwas zuleide getan hätte. Auch war Mergans
nicht bekannt, dass Rübezahl Mädchen gern gehabt hätte.
Auch die Ehefrau von Ignaz Mergans, die in den oberhalb des Blaugrundes
stehenden Brunnbergbauden 1843 geborene Juliane Mergans, geb. Richter, be-
zeichnete Rübezahl (Ribenzäl) als einen guten Geist, der niemandem etwas zuleide
getan hätte. Bemerkenswert ist auch ihre Antwort: 'Rübezahl wird auch heute
noch leben'. Weiteres konnte ich nicht von ihr erfahren.
Aus den Richterbauden erfuhr ich einiges von dem dort seit 1847 befind-
lichen, 1*41 in Gross-Aupa geborenen Stefan Taseler (Spitzname Leischner). Sein
Wissen über Rübezahl hat er meist aus den Richterbauden, weniger von seinem
Vater. Er berichtete folgendes:
„Rübezahl (Ribenzfil) war ein sehr grosser Mann mit langem Bart und
langer Nase.
Er hat sich oft lange mit einem Mädchen beschäftigt, dann wieder mit einem
anderen. Oft hat er ein Mädchen auf lange Zeit verlassen; dann kam er wieder
und tat ihr Gutes. Er hat den Leuten überhaupt oft Gutes getan, niemals aber
etwas Büses. Er war vermögend und hat immer Geld bei sich gehabt; auch
Bergwerke hat er besessen. Auch mit Kräutern hat er sich viel abgegeben.
Öfters hat er auch prophezeit.
Rübezahl war ein Geist. Er lässt sich aber jetzt nicht mehr spüren. Es
muss ihn irgendwer bezwungen haben. Ebenso den Nachtjäger, der sich heute
auch nicht mehr spüren lässt.
Gewitter hat Rübezahl nicht gemacht. Das tat vielmehr die Kröllmaid
(Krälmüt) auf dem Kröllberg, wo jetzt die Kröllbaude steht. Sie war klein wie
ein Kind, trug weibliche Kleider und hatte ein altes Gesicht. Mein Vater hat sie
einmal gesehen, wie sie im Knieholz herumsprang: darauf entstand ein Ge-
witter."
Aus Gross-Aupa erhielt ich von dem daselbst 1833 geborenen Feldgärtner
Stefan Mitlöhn er, dessen Eltern gleichfalls aus Gross-Aupa waren, folgende
Auskunft:
„Rübezahl (Ribenzäl) sah verschieden aus: er konnte sich in einen grossen
Herrn oder einen Forstmann verwandeln, auch in einen Hund oder eine Katze,
in einen Raben oder einen Habicht; am Brunnberg gibt es Habichte. Zeitweilig
hat er einen langen weissen Bart gehabt, auch langes weisses Haar.
Gewohnt hat Rübezahl meist in seinem Garten und in seinen Bergwerken
am Kiesberg. Der Garten befindet sich im Knieholz, darin soll ein Birnbaum
stehen. Einmal wollten Leute Rübezahls Garten berauben; da machte er ein
Gewitter, dass sie nicht dazu konnten.
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 129
Wenn man zu Rübezahl sagte 'Herr Johannes', dann war er freundlich;
wenn man aber sagte 'Rübezahl', dann spielte er einem einen Possen. Man
nannte ihn auch den Berggeist.
Rübezahl hat im Gebirge auch Gewitter gemacht. Er ist auch als Wurzel-
hacker gegangen, hat die Kräuter in der Apotheke verkauft und das Geld weg-
geschenkt. Auch sonst hat er Leuten geholfen. Er hat aber auch viel Streiche
gemacht. Wenn die Leute tanzten, hat er mitgetanzt; er war dabei immer An-
führer; die Mädchen haben sich mit ihm unterhalten. Wenn ihn Leute geärgert
haben, so hat er sie irre geführt, zuletzt aber doch wieder auf den richtigen
Weg gebracht.
Rübezahl kam einmal oben auf dem Gebirge zu einem armen Mann, der
ihm seine Not klagte. Da gab Rübezahl ihm Gras, das er seiner Ziege zu fressen
geben sollte. Die Ziege aber krepierte davon. Als der Mann nun die Ziege
aufschnitt, hatte sie so viel Dukaten im Leib, dass er davon reich wurde.
Von Rübezahl wurde mehr gesprochen als vom Nachtjäger. Wenn sich
jemand gesetzt hat, wo der Nachtjäger in der Nähe war, so hat er sich ver-
laufen. Der Feuermann brannte wie eine Garbe Stroh, brachte aber keine
Gefahr."
In Marschendorf erfuhr ich von dem daselbst 1850 geborenen Landwirt
Johann Demuth folgendes:
„Von Rübezahl wird noch viel erzählt. Er war Botaniker und ist mit den
Kräutern, die er gepflückt hat, in die Städte gefahren und hat sie dort verkauft.
Er hat auch viel Neckereien getrieben."
Aus Marschendorf berichtete mir ferner der dort 1853 geborene und jetzt
noch wohnhafte Schlossermeister Anton Renner:
„Der Nachtjäger soll mit kleinen Hunden des Nachts gejagt und dabei die
Leute irre geführt haben; Rübezahl dagegen soll bei Tage, besonders bei Nebel,
diejenigen irre geführt haben, die ihn geneckt hätten. Auch soll er öfters Hoch-
wasser prophezeit haben, das dann auch gekommen sei."
Endlich erhielt ich in Marschendorf von dem daselbst 1848 geborenen
Schneidermeister Franz Boensch folgende Auskunft:
„ Von Rübezahl wurde mehr als vom Nachtjäger und vom Feuermann er-
zählt. Er war der Berggeist. Manchen Leuten tat er Gutes, manchen Böses.
Manche Leute führte er auch irre. Bald sah er aus wie ein Greis mit langem
Bart, bald wie ein Jäger, bald wie ein zerlumpter Bettler.
Auf Hochzeiten erschien Rübezahl öfters und machte Geschenke; machte
man ihm dabei etwas nicht recht, so machte er am anderen Tage einen Spuk. —
Er gab auch den Leuten Kräuter und Blätter, die zu Goldmünzen wurden, am
anderen Tage aber wieder verschwanden.
Wenn die Kräuterweiber Rübezahls Garten zu nahe kamen, so hat er sie
davongejagt.
Rübezahl soll auch den Leuten die Meisterwurzel gegen Viehkrankheit ge-
geben haben. Die Wurzel, welche stinken soll, wurde zerrieben und dem Vieh
eingegeben."
In den zu Klein-Aupa gehörigen Grenzbauden gab mir der 1S29 dort ge-
borene Feldgärtner Johann Rose folgende Auskunft:
„El. wird noch jetzt viel von Rübezahl gesprochen, mehr als vom Nachtjäger.
Rübezahl hielt sich meist auf den Bergen nach der Schneekoppe zu auf.
Armen Leuten hat er oft geholfen. Er hat auch den Leuten gesagt, welches
Kraut für jede Krankheit gut ist.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1911. Heft 2. o
130
Loewe:
Rübezahl hat auch prophezeit. So hat er zum Beispiel prophezeit, dass die
Welt mit Brettern verschlagen wird. Das geht jetzt in Erfüllung; ein Holzzaun
ist jetzt die preussisch-österreichische Grenze entlang von Marschendorf bis Ober-
Klein-Aupa gezogen. Er hat auch prophezeit, dass die Kuh, die auf die Hutweide
getrieben würde, eine goldene Schelle tragen wird. Es wird jetzt aber gar
keine Kuh mehr auf die Hutweide getrieben. Die Prophezeiung ist also nicht
falsch. Genarrt hat Rübezahl die Leute nicht; er war ein wahrhaftiger Prophet."-
Weiter berichtete mir der in den Grenzbauden 1845 geborene und jetzt in den
gleichfalls zu Ober-Klein-Aupa gehörigen Neuhäusern wohnhafte Florian Klein
folgendes:
„Es wird heute noch vom Nachtjäger gesprochen, noch mehr aber von
Rübezahl.
Rübezahl hat sich meist auf dem Kamm zwischen Peterbaude und Schnee-
grubenbaude aufgehalten.
Sein ganzer Körper war mit Graubart überwachsen, so wie er an den Bäumen
hängt; nur die Stirn war weiss. Genährt hat er sich nur von Kräutern.
Armen Leuten hat Rübezahl oft geholfen, indem er sie beschenkte. Doch
hat er auch die Menschen oft in die Irre geführt; der Nachtjäger tat das nicht.
Wenn jemand sagte, dass Rübezahl nichts tauge, so machte er ein furchtbares
Unwetter, dass man nicht von der Stelle gehen konnte.
Mein Vater erzählte auch, wie sein Grossvater, der gleichfalls schon aus
Klein-Aupa war, einmal von der Peterbaude nach Schreiberhau ging, indem er
zwei Herren über das Gebirge geleitete. Auf dem Wege sahen sie immer je-
manden vor sich gehen, der ganz grau aussah und einen grünen Hut mit Federn
darauf trug. Sie wollten ihn gern einholen. Wenn sie aber schnell liefen, dann
lief er um so schneller. Es war in der Nähe der Schneegruben. Als sie ihm
ganz nahe kamen, verschwand er in einem Knieholzstrauch; sie konnten dort aber
nichts mehr finden. Da dachten sie, es wäre Rübezahl."
Zu dieser Erzählung fügte Florian Klein noch zwei bekannte, die ich hier
in der Form, wie er sie vortrug, wiedergebe (die zweite mit Berufung wieder
auf seinen Vater):
„1. Rübezahl hat sich von weit her eine Frau namens Emma gestohlen. Er
schaffte sie in seinen Garten auf der grossen Sturmhaube nahe bei der Peter-
baude und den Schneegruben. Emma hat immer geweint, weil er so hässlich
war. Da pflanzte er Wasserrüben; sie konnte daraus machen, was sie wollte.
Sie machte sich Gesellschaft daraus. Wenn aber Rübezahl wollte, war die Ge-
sellschaft wieder fort. Zuletzt raubte ein Mann die Emma; sie slarb aber in.
seinen Armen, bevor er sie in seine Heimat brachte."
„2. Eine Frau ging in den Wald und holte sich Gras für die Ziegen. Sie
nahm ihre drei Kinder mit; das kleinste hatte sie auf dem Rücken in einem
Korbe. Als sie das Gras mähte, schrie der Junge sehr. Da sagte sie: 'Wenn.
du nicht ruhig wirst, so gebe ich dich Rübezahl'. Als er eingeschlafen war,
mähte sie weiter. Der Kleine erwachte wieder und schrie noch schärfer. Da.
sagte sie: 'Wenn du jetzt nicht ruhig bist, so gebe ich dich Rübezahl wirklich'.
Da erschien Rübezahl und wollte den Kleinen haben; sie wollte ihn aber nicht
geben. Als sie nach Hause ging, setzte sie den Jungen auf das Gras, das sie im.
Korb auf dem Rücken trug. Der Korb wurde schwer; da warf sie etwas Gras
fort. Als sie nach Hause kam, gab sie das Gras ihren Ziegen. Als sie die
Ziegen abends wieder füttern wollte, lagen diese tot im Stall. Ihr Mann
schlachtete darauf die Ziegen aus; da hatten sie Goldklumpen im Leibe. Ein
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 131
klein wenig Gras war noch im Korb geblieben; das war auch zu Gold ge-
worden."
In Johannisbad erfuhr ich von dem daselbst 1837 geborenen früheren Weber
und jetzigen Villenbesitzer Johann Zippel folgendes:
„Es wurde früher vom Nachtjäger und von Rübezahl erzählt; ersterer sollte
auf den Bergen bei Freiheit, letzterer im Knieholz um die Schneekoppe sein.
Rübezahl soll die Leute im Gebirge irre geführt haben. Einmal soll er in eine
Stadt zu einem Barbier als Gehilfe gegangen sein."
In Schwarzenberg berichtete mir der dort 1849 geborene Tagarbeiter Johann
Kihnel:
„Erzählt wurde vom Wassermann, der eine rote Kappe trug und klein war.
Er wohnte in Seiffenbach unterhalb Schwarzenbergs und im Aupatale. Den Nacht-
jäger habe ich stets des Nachts gehört, als ich noch jung war; jetzt lässt er sich
nicht mehr hören. Er wohnte auf dem Schwarzenberg. Einmal sah ich, als ich
16 Jahr alt war, vom Schwarzenberg ein grosses blaues Wesen mit ungeheuer
langem Schweif nach unten ziehen. Als ich es am nächsten Tage meinem Vater
erzählte, sagte er: 'Das war der Geier; wenn du ihn blau gesehen hast, hat er den
Leuten unten Getreide gebracht; wenn er aber rot ist, dann bringt er Feuer und
zündet Häuser an.' Dass Rübezahl durch den Wald gegangen ist und mit Leuten
gesprochen hat, hört man bisweilen jetzt noch von alten Leuten; Rübezahl
(Rlbenzäl) war hald hier, bald dort.
Rübezahl hat die Leute sehr viel irre geführt. Oft verkleidete er sich als
Förster oder auf andere Weise, gesellte sich so zu Leuten, verschwand aber bald
wieder.
Rübezahl hat prophezeit, dass die Menschen immer elender werden und in
einigen tausend Jahren aussterben würden. Dann würde die Welt wieder so öde
werden wie vor Hunderttausenden von Jahren, dann aber wieder neu angepflanzt.
Eine Truppe Musikanten zog einmal durch den Wald und spielte ein Stück.
Da kam ein gewaltig grosser Mann (es war Rübezahl, aber sie erkannten ihn
nicht) und sagte: 'Ihr macht mir wirklich schöne Musik; was bin ich euch dafür
schuldig?' Die Musikanten antworteten: 'Wir verlangen dafür nichts.' Der Mann
aber sagte: 'Ich will euch für das schöne Stück doch etwas geben; zeigt einmal
eure Mützen her.' Darauf tat er jedem etwas in seine Mütze. Als der Mann sich
entfernt hatte, erkannten sie, dass es Pferdemist war, und warfen es fort. Am
nächsten Morgen bürstete einer von ihnen seine Mütze ab und fand dabei plötzlich
noch ein Goldstück. Mehr konnte er nicht finden, die anderen aber fanden
gar nichts."
II. Der Nordosten.
Sagen aus Wolfshau berichtete mir der dort 1839 geborene, seit 1869 in
Brückenberg wohnhafte Benjamin Wolf:
„In der Schlingelbaude soll Rübezahl gehaust und teilweis dort mit den
Fremden yerkehrt haben. — Als Rübezahls Kegelkugel wurde ein grosser runder
Stein auf dem Wege von Rübezahls Kegelbahn nach Seidorf gezeigt."
Zwei auch sonst bekannte Erzählungen gab Benjamin Wolf in besonderer
Gestalt:
1. „Vor uralter Zeit siedelten sich hier (im Riesengebirge) vertriebene Be-
wohner an. Rings umher war alles Urwald. Den Berggeist Rübezahl, der da-
mals, wie auch heute noch, seine Existenz hier hatte, ärgerte dies furchtbar; er
wollte die Ansiedler vertreiben. Er sann auf Mittel und kam auf den Einfall,
einen grossen Felsblock in den grossen Teich zu werfen, um dadurch eine Über-
132 Loewe:
schwemmung der Gegend zu verursachen. Zu diesem Zweck ging er über den
Silberkamm und holte sich von den Dreisteinen einen grossen Fels, welchen er
auf dem Rücken trug. Zuletzt wurde ihm der Stein zu schwer. Da begegnete
ihm eine Hexe, welche zu ihm sagte, er sollte doch den Stein ein wenig absetzen
und sich ausruhen. Er sagte, er könnte das nicht: setzte er den Stein ab, so
könnte er ihn nicht mehr erheben; er müsste ihn dann stehen lassen. Da meinte
die Hexe, sie würde ihm helfen. Darauf setzte er den Stein ab. Nachdem er sich
etwas ausgeruht hatte, wollte er mit dem Stein weitergehen, aber er konnte ihn
nicht mehr erheben, und die Hexe half ihm nicht. Darauf wurde er zornig, griff
die Hexe und warf sie an den Stein. So sieht man heute noch die zu Stein ge-
wordene Hexe am Mittagstein kleben.
2. Einstens begegnete Rübezahl auf seiner Wanderung einem armen Weibe,
die Heilkräuter suchte. Er forderte sie auf, ihre Kräuter wegzuwerfen; er wollte
ihr andere geben und füllte ihren Korb mit Laub. Als die Frau aus seinem Ge-
sichtskreise war, warf sie das Laub aus dem Korbe. Als sie die letzten Blätter
herauswerfen wollte, war es Gold. Nun suchte sie nach dem Weggeworfenen,
konnte aber nichts mehr finden."
In Krummhübel erhielt ich von dem 1844 dort geborenen Heinrich Linke,
der zuerst Träger für die Schneekoppe und dann von 1866 — Ls96 Bergführer ge-
wesen war, folgende Auskunft:
„Rübezahls Garten lag auf dem Brunnberg. Am Gehänge wurde ein grosser
Stein Rübezahls Kaffeemühle genannt. Im Lomnitztal befindet sich über dem
Gasthof 'Waldhaus' in Krummhübel seitlich vom Lomnitzkessel ein rundes Loch,
das Rübezahls Badewanne hiess. Rübezahls Würfel liegt unter der Neuen
Schlesischen Baude; er wurde auch Rübezahls Schlummerkissen genannt. Über
der Peterbaude hatte Rübezahl seine Gruft; er war aber immer wieder da. Wenn
die Witterung schlecht war, sagte man, dass Rübezahl auf seiner Kegelbahn über
der Kirche Wang Kegel schübe, nachdem er ein grosses Stück vom Gebirge
herabgekommen wäre.
Rübezahl war ein grosser Mann mit grossem grauem Bart und grossem Stock.
Er trug einen grauen Rock mit Moos. Das Haar trug er lang; es war moosgrün.
Sein Hut war hoch, zerknittert und moosfarbig.
Rübezahl wurde ärgerlich, wenn man oben auf dem Gebirge weissen Enzian
pflückte. Auch ärgerte er sich, wenn sein Bart, der Teufelsbart, abgepflückt wurde.
In solchen Fällen machte er Gewitter.
Von Rübezahl wurde immer erzählt, wenig vom Nachtjäger und vom grossen
Leuchter."
In Krummhübel erfuhr ich weiteres von dem Briefträger Robert Fleiss, der
1847 in den Baberhäusern geboren wurde, aber schon 1855 nach Krummhübel kam,
von wo er grösstenteils sein Wissen über Rübezahl hat. Er war eine Zeitlang
gleichfalls Gebirgsführer. Er berichtete mir folgendes:
„Rübezahls Lustgarten lag am Brunnberg. Auf seiner Kegelbahn0 hat Rübe-
zahl so stark gekegelt, dass die Kugeln bis Ober-Arnsdorf geflogen sind, wo sie
noch liegen.
Rübezahls Name kommt daher, dass er Rüben zählen musste, als er die
Emma erhalten wollte; da er richtig zählte, so nahm sie ihn zum Mann. Vorher
hatte Rübezahl die Emma gestohlen und in einem Ranzen fortgeschafft."
Ausführlicher als die Geschichte von Emma gab Robert Fleiss zwei andere
Erzählungen, von denen die erste weniger bekannt ist:
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 133
1. „Rübezahls Schnurrbartbaude. Ein Hirt, der seine Kühe über das
Gehänge trieb, verliebte sich in ein Mädchen. Die aber wollte lieber den Förster
heiraten. Der Hirt klagte Rübezahl sein Leid. Dieser erschien bald als Seifen-
händler und verkaufte dem Mädchen ein Stück Seife. Als sie die Seife ge-
brauchte, wuchs ihr ein Schnurrbart. Nun mochte sie der Förster nicht mehr;
der Hirt aber nahm sie. Vierzehn Tage nach der Hochzeit aber war der Schnurr-
bart wieder verschwunden. Die Baude, in der das Mädchen wohnte, erhielt den
Namen 'Rübezahls Schnurrbartbaude'; so heisst noch jetzt ein Gasthaus oberhalb
Krummhübeis. "
2. „Rübezahl will Schlesien überschwemmen. Rübezahl wollte
Schlesien ersäufen, weil es zu Preussen und nicht zu Österreich gehörte. Sein
Revier war auf dem Kamm. Er brachte von dort einen grossen Stein geschleppt
und wollte ihn in den grossen Teich werfen. Da begegnete ihm eine Frau, die
zu ihm sagte, er solle ruhen. Als er nach dem Ruhen weiter gehen wollte,
brachte er den Stein nicht mehr von der Stelle. An dem Stein sind noch die
Glieder der Kette zu sehen, mit der er sich ihn angebunden hatte. Auch das
Gesicht der alten Frau ist daran zu sehen. Mit der Kette hat er der Frau alles
verschlossen. Er sagte: 'Schön steht's nicht, aber halten wird's'."
Vieles über Rübezahl wusste der 1861 in Krummhübel geborene und dort
jetzt noch wohnhafte Briefträger Stefan Trömer nach den Erzählungen seines
Vaters, des Bergführers Trömer aus Krummhübel (1822— 1904), zu berichten. Von
ihm erfuhr ich folgendes:
„Aufgehalten hat sich Rübezahl meist auf dem Kamm. Bei schlechtem Wetter
kam er bisweilen herunter, so nach Warmbrunn und nach Krummhübel. Seine
Heimat war eigentlich Spindelmühle. Seine Gruft hatte er über der Peterbaude
am Manstein. Bei den Mädelsteinen liegt sein Sarg. Zwischen dem Pantsche-
falle und dem Krekonosch ist eine Felspartie, die 'Rübezahls Schloss' heisst.
Bei der Neuen Schlesischen Baude hatte Rübezahl seinen Würfel; oft bot er
Touristen an, dass sie mit ihm würfeln sollten; denen aber war der Stein, der
wohl zwanzig Zentner wiegt, zu schwer. — Hinter der Kirche Wang hatte Rübe-
zahl seine Kegelbahn; dort hat er oft andere Leute im Kegelspie] übertölpelt.
Auf der kleinen Koppe war Rübezahls Kaffeemühle. Für die Beerensucher
und die Förster hat er dort Kaffee gekocht: dann sah man eine Wolkenbildung,
als wenn Rauch emporstieg. Ärgerte man ihn aber, so lief er mit der Kurbel fort,
so dass sich niemand mehr Kaffee kochen konnte. Er ging dann auf den Ziegen-
rücken, zuweilen auch herunter nach Spindelmühle.
Rübezahl war öfters auch auf dem Luderfelsen an der schwarzen Koppe; sah
er von dort Leute, die ihn ärgerten, so liess er Steine herabrollen. — An be-
stimmten Stellen bei Krummhübel durfte man Rübezahl nicht rufen; sonst liess
er entweder ein grosses Unwetter kommen oder donnerartiges Gestein von oben.
Das waren Stellen, die zu seinem Reiche gehörten.
Bei der Bergschmiede hatte Rübezahl ein Erzbergwerk1). In seinem Garten
hatte er allerhand Früchte für Gemüse, besonders Wasserrüben; alle Tage bis zu
seinem Tode ass er einen Teller Rübensuppe.
Rübezahl hatte einen langen Bart, war kräftig und gross und trug einen
Spitzhut und einen Stock, wie man ihn im Busch abschneidet. Wenn ihn jemand
1) Meine Frage, ob Rübezahl auch im Melzergrund ein Bergwerk gehabt habe, be-
jahte Trömer mit dem Zusätze 'dort sieht man noch Löcher'; gleichwohl ist die Angabe
vielleicht nur durch meine Frage veranlasst worden.
134 Loewe:
ärgerte, nahm er plötzlich eine andere Gestalt an, um zu foppen. Er erschien
dann als Bummler oder als Tourist, ging- dann mit den Leuten, die ihn gekränkt
hatten, ein Stück und gab ihnen dann eine falsche Wegrichtung an. Doch hat er
auch viel Gutes getan.
Bei guter Laune ging Rübezahl unter die Leute und tanzte. Die Mädchen hat
er sehr gern gehabt und viele verführt.
Rübezahl hat gesagt, wenn der feurige Hund ins Land kommen würde, dann
käme eine schlimme Zeit; mit dem feurigen Hund war die Eisenbahn gemeint."
Ausserdem erzählte mir Stefan Trümer auch drei Geschichten von Rübezahl,
darunter die erste vom Mittagsstein, aber in sehr abweichender Gestalt.
1.. Rübezahl will Schlesien überschwemmen. Rübezahl zog einmal
von Spindelmühle zur Teufelswiese; da traf er eine alte Preiselbeeren suchende
Frau, mit der er früher einmal einen Streit gehabt hatte. Sie erkannte ihn nicht;
er aber half ihr suchen. Zuletzt lud sie sich einen grossen Sack voll Preisel-
beeren auf ihre Hucke, die sie dann abwechselnd mit Rübezahl trug. Rübezahl
wollte mit den Preiselbeeren Schlesien überschwemmen, dadurch, dass er sie in
den grossen Teich warf, weil die Frau aus Schlesien herübergekommen war. Doch
tat es ihm schliesslich leid, Schlesien Böses zuzufügen. Er sagte vielmehr zu der
Frau, als sie die Preiselbeeren trug, sie solle einmal ausruhen. Als sie ausruhte, ver-
steinerte er sie; man sieht sie noch am Mittagstein.
2. Die Steine auf der Schneekoppe. Schuljungen aus Spindelmühle
hatten einmal Rübezahl geärgert. Er nahm sie nun hinauf bis zum Koppenkegel,
wo sie zur Strafe die Steine klein klopfen mussten. Dafür aber bekamen sie
jeder einen Teller Rübensuppe. An einem Tage hatten sie die Steine klein ge-
klopft. Davon sind die Steine auf der Koppe meist nicht grösser als ein Tassen-
kopf. Rübezahl begleitete die Jungen bis zum Ziegenrücken und schickte sie
dann nach Hause mit der Drohung, dass sie, wenn sie ihn noch einmal ärgerten, die
Steine an der Eisenkoppe klein klopfen müssten. Dort liegen nämlich grössere Steine.
3. Das Seiffenloch. Rübezahl wollte einmal vom Seiffenloch aus (woher
der SeifTen kommt) zur Hampelbaude gehen. Ein Förster, der ihn nicht erkannte,
hielt ihn jedoch schon im Seiffenloch an und sagte, er solle auf dem Wege bleiben.
Wütend darüber riss Rübezahl über vier Morgen junger Schonung heraus und
schleuderte sie hinab: daher jetzt noch der kahle Fleck im Seiffenloch."
In Steinseiffen teilte mir der dort 1840 geborene Albert Baumert folgendes mit:
„Es wurde erzählt, dass einmal ein Mann von Steinseiffen nach Warmbrunn
ging; unterwegs gesellte sich ein anderer Mann zu ihm, der sich als Rübezahl
entpuppte. Sie kamen beide auf Heilkräuter zu sprechen und Rübezahl lehrte den
Mann ein darauf bezügliches Sprüchlein; die Worte des Sprüchleins habe ich vergessen.
Im Juli LSG4 ging ich mit dem Knecht meines Schwiegervaters aus Brücken-
berg einen Weg hinter der Hampelbaude; da brach ein furchtbarer Sturm aus;
der Knecht aber sagte, das machte Rübezahl."
In Steinseiffen erfuhr ich auch noch einiges von Beate Ende, geb. Mai, die
1835 in Saalberg geboren wurde, 18G6 nach Krummhübel, 1868 aber nach Stein-
seiffen kam. Sie will von Rübezahl hauptsächlich erst in Steinseiffen gehört haben,
wo von dem Mann, dem Rübezahl Geld borgte und zu einem bestimmten Termin
zurückverlangte, sowie von der Frau, der er Blätter in Gold verwandelte, erzählt
worden sei; alten Kräuterweibern und Holzhackern habe Rübezahl geholfen, indem
er in verwandelter Gestalt zu ihnen getreten wäre1).
1) Nicht ganz sicher bin ich, ob die allerdings zuversichtliche Angabe der Frau
Weiteres über Eübezahl im heutigen Volksglauben. 135
In Fischbach erzähte mir die dort 183<> geborene Christiane Fichtner, geb.
Deunert, nach dem Bericht ihrer Grosseltern nachstehende Geschichte:
„Ein Ehepaar setzte sich auf der Schneekoppe nieder. Der Mann sagte:
'Ich möchte noch einmal jung sein, aber den Verstand haben wie jetzt'. Die
Frau dagegen meinte: 'Ich möchte noch einmal jung sein, aber so, wie ich als
Kind war'. Da trat Rübezahl hinter sie als graues Männlein und sagte: 'Was ihr
euch gewünscht habt, soll euch werden'. Darauf schliefen Mann und Frau ein.
Dem Manne träumte, er wäre wieder ein Kind, aber viel verständiger als andere
Kinder. Alle waren ihm feindlich, weil er als Kind so vorwitzig war. Er kam
in die Lehre, musste aber viele Meister haben, weil er mehr verstehen wollte als
diese. Endlich verheiratete er sich; aber es ging ihm noch weiter schlecht wegen
seines Vorwitzes. Der Frau träumte, sie wäre wieder ein Kind bei ihren Eltern
und so glücklich, wie nur ein Kind sein kann. Dann wurde sie Jungfrau, und
alle waren freundlich gegen sie, weil sie so vernünftig war. Sie verheiratete sich
darauf und fühlte sich in ihrer Ehe glücklich. Da wachten Mann und Frau auf.
Der Mann sagte: 'Gott sei Dank, dass ich aufgewacht bin; ich habe ein schreck-
liches Leben gehabt'. Die Frau aber versetzte: 'Ich hätte gern noch weiter
geträumt, denn ich bin so glücklich gewesen'."
Einige Bemerkungen über Rübezahl machte mir auch die in Fischbach 1836
geborene und noch wohnhafte Marie Deunert, die Schwester der oben genannten
Christiane Fichtner:
„Die Grosseltern haben vom Nachtjäger und von Rübezahl gesprochen.
Letzterer sollte aber nicht in Fischbach, sondern im Gebirge sein [Fischbach
liegt im Vorgebirge]. — Ein armes Brautpaar klagte sich einmal seine Not. Da
kam Rübezahl und machte beide Brautleute reich, so dass sie sich heiraten konnten."
In Fischbach berichtete mir weiter der dort 1861 geborene Wilhelm Kuhnt:
„Die alten Leute in Fischbach glaubten früher, dass Rübezahl im Gebirge
wäre, sprachen aber weniger von ihm als von anderen Geistern. Doch erzählte
die jetzt etwa GO Jahre alte, in Fischbach geborene, jetzt aber in Lomnitz
wohnende Frau Ernestine Krügel, dass sie, als sie zusammen mit Beate Ende aus
Fischbach am Forstberge Beeren suchte, plötzlich Rübezahl vor ihr gestanden
habe; er habe so ausgesehen, wie man ihn darstellt; sie sei sehr erschrocken
gewesen, aber Rübezahl sei sogleich wieder verschwunden."
Von den mir von Kuhnt genannten Frauen konnte ich wenigstens Frau Beate
Ende, geb. Haertel, sprechen, die 1843 in Erdmannsdorf geboren war, vom fünften
Jahre ab in Waltersdorf bei Kupferberg lebte und jetzt auch in Fischbach wohnt.
Sie berichtete mir:
„Ich habe einmal die weisse Frau gesehen, die sich als Braut vom Schloss
in den Wallgraben gestürzt hat und nun umgeht. Von dieser wird in Fischbach
erzählt. In der Nähe unseres Hauses sieht man an einer bestimmten Stelle ein
Licht brennen, das nichts Natürliches ist; man nennt es den goldenen Esel.
Rübezahl ist oben im Gebirge; aber auch in Fischbach wurde viel über ihn
gesprochen. Gesehen habe ich ihn nicht. Rübezahl machte Dummheiten wie
Eulenspiegel."1)
Ende, dass Rübezahl seinen Sitz am Rabenstein zwischen Steinseiffen und Wolfshau ge-
habt haben soll, nicht durch meine Frage, ob der Berggeist sich nicht in der Nähe von
Krummhübel und Wolfshau aufgehalten habe, hervorgerufen war.
1) An letztere Bemerkung knüpfte sie noch die Erzählung mit der Pointe: 'Wenn
sich auf einer Feder so schlecht liegt, wie wird sich erst auf vielen liegen' (vgl. oben
18, 19).
13(i Loewe:
Einiges berichtete mir in dieser Gegend noch die 1830 in Quirl geborene,
jetzt in der zu Erdmannsdorf gehörigen Kolonie Scheibe wohnhafte Auguste Fels-
mann, geb. Lorenz:
„Die alten Leute haben viel von Rübezahl erzählt. Er war oben auf dem
Gebirge, kam von dort öfters ein Stück herunter, ging dann mit irgend jemandem
eine Strecke und entfernte sich dann wieder."
Weiteres erfuhr ich von dem 1848 in Stonsdorf geborenen Wilhelm Baumgart,
der seit 1873 in Steinseiffen wohnt:
„Den Kräutersuchern, die nichts gefunden hatten, hat Rübezahl die Säcke
gefüllt. Wenn jemand im Winter beim Holzfahren den Schlitten nicht vorwärts
brachte, so half ihm Rübezahl.
Zwei Touristen zogen einmal durch das Gebirge. Der eine rief: 'Rübezahl,
wo bist du?' Da wurde es finster und regnete furchtbar."
Dazu erzählte mir Wilhelm Baumgart noch folgendes Märchen, das er von
seiner Mutter in Stonsdorf gehört hatte:
„Rübezahl kam einmal nach Agnetendorf zu einem Bauern und wollte dort
ein Mädchen heiraten. Sie sagte darauf: 'Wenn du die Runkelrüben richtig
zählst, die wir heute gepflanzt haben, so will ich dich nehmen'. Er zählte ein-
mal; um richtig gezählt zu haben, zählte er noch einmal; es stimmte nicht. Da
zählte er zum dritten Mal, aber es stimmte wieder nicht. Da wollte ihn das
Mädchen nicht nehmen. Da zog er in die Berge und kam nach langem Hin- und
Herwandern in eine unterirdische Burg. Nachdem er dort lange herumgegangen
war, sah er ein schönes Mädchen sitzen, das ihn fragte, was er suchte. Als er
das erklärte, sagte sie, er solle dort bleiben, sie brauche einen Gefährten. So
blieb er viele hundert Jahre dort. Endlich wollte er sich die Welt wieder an-
sehen und ging wieder nach Agnetendorf und fragte, wo der betreffende Bauer
und das Mädchen wären: er hatte nicht gemerkt, dass er viele hundert Jahre im
unterirdischen Reiche gewesen war. Die Leute im Dorfe wunderten sich, dass
er dort bekannt sein wollte. Es gefiel ihm auch jetzt nicht mehr dort, und er ging
wieder in die Berge".
In Arnsdorf traf ich noch einen von den im Riesengebirge einst häufigeren
passionierten Rübezahl-Erzählern, den dort 1844 geborenen Schuhmacher August
Hertrampf. Die Geschichten hatte er, wie er sagte, teils von seinen Vorfahren
gehört, teils, als er in seiner Jugend als Kuhhirt in Brückenberg war, dort von
einem anderen Hirten, der damals schon einige dreissig Jahre zählte. Er gab mir
folgende, zum Teil allgemeiner bekannte Erzählungen:
1. Rübezahl als Gläubiger. Ein Mann in den Raschkenhäusern hatte
Not und wollte sich deshalb an Rübezahl wenden. Er ging zu diesem Zweck auf
Rübezahls Kegelbahn. Bald gesellte sich auch ein Herr in grüner Kleidung zu
ihm und fragte ihn, was ihn dorthin führte; früher war nämlich das Gebirge weit
schwerer zu begehen. Der Mann aus den Raschkenhäusern sagte nun, was ihn
dorthin führte. Der Herr fragte, ob er volles Vertrauen hätte. Der Mann sagte
ja. Da führte ihn Rübezahl — denn das war der Herr — in den Melzer Grund,
wo man den Eingang zu seiner Schatzkammer noch sieht. Er nahm einen
Schlüssel heraus, und eine Tür sprang mit einem Knall auf: da waren sie in
seinem unterirdischen Reich. Da standen viele Geldtonnen. Rübezahl fragte den
Mann, wie viel er brauchte. Der Mann nannte die Summe, und Rübezahl gab sie
ihm, sagte aber, dass er nach einer bestimmten Zeit (es waren wohl dreizehn
Jahre) das Kapital zurückzahlen sollte; wenn er das Kapital nicht hätte, sollte er
wenigstens die Zinsen bringen. — Der Mann kam aus der Not und ging zur be-
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. l;;7
stimmten Zeit mit dem Kapital wieder zu Rübezahls Kegelbahn. Da kam ein
Hauch, und Rübezahl erschien. Er sagte, ilass der Mann, weil er so pünktlich
wäre, das Geld behalten sollte.
•2. Rübezahl und die Bauern. Rübezahl kam einmal auf einer Reise zu
einem Bauern und fragte ihn, wie es ihm ginge. Der Bauer klagte ihm seine
Not. Da lachte Rübezahl und sagte: 'Ich werde Ihnen den Ofen abkaufen'. Er
kaufte darauf auch den Ofen für vieles Geld. Darauf Hess er denselben ab-
reissen und die Kacheln zu Pulver stossen. Das Pulver Hess er in kleine
Schächtelchen tun und verkaufte es auf dem Markt als Safran. Er löste dafür
eine ungeheure Menge Geld. Als die anderen Bauern das sahen, staunten sie und
rissen zu Hause auch ihre Öfen ab. Aber sie konnten das Pulver aus den
Kacheln nicht so gut herstellen. Durch Rübezahls Betrug hatten die Bauern das
Nachsehen: sie hatten nun keine Öfen und auch kein Geld. Sie gingen ihm nach
und kamen auch in ein Wirtshaus, wo er sass, erkannten ihn aber nicht. Da
sagte er: 'Ich bin ein Pferdehändler. Wenn ihr Pferde verkaufen wollt, so bringt
sie nur her oder ich gehe mit euch. Habt ihr schöne Pferde?' Die Bauern
erwiderten: 'Ja; wir möchten sie auch verkaufen, weil wir Geld gebrauchen7. Da
sagte er, sie sollten ihre Pferde holen, aber nicht die schlechtesten Gäule. Als
die Bauern fort waren, ging Rübezahl zu ihren Frauen und bot ihnen als
Handelsmann seine Ware an. Die Frauen wollten ein Mittel gegen zu viele
Kinder. Da verkaufte ihnen Rübezahl ein Pulver, wovon sie drei Messerspitzen
voll vor Sonnenaufgang nehmen sollten und ebensoviel vor dem Schlafengehen.
Er machte ein grosses Geschäft und entfernte sich. Im Wirtshaus hatten die
Bauern ihn nicht wiedergefunden. Durch das Pulver aber haben die Frauen das ganze
Bett beschmutzt, als sie bei ihren Männern schliefen. [Vgl. R. Köhler, Kl. Sehr. 1, 2-iö.]
3. Rübezahl und die Studenten. Mehrere Studenten bereisten das Ge-
birge. Unterwegs bekamen sie Hunger und Durst und wünschten sich in der
Xähe ein Gasthaus. Als sie ein Stück Weges zurückgelegt hatten, sahen sie ein
Gasthaus mit der Aufschrift 'Einkehr zum Rübezahl'. Da traten sie ein und
Hessen sich Speise und Trank geben. Einer fragte, wo hier Rübezahl zu finden
wäre. Der Wirt, der Rübezahl selbst war, ärgerte sich über den Namen Rübe-
zahl. Er bewirkte es, dass derselbe Student später schläfrig wurde. Aus diesem
Grunde mussten alle Studenten dort Quartier bis zum nächsten Tage nehmen.
Am nächsten Tage erkundigten sie sich, wo sie den Berggeist finden würden.
Der Wirt sagte ihnen eine Stelle, wo sie denselben vielleicht treffen könnten.
•Was hat der Berggeist für ein Abzeichen, dass wir ihn erkennen?' fragten die
Studenten. 'Er trägt eine Rübe unterm Arm,' lautete die Antwort. Am nächsten
Tage trafen sie denn auch einen solchen Mann. Sie baten ihn, er möchte sie
doch in sein Reich führen. Da nahm er sie mit in sein bekanntes unterirdisches
Reich am Melzer Grund. Dort fanden sie Schätze, wie sie noch keine gesehen
hatten. Da fragte er sie nach ihren Wünschen. Der eine wünschte sich viel
Geld, der andere, dass Rübezahl ihm über seine Zukunft wahrsagen sollte: der
dritte wollte wissen, ob er eine reiche Heirat machen würde. Rübezahl wahr-
sagte allen Gutes, und alles hat sich später auch so erfüllt. Zum Dank dafür
wird das Riesengebirge auch heute noch von den Nachkommen der Studenten
viel besucht. Als die Studenten das unterirdische Reich verliessen, wurden sie
gewahr, dass der vierte von ihnen - derselbe, der im Wirtshaus schläfrig ge-
worden war — fehlte. Sie fragten den Berggeist, wo er geblieben wäre. Der
aber sagte: 'Meine Zeit ist um; ich darf jetzt dorthin nicht zurückkehren.' Er
bestimmte eine Zeit, wann sie wieder da sein sollten, um den Studenten zu holen.
138 Loewe:
Als die Zeit um war und sie kamen, fanden sie den Studenten unten in Rübe-
zahls Reich auf einer Tafel sitzen, gesund und mit einem goldenen Apfel in
der Hand. Die Studenten nahmen ihn nun wieder mit; er aber starb bald
darauf.
4. Rübezahl als Schneidergesell. Rübezahl verdingte sich einmal als
Schneidergesell. Als der Meister eines Sonntag morgens in die Kirche ging, gab
er Rübezahl einen Rock, an den die Ärmel noch nicht angesetzt waren, und
sagte: 'Schmeisse Hink einmal die Ärmel heran.' Als der Meister wiederkam,
schmiss der Gesell fortwährend mit den Ärmeln nach den Armlöchern hin. Der
Meister sagte: 'Kerl, was machst du da'?' Der Gesell erwiderte: 'Sie haben
ja gesagt, ich solle die Ärmel geschwind an den Rock schmeissen; ich finde
freilich, dass sie nicht hängen bleiben.' Da liess der Meister den Rübezahl gehen
und sagte: 'Solchen Gesellen habe ich noch nicht gehabt.' Rübezahl aber sagte:
Solchen Meister habe ich noch nicht gehabt.' [Vgl. Eulenspiegel 1515, Hist. 48.]
5. Die Geburt des Kalbes. Ein Mann aus Porst wurde krank. Seine
Frau ging darauf mit seinem Wasser ins Gebirge, um es besehen zu lassen.
Rübezahl gesellte sich zu ihr und gab sich für einen Arzt aus. Er untersuchte
das Wasser und sagte, ihr Mann wäre in anderen Umständen. Als der Mann
das erfuhr, wollte er sich erhängen. Er ging in den Wald nach den Grenzbauden
zu. Auf dem Wege fand er schon einen Gehangenen; da wurde er anderen
Sinnes. Der Gehangene hatte ein Paar neue Stiefel an. Die wollte der Mann
sich aneignen; als er sie nicht ausziehen konnte, schnitt er die Gelenke durch
und steckte die Beine mitsamt den Stiefeln in einen Sack. Er irrte nun umher,
bis er spät abends nach Schildau kam. Dort fand er Aufnahme in einem Bauern-
haus. Der Bauer konnte ihm als Nachtlager nur Streu in der Stube bieten. Die
Kuh der Bauersleute warf in der Nacht ein Kalb; da es sehr kalt war, legte der
Bauer das Kalb mit auf die Streu. Als der Mann früh erwachte, glaubte er, er
hätte das Kalb geboren, und ging mit dem Bewusstsein, von seinem Leiden frei
zu sein, schnell von dannen. Mit den Beinen und Stiefeln aber wollte er sich
nicht weiter schleppen, sondern schüttete sie aus dem Sack auf die Streu. Als
die Bauersleute in die Stube kamen, war ihr Gast verschwunden. Sie fragten
sich, was hier passiert wäre. Endlich sagte der Bauer: 'Das Kalb hat den Mann
gefressen: hier siehst du noch die Stiefel an den Beinen. Sprich nur ja nicht
davon, damit wir es nicht noch mit den Gerichten zu tun bekommen.' Als der
Mann aus Forst nach Hause kam, erzählte er seiner Frau auf ihre Frage, wie es
ihm ergangen war. Da sagte die Frau: 'Du hättest doch lieber das Kalb mit-
bringen sollen; das wäre mir lieber als du.' [Vgl. H. Sachs, Fabeln 2, 13(i. 5, 11*2.]
ti. Rübezahl im grossen Teich. Ein Mann namens Kahl aus Brücken-
berg suchte einmal Enzian oben beim grossen Teich. Er hatte schon so viel
gepflückt, dass er dachte, nun hätte er eine richtige Trage, und war schon im
Begriff, den Enzian auf seine Hucke zu laden, da sah er auf einmal von weitem
einen Reiter auf einem Schimmel kommen. Der Reiter ritt direkt auf ihn zu.
Kahl dachte, es wäre der Graf von Warmbrunn, und wollte Reissaus nehmen,
weil es nicht erlaubt war, Wurzeln zu hacken. Der Reiter aber gab ihm einen
Wink, er solle stehen bleiben, stieg ab, zog unter seinem grossen Mantel eine
Wünschelrute hervor und sagte: „Hier, halten Sie mein Pferd. Ich bin nämlich
der Wassermann aus Breslau; ich habe meine Tochter hier im grossen Teich
verheiratet und will sie besuchen. Wrenn ich jetzt die Wünschelrute gebrauche,
so wird sich das Wasser teilen, und ich werde hinabsteigen. Wirft das Wasser
sodann weisse Wellen, so komme ich wieder; wirft es aber rote Wellen, dann
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 139
können Sie mein Pferd nehmen." Darauf stieg er hinab. Das Wasser warf
weisse Wellen, aber es dauerte eine lange Zeit, bis der Herr zurückkam. Dem
Kahl war indessen die Zeit lang geworden, während das Pferd Mist hatte fallen
lassen. Als der Herr plötzlich hervorkam, nahm er die Zügel in die Hand,
schwang sich auf das Pferd und sagte zu Kahl: „Zur Belohnung können Sie sich
den Pferdemist nehmen; werfen Sie ihn nicht fort; Sie werden später an mich
denken.'' Kahl legte darauf den Pferdemist in einen Sack, den er auf der Hucke
trug. Bald aber konnte er die Hucke nicht mehr tragen, weil sie zu schwer
wurde. Es schleppte sich damit noch bis zum dürren Hübel unweit der Schlingel-
baude und warf dann den Mist fort. Den Sack aber nahm er weiter mit. Seine
Frau kam ihm entgegen, weil es schon finster war. Als er ihr sein Erlebnis
erzählte, schüttete sie den Sack aus und fand darin noch ein paar Goldklumpen.
Als sie darauf beide nach den übrigen suchten, fanden sie nichts mehr.
Der 'Wassermann aus Breslau' war in Wirklichkeit Rübezahl gewesen.
Unter den Bewohnern des Gebirges hatte sich nämlich eine gewisse Furcht vor
Rübezahl eingestellt, da dieser oft Schandtaten ausgeführt hatte. Um sich nun
unerkannt nähern zu können, nahm Rübezahl oft eine andere Gestalt und einen
anderen Namen an. — Der Kahl aus Brückenberg war der Urgrossvater eines
Kahl, der vor kurzem in Arnsdorf gestorben ist."
Im allgemeinen bemerkte Hertrampf sonst nur noch:
„Rübezahl war ein Freund der Leute, die seine Kräuter zu Arzneien be-
nutzten, aber ärgerlich auf die, welche sie abpflückten und fortwarfen."
Von dem Vetter des Schuhmachers Hertrampf, dem 1820 in Arnsdorf ge-
borenen früheren Waldwärter August Hertrampf, erfuhr ich mehr über die übrigen
Geister als über Rübezahl. Doch mag auch das hier wiedergegeben sein:
„An den Spinnabenden traute man sich nicht heraus aus Furcht vor den
Geistern; auch wenn die Laute austreten wollten, gingen sie nicht allein heraus.
Der grosse Leuchter kam bis zur Loranitzbrücke, ging wieder zurück bis zum
Kalkofen und verlosch dort.
Der Drache hat einen brennenden grossen Schweif gehabt und zog über die
Häuser; beim Laboranten Riesenberger setzte er sich aufs Dach und schüttete
Gold aus. Wenn er schweres Gold hatte, kam er niedrig; hatte er ausgeschüttet,
so zog er hoch, dass man ihn nicht mehr sah.
Der Nachtjäger hatte Hunde, die viel bellten; er machte die Leute furchtsam.
Rübezahl (Rlbazäl) hat die Leute irre geführt."
Dagegen erfuhr ich noch einiges in Arnsdorf von der Tochter des eben ge-
nannten August Hertrampf, der Frau Marie Bönsch, die dort 1851 geboren ist und
mir erzählte, was sie einst von ihrer Mutter gehört hatte:
„Von Rübezahl wurde am meisten gesprochen; doch vergisst man alles.
Rübezahl hatte seinen Sitz oben auf dem Gebirge. Er half oft den Kräuter-
suchern, aber nur wenn sie taten, was er ihnen sagte. Wenn die Leute etwas
anderes pflückten, als er ihnen angab, so hatten sie später nichts im Sack. Rübe-
zahl hat viel Wunder gewirkt."
In Brückenberg erhielt ich von der dort LS3li geborenen Christiane Linke, geb.
Schmidt, folgende Auskunft:
„Bei den Dreisteinen soll Rübezahl zu Hause gewesen sein und dort Kräuter
gesucht haben. Armen Leuten, die ihn um etwas baten, machte er grosse Geschenke.
Rübezahl und der Teufel haben einmal, auf einem Dache sitzend, zusammen
geschustert. Dem Teufel ist sein Ort heruntergekugelt, weil das Dach so sehnig
war; Rübezahl dagegen sein Ort im Dach festgestockt."
140 Loewe:
Ferner gab mir über Sagen dieser Gegend Hermann Haase (jetzt in Krumm-
hübel) zu seinen Mitteilungen aus dem Jahre 1907 (vgl. oben 18, 12 f.) nach Er-
zählungeu seines Vaters und alter Brückenberger noch folgende Ergänzungen:
„Einen Garten Rübezahls, den ich aber nicht gesehen habe, gab es auch am
Brunnberg. Wenn jemand Teufelsbart und Habmichlieb ausriss, wurde Rübezahl
ärgerlich.
Das Gespräch mit dem Nieswurzhacker fand am Rande des grossen Teichs
statt. Der Mann bekam einen Kuhfladen von Rübezahl zum Lohn, liess ihn aber
liegen; als er ein Stück gegangen war, bemerkte er, dass am Sack ein Dukaten hing,
der von einem Stück des Kuhfladens herrührte; als er darauf zurückging, fand er
jedoch nichts mehr1).
III. Der Nordwesten.
In den Baberhäusern gab mir der 183G dort geborene Waldarbeiter Johann
Karl Marksteiner folgende Auskunft:
,,Es wurde früher viel von Rübezahl erzählt. Er soll sein Gebiet '2l/2 Meile
von der böhmischen Grenze gehabt haben. Seinen Keller, in dem man unter der
Erde laufen kann, und seine Sommerlaube hatte er zwischen Peterbaude und
Schneegruben. Kegel hat er vom Sommerplan aus über der Kirche Wang ge-
schoben. Die Kugeln sind bis zum grünen Plan geflogen, wo noch eine von
ihnen liegt. In der Nähe ist das Goldloch.
Es wurde auch gesagt, dass, wenn man Rübezahl nicht richtig grüsse, er
einem ins Auge spucke: das war der Regen aus der Wolke.
Wenn die Leute Beeren pflückten, so hat Rübezahl ihnen Geld gebracht,
auch Anzüge, wenn sie zu schlecht gekleidet waren. Auch hat er geholfen, wenn
die Leute Sympathiemittel aus Kräutern machten.
Der Teufel hat den Mittagsstein gebracht; ein altes Weib redete ihm zu, den
Stein niedersetzen; da konnte er nicht weiter."
Weiteres erfuhr ich in den Baberhäusern von der dort 1836 geborenen
Christiane Wolf, geb. Häkel, die ihr Wissen über den Berggeist von ihrer 1855
gestorbenen Grossmutter Johanna Marksteiner, geb. Liebig hat:
„Rübezahl hat bei den Dreisteinen gewohnt und ist oft im Wald bei den
Baberhäusern erschienen, wo er die Holzfäller beschenkt hat. Am Seifenwasser
1) Einen 'herrschaftlichen Garten' (vgl. oben 18, 13) kennt Herrn. Haase in der
Gegend von Brückenberg nicht, wohl aber einen 'Herrengarten', d. h. ..ein ebenes Stück
Weges; weiter herunter stauden Häuser, wovon noch Spuren von Mauern sind: man nennt
sie Herrenhäuser: weiter unterhalb lag das Heideschloss. Das Ganze hiess der Türken-
liübel. Man sagt, dass es die Tataren zerstört haben sollen. Mit Rübezahl hat das
Ganze nichts zu tun." — Heinrich Linke aus Krummhübel (vgl. S. 132) kennt noch den
'herrschaftlichen Garten'; „dort soll das Heideschloss gestanden haben: dort sollen alte
lütter früher gewesen sein. Man hat auch nachgegraben; dabei sind die Mauern ein-
gerissen.'- Mein Führer aus Krummhübel hatte mir also als 'herrschaftlichen Garten'
etwas anderes gezeigt, als was mit diesem Namen wirklich bezeichnet wurde. Seine Un-
zuverlässigkeit hatte sich auch besonders darin gezeigt, dass er mir gesagt hatte, von
Rübezahl erzähle niemand im Gebirge; wenn es 'Rübezahls Kegelbahn usw.' heisse, so
komme das daher, weil jeder Punkt doch seinen Namen haben müsse. Aus seinen An-
gaben lassen sich also keine Schlussfolgerungen ziehen. Nichtsdestoweniger ist auch heute
noch der Name 'Herr Johannes' für Rübezahl stellenweise im Riesengebirge bekannt
(vgl. S. 129).
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 141
bei den Baberhiiusern hat er Holz sägen helfen, so dass die Arbeiter oft in einem
Tag so viel schafften wie sonst in vier Wochen.
Kübezahl hatte einen tief hinabreichenden weissen Hart, ein vernarbtes Ge-
sicht, struppige Haare auf den Kopf, die hinten weit herunter hingen. Sein Hut
Avar grün mit Moos und Tannenzweigen.
Rübezahl hat den Leuten Geld geschenkt. Während einmal eine Frau im
Walde Holz las, spielte ihr Junge und raffte eine Schürze voll trockener Buchen-
blätter zusammen; Rübezahl verwandelte sie in Gold. Kindern gab er Zapfen von
Fichten, woraus Gold wurde.
Rübezahl gab den Leuten Liebstöckel undTormentille, damit sie gesund würden,
und das Kraut des Lebens, damit sie nicht stürben. Als die Pest herrschte,
sagte er:
Kocht Bibernell und Baldrian,
Wird Pestilenz ein Ende han."
Von dem 1*53 in den Baberhäusern geborenen und dort noch wohnhaften
Landwirt Johann Karl Heinrich Marksteiner erfuhr ich noch folgendes:
„Beim alten Schloss und bei Tumpsahütte hat sich Rübezahl aufgehalten und
dort die Hexen fortgejagt, die dort Steine ausgesessen hatten. Die Kräuter hat
er bei den Teichen gesucht."
In Seidorf erhielt ich von dem dort 1832 geborenen früheren Gebirgsführer
und jetzigen Steuereinnehmer Louis Heinrich Auskunft. Auf mein Befragen be-
merkte derselbe, dass er als Gebirgsführer nichts anderes erzählt habe, als was
allgemein erzählt wurde. Er berichtete mir:
„Von Rübezahl wurde so gut erzählt wie vom Nachtjäger, dem Wassermann,
den Holzweibern und dem grossen Leuchter. Rübezahl wohnte in den höheren
Wäldern des Gebirges, kam aber bisweilen ins Tal. Man dachte sich ihn als
neckischen Kobold, aber meist gross; doch soll er verschiedene Gestalten an-
genommen haben.
Rübezahl hat viele Leute geneckt, manchen aber auch Gutes getan. Er hat
auch Leute gestraft, die sich ungebührlich gegen andere benahmen. Öfters hat
er den Leuten medizinische Kräuter weggenommen, wofür sie später ein schönes
Geldgeschenk gefundeu haben.
Ein Bauer ging einmal nach Hirschberg, um sich einen Ofentopf zu kaufen.
Unterwegs gesellte sich Rübezahl zu ihm. Beide gingen darauf zu einem Kupfer-
schmied, bei dem der Bauer sich einen passenden Ofentopf aussuchte. Rübezahl
bezweifelte, dass der Ofentopf gross genug wäre; er sagte, er könnte ihn voll-
machen. Der Kupferschmied erklärte, dass, wenn Rübezahl das imstande wäre,
er den Ofentopf umsonst bekommen sollte. Da machte Rübezahl den Ofentopf
voll und bekam ihn dafür. u
In Seidorf teilte mir ferner der 1845 daselbst geborene frühere Schuh-
macher und Gebirgsführer und jetzige Landwirt Heinrich Ritter folgendes mit:
„Die alten Leute erzählten, Rübezahl wäre ein Berggeist, der in den Klüften
des Riesengebirges wohnte und bisweilen daraus hervorkäme. Er hat den Leuten
oft Schabernack getan. Einer Frau verwandelte er ihr Laub in Goldblätter. "
Hauptsächlich auch aus Seidorf, wo er 1863 bis 18^4 wohnte, wollte sein
Wissen über Rübezahl der in Gotschdorf 1835 geborene und jetzt in Rotergrund
wohnende Schäfer Heinrich Breit haben, der mir folgendes erzählte:
„Die Leute sagten, Rübezahl wäre ein Berggeist. Jetzt wird nicht mehr viel
von Rübezahl gesprochen. Rübezahl war bald hier, bald dort.
1 42 Loewe :
Ein Mädchen mähte einmal Gras, als ein Herr zu ihr trat. Sie sagte ihm,
dass sie sich vor Rübezahl fürchte. Der Herr fasste sie darauf an das Kinn,
da wuchs ihr ein Ziegenbart. In Wirklichkeit war der Herr Rübezahl selbst.'-
In Saalberg erzählte mir der dort 18S3 geborene frühere Waldarbeiter, Stein-
metz und Fremdenführer Heinrich Fromberg folgendes:
„Vom Nachtjäger, vom grossen Leuchter, von den Irrlichtern und vom
Drachen wurde weniger gesprochen als von Rübezahl. Der Nachtjäger war in
Wirklichkeit ein Mensch, auch Rübezahl war es. Auch der grosse Leuchter war
kein Geist, sondern eine feurige Kugel mit langem Schweif. Auch der Drache
war ein Aberglaube. Von den Buschweibern sagt man, dass sie Steine aus-
gesessen hätten.
Rübezahl ist überall gewandert. Sein Backofen ist auf dem Wege von Saal-
berg zum Kynast; vom Backofen wurde wirklich unter den Leuten erzählt; da-
gegen war es nur ein Scherz der Führer, wenn sie bei Nebel sagten, dass Rübe-
zahl jetzt backe. Rübezahl hatte sein Wappen auf verschiedene Steine gesetzt,
bisweilen eine Hand, bisweilen einen Fuss. Auf dem Wege vom Saalberg zum
Kynast liegt ein Stein, so hoch wie ein Stuhlsitz, an dem Hand und Fuss zu-
gleich zu sehen ist. Rübezahl hatte drei Würfel mit Augen darauf; der erste
liegt am Kochelfall, der zweite oberhalb des Zackenfalls, der dritte bei den
Schneegruben.
Rübezahl war ein langer hagerer Mann mit spitzem Hut wie ein Jude und
langem grauen Bart."
Ausserdem erzählte mir Fromberg noch zwei ikonische Sagen, von denen die
erste eine eigentümliche Umgestaltung der Erzählung von der beabsichtigten
Überschwemmung ist:
„1. Rübezahl hatte eine Frau, mit der er unterhalb des Eibfalls wohnte. Er
hatte einmal Streit mit ihr. Da nahm er sie auf den Rücken, ging mit ihr über
den Kamm bis zum Mittagstein und wollte sie im grossen Teich ersäufen. Sie
bat ihn, er solle das nicht tun; da setzte er sie ab und verwandelte sie in einen
Stein. Sie steht dicht unterhalb des Mittagsteins; Gesicht und Körper ist deutlich
zu sehen."
„2. Rübezahl hatte im Eibtal einmal ein Bein gebrochen und benutzte des-
halb eine Krücke. Als er sie nicht mehr brauchte, sagte er: 'Hier stecke ich
dich hin, und hier sollst du weiter wachsen'. Es wurde ein Baum daraus, der
aber wie eine Krücke gestaltet ist."
Der in Saalberg 1849 geborene frühere Spanverfertiger und Bergführer und
jetzige Landwirt August Resel, der seit 1894 in Giersdorf ansässig ist, berichtete
mir folgendes:
„Unter dem Brunnberg hatte Rübezahl seine Schatzkammer, am Brunnberg
seinen Garten. Einer von seinen Würfeln liegt beim Kochelfall, der zweite über
dem Zackenfall, der dritte auf dem Kamm. Bei den Mädelsteinen liegt er zwischen
zwei Mädeln begraben; er war ein grosser Damenfreund.
Rübezahl ist in verschiedenen Gestalten gekommen, zuweilen sehr gross,
zuweilen auch klein wie ein graues Männlein. Er hatte einen tüchtigen Bart.
Als er alt war, ist er sehr krumm gegangen."
Resel erzählte mir ausserdem zwei Geschichten, von denen die eine
wiederum eine eigentümliche Umgestaltung der Überschwemmungssage ist:
„1. Rübezahl ging zur Kirmes (Peter und Paul) in St. Peter. Dort beschenkte
er die Mädel, bis er sein Geld im Würfelspiel verloren hatte. Da ging er über
die Teufelsbauden und durch den Teufelsgrund zum Mittagstein; den wollte er
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 143'
in den grossen Teich werfen, damit die jungen Leute aus den Baberhäusern.
Brückenberg und Krummhübel, die ihm das Geld abgenommen hatten, ertränken.
Da kam aber eine alte Frau aus Böhmen und zwang ihn, stehen zu bleiben.
•2. Eine Frau trug Glas von Agnetendorf nach Schreiberhau zur Schmelze.
Da gesellte sich Rübezahl zu ihr und trug ihr den Korb. Auf einmal Hess er
ihn fallen und machte sich davon. Die Frau musste das zerbrochene Glas wieder
nach Hause schaffen; da waren es aber lauter Taler."
Von geborenen Giersdorfern erhielt ich keine Auskunft, und aus Hain konnte
ich nur von dem dort 1869 geborenen Wilhelm Gebauer erfahren, dass die alten
Leute dort auch von Rübezahl erzählt haben.
In Hermsdorf unterm Kynast erhielt ich von dem dort 1840 geborenen
früheren Gebirgsführer und späteren Nachtwächter Hermann Liebig (vgl. S. 41)
folgende Auskunft:
„Es wurde vom Nachtjäger, der weissen Frau und dem grossen Leuchter er-
zählt, mehr aber von Rübezahl. Dieser hatte seinen Namen daher, dass er ein-
mal ein Fuder Rüben umgeworfen hatte und sie deswegen zählen musste. Er-
trug einen spitzen Hut, einen Pelz und einen langen Stock und hatte einen langen
weissen Bart bis zu den Schamteilen1), ausserdem eine rote Nase."
In Wernersdorf machte mir der dort 1833 geborene Drechslermeister Julius
Vogel folgende Angaben:
„Rübezahl war oben auf dem Riesengebirge. Auf dem Kynast zeigten die
Führer Rübezahls Kanzel. Rübezahl trug einen Bart, so lang wie er wächst."
In Kaiserswaldau erzählte mir der dort 1857 geborene Gartenbesitzer August
Plischke:
„Von Rübezahl wurde mehr gesprochen als vom Nachtjäger und vom grossen
Leuchter. Rübezahl hielt sich meist auf dem Gebirge noch hinter dem Kynast
auf. Nach Kaiserswaldau soll er nicht gekommen sein.
Rübezahl war klein; ein Fuss war ein Pferdefuss. Er ging meist als Jäger,
konnte aber verschiedene Gestalten annehmen.
Leute, die gingen, um von Rübezahl Nutzen zu haben, wurden von ihm ge-
nasführt und irre geführt."
Dazu erzählte August Plischke noch folgende Geschichten:
„1. Rübezahl kam einmal zu einem Bauern und bot sich als Arbeiter an.
Der Bauer liess ihn Holz hacken. Rübezahl hackte in kurzer Zeit sehr viel.
Der Bauer war sehr zufrieden und fragte ihn, was er als Lohn haben wolle.
Rübezahl sagte: „Soviel Holz, wie ich tragen kann." Der Bauer erklärte sich
einverstanden; da trug ihm Rübezahl sein ganzes Holz fort.
2. Eine Anzahl Frauen sammelte einmal im Walde Holz. Rübezahl über-
redete sie, sich ihre Körbe mit gelben Laubblättern zu füllen. Die Frauen taten
es. Als sie gingen, wurden ihre Körbe immer schwerer, weswegen sie das Laub
fortschütteten. Zu Hause bemerkten sie, dass noch einige Goldblättchen in den
Körben waren; sie suchten nun nach den Blättern, fanden aber keine mehr."
Der 1844 in Kaiserswaldau geborene und dort noch wohnhafte Bienenzüchter
Heinrich Ulbrich bemerkte noch:
„An Rübezahl als Geist glaubte man früher auch. Er soll ein unterirdisches
Schloss im Gebirge haben, aus dem er oft auf das Gebirge hinauf ging; es ist
mir nicht bekannt, dass er auch ins Tal gekommen wäre."
1) So hatte mir auch Herrn. Haase angedeutet (vgl. oben 18, 12).
144 Loewe:
IV. Der Südwesten.
In Niederhof berichtete mir der 18-27 dort geborene Holzhauer Johann Erben,
dessen Eltern auch schon von dort waren, folgendes:
„Der Nachtjäger wohnte am Kogel bei Niederhof; auch der Feuermann war
dort in der Nähe; dagegen hauste Rübezahl im Riesengrund. Als man sich im
Blaugrund Häuser baute, ist er fortgezogen, aber nach hundert Jahren wieder-
gekommen.
Rübezahl ist den Leuten bald gross, bald klein erschienen.
Leute, die ihn verspottet haben, hat Rübezahl gestraft. Armen Leuten hat er
geholfen.
Rübezahl hat eine Prinzessin geraubt, die nicht wieder aus seinem Palaste
kommen konnte. Während er Rüben zum zweiten Mal nachzählte, weil es nicht
stimmte, ist sie geflohen.
Im Stalle der Hampelbaude hat Rübezahl Kühe in Stücke gerissen. — In der
Hampelbaude waren einmal Pascher: da hat Rübezahl mit dem stärksten ge-
rungen; keiner aber hat gesiegt. In der Stube war auch ein Kalb; da stürzten
sie beide darauf; Rübezahl aber verschwand sogleich."
Der gleichfalls in Niederhof wohnhafte, dort 1829 geborene Weber Alois
Kraus erzählte mir:
„Rübezahl (Rlbezäl) hat im Gebirge gewohnt, ist aber überall herum-
gekommen. Zu allen Handwerkern ist er als Gesell gegangen. Bei einem
Tischler sagte er nach ein paar Tagen, der Hobel wäre zu schwer; da hat ihn
der Meister davongejagt. Bei einem Schneider hat er einen Rock mit einem
Ärmel gemacht; da hat ihn der Meister auch davongejagt. Für einen Schuh-
macher aber machte er Paare nicht zusammengehöriger Schuhe; die Leute haben
sie für das Vieh gekauft, der Schuhmacher aber wurde davon reich. — Auch
Kräuter hat Rübezahl verkauft und hat sich auch für einen Arzt aus-
gegeben. — Er war Geist, aber auch Mensch. Wie er gewollt hat, so ist es ihm
ergangen."
Endlich erhielt ich in Niederhof noch von der dort 1824 geborenen Angela
Friess, geb. Hampel, deren beide Grosselternpaare bereits von dort waren, folgende
Auskunft:
^Der Nachtjäger war auf dem Pommersberg bei Niederhof, Rübezahl (Rlbe-
zäl) dagegen nahe bei der Schneekoppe. Rübezahl konnte verschiedene Ge-
stalten annehmen. In seinem Garten hat er Rüben gebaut, aber auch sonst
allerlei. Er war ein Geist. Jetzt sollen alle Geister gebannt sein. Deshalb hört
man auch jetzt nicht mehr von Geistern sprechen."
Nach der Erzählung seiner Mutter aus Huttendorf bei Hohenelbe be-
richtete mir der gleichfalls in Huttendorf geborene Oberlehrer Josef Scholz in
Witkowitz die Geschichte vom Mittagstein folgendermassen (wobei er hinzusetzte,
dass man sie auch vom Teufel erzählte):
..Rübezahl (Rlbezäl) wollte durch eine Überschwemmung viele Leute töten.
Er brachte deshalb mit einer Kette einen grossen Stein auf dem Rücken ge-
schleppt. Da begegnete ihm ein altes Weib, welches ihn wegen seiner schweren
Last bedauerte und ihm den Stein niederzusetzen riet. Über vieles Nötigen will-
fahrte Rübezahl. Als er den Stein wieder aufheben wollte, war er es nicht mehr
imstande. Auf diese Weise wurde Schlesien von einem grossen Unglück befreit.
Es ist der Mittagstein, den er in den schwarzen Teich werfen wollte. Auf der
Xordseite des Mittagsteins nach dem schwarzen Teich zu ist auch noch eine
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. 145
menschliche Gestalt zu erkennen. Früher war auch noch eine Kette um den Stein
gemalt; 1873 habe ich sie noch gesehen."
Aus dieser Gegend erhielt ich noch folgende Auskunft von der 1837 in
Hackelsdorf auf dem Heidelberg geborenen und seit 11)05 in Ober-Hohenelbe
wohnenden Frau Josefa Gottstein, verwitwete Möhwald:
„Viele Geister waren auf dem Heidelberg, wo einmal eine Stadt untergegangen
ist; vor diesen Geistern hat man sich gefürchtet. Rübezahl war nicht darunter,
sondern oben im Gebirge; er kam öfters herunter, Hess sich bald hier und bald
dort sehen, hat aber niemandem etwas zuleide getan.
Rübezahl war ganz hübsch, hatte einen runden Hut von Moos und einen
langen Bart, eine Pfeife im Mund und einen Stock in der Hand. Er trug auch
Wurzeln umher. - Armen Leuten, denen er im Busch begegnete, schenkte er
ein Silberstück oder ein Goldstück."
Der 1S50 in Spindelmühle geborene, in den Leierbauden wohnhafte Hotel-
besitzer Wenzel Hollmann bestätigte mir nur, dass im Weisswassergrund weisse
Streifen gezeigt wurden, die von Rübezahls Wagen herrühren sollten, sowie
andere weisse Streifen, wo er seine Peitsche hingeworfen haben soll (vgl. oben
15, 177 f.).
Der in den Bradlerbauden 1836 geborene und dort noch wohnhafte Gastwirt
Vincenz Hollmann erzählte mir folgende Geschichte:
„Ein Mann ging einmal mit dem Hausmeister der Wiesenbaude zum grossen
Teich. Dort schlug derselbe dreimal mit der Rute in das Wasser. Dieses teilte
sich, und er ging hinein. Der Hausmeister sollte indes sein Pferd halten: wenn
das Wasser schwarze Wellen werfen würde, so solle er mit dem Pferde davon-
reiten; würfe es rote Wellen, so solle er stehen bleiben. Es warf rote Wellen,
und nach drei Stunden kam der Mann wieder hervor mit einer Bürde im Schnupf-
tuch. Aus seiner Tasche gab er dem Hausmeister eine Düte. Dieser fand nur
Pferdemist darin und warf den Inhalt fort; die Düte steckte er wieder ein. Zu
Hause aber fand er noch drei Dukaten darin."1)
In den Schüsselbauden berichtete mir der dort 1829 geborene Hausbesitzer
Johann Glaser folgendes:
„Erzählt wurde ausser vom Nachtjäger, der des Nachts schiessen sollte, und
dem Buschweib, das den Leuten, die ihr Läuse absuchten, Laub gab, das sich
bei denen, die es nicht fortwarfen, in Gold verwandelte, auch viel von Rübezahl.
Dieser sollte ganz oben auf dem Gebirge sein. Neben dem Pantschefalle hat er
eine Schatzkammer, in der viel Gold sein soll. Wenn Leute dort hineingehen, so
gelangen sie an einen Teich, den sie nicht passieren können. Die Schätze aber
sind erst hinter dem Teich."
Aus Witkowitz erhielt ich meine hauptsächlichste Auskunft von dem dort
1853 geborenen, selbst nicht mehr wundergläubigen Gastwirt Johann Hollmann.
Derselbe hat als Kind über Rübezahl besonders seine Eltern und einen sehr alten
tschechischen Schneider aus Raudnitz, der aber auch sehr gut deutsch sprechen
konnte, erzählen hören. Er berichtete mir folgendes:
„Rübezahl hat sich oben im Riesengebirge, besonders aber in seinem Garten
oder Rosengarten auf der Kesselkoppe aufgehalten2). Im Garten verschenkte er
Blumen, besonders Enzian.
1) Meine Frage, ob der „Mann" eigentlich Rübezahl war, wurde von Vincenz Holl-
mann bejaht (vgl. S. :>.">).
2) Von Rübezahls Garten auf dem Brunnberg und seinem Aufenthalt auf Brunn-
berg, Schneekoppe und im Riesengrund war Hollmann nichts bekannt.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1911. Heft 2. In
146
Loewc:
In Rübezahls Schatzkammer am Pantschefall sind tatsächlich Leute hinein-
gegangen, konnten jedoch nicht über das Wasser hinwegkommen. Hinter dem
Wasser sollten Rübezahls Schätze sein; er allein konnte hinübergelangen.
Rübezahl hatte Schuhe und Strümpfe mit Kniehosen von Leder. Er war sehr
gross und stark und hatte Kniescheiben so gross und sonnenverbrannt schwarz wie
Pferdeknie. Sein Gesicht war überwachsen bis auf die Stirn; er hatte eine
hohe, kahle Stirn; hinten dagegen war das Haar sehr lang. Er trug einen
kolossal grossen Hut mit sehr grosser Krempe, dazu eine lange Kutte mit einem
Gürtel. Wenn das Wetter schlecht war, so hat er den Gürtel geöffnet und sich
in die Kutte gehüllt: bei guter Witterung dagegen hat er den Gürtel zusammen-
geschnallt und die Kutte wieder in die richtige Facon gebracht. Wenn er ganz
Ö m
ohne Kutte ging, dann war lange andauernde schöne Witterung.
Den armen Leuten hat Rübezahl viel geholfen. Für Krankheiten, z. B.
Rückenschmerzen, gab er bestimmte Kräuter als Mittel."
Ausserdem erzählte mir Johann Hollmann noch drei Geschichten, von denen
freilich die beiden ersten nur Variationen bekannter Rübezahlgeschichten sind:
1. „Eine arme Frau aus den Schüsselbauden weidete ihre Ziegen in der Nähe
von Rübezahls Garten an der Kesselkoppe. Sie hatte auch einen Korb auf dem
Rücken, um sich Futter für ihre Ziegen auch noch nach Hause mitzunehmen. Da
erschien Rübezahl und fragte sie, ob sie zu Hause noch eine andere Beschäftigung
als die mit den Ziegen hätte. Sie antwortete, dass sie sich nur durch die Ziegen
ernähre. Rübezahl sagte darauf, sie solle mit dem Grase vorsichtig nach Hause
gehen; sie würde im Korbe etwas finden. Zu Hause fand sie denn auch Dukaten
zwischen dem Grase. Darauf gingen viele Weiber hin, um bei Rübezahls Garten
Gras zu sammeln; aber Rübezahl liess sich nun nicht mehr sehen.
2. Der Teufel wollte einen grossen Stein in den schwarzen Teich werfen,
damit das Hirschberger Tal überschwemmt würde. Da kam Rübezahl und fasste
den Stein hinten bei der Kette, so dass der Teufel ihn niedersetzen musste. Der
Stein steht noch oberhalb des schwarzen Teiches; man sieht noch die Glieder der
Kette an ihm.
3. Einer armen Frau, die Schulden hatte, sollte die Kuh verkauft werden.
Bei der letzten Fütterung weinte die Frau bitterlich. Da trat Rübezahl in den
Stall und fragte sie, warum sie so täte. Sie gab ihm darauf den Grund an. Da
sagte Rübezahl, sie solle vorsichtig sein, der Kuh auch Getränke holen und das
übrig gebliebene Heu der Kuh zusammenscharren. Als sie das Heu zusammen-
scharrte, waren lauter Dukaten darin; Rübezahl aber war schon fort."
In Witkowitz berichtete mir noch der dort 1841 geborene frühere Tischler
und jetzige Privatier Vincenz Pfohl folgendes:
„Rübezahl hat seine Frau einmal ausgeschickt, Rüben in seinem Garten zu
zählen. Er war während dieser Zeit selbst fortgegangen. Als er nach Hause kam,
war seine Frau verschwunden. Im Zorn sandte er ihr einen Donnerschlag nach;
sie war aber schon jenseit der Grenze seines Reiches."
Der in Witkowitz 1834 geborene und dort noch wohnhafte Grundbesitzer,
Zimmermann und Weber Anton Scharf bemerkte mir nur:
„Rübezahl war oben auf dem Gebirge. Er sah sehr verwildert aus. Sein
Gesicht war überwachsen."
In den Hofbauden berichtete mir der dort 1849 geborene Robert Erlebach:
„Mein Vater hat erzählt, wie der Rosengarten seinen Namen erhalten hat.
Es waren einmal zwei Schwestern, Rose und Nessel; letztere erfror dort; da liess
Rose einen Garten dort machen, der deshalb Rosengarten heisst, Andere Leute
Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben. ] 47
nannten ihn Rübezahls Garten oder Rübezahls Rosengarten. Was aber von
Rübezahl erzählt wurde, war alles Lug. Rübezahls Kanzlei nannte man die
Schweinsteine oberhalb der Quargsteine."
Der Schwiegersohn Erlebachs, der in Rochlitz 1873 geborene und dort noch
wohnhafte Weber Josef Krause gab mir noch folgendes an:
„Rübezahl soll in der zwölften Stunde des Nachts im Rosengarten sichtbar
sein, ausserdem an einem bestimmten Tage des Jahres; an welchem Tage aber,
weiss ich nicht."
Frau Clementine John geb. Jaekl, die 1831 in Prychowicz (einem deutschen
Ort) geboren wurde und jetzt in Wurzelsdorf lebt, berichtete mir:
„Nach Erzählung meiner Grossmutter aus Prychowicz lebte Rübezahl auf dem
Kynast. Er hatte einen langen grauen Bart. Wenn Leute ihn foppten, so ver-
liefen sie sich im Walde. Er hat auch Leute mit Goldstücken beschenkt; öfters
hat er jedoch dabei auch die Leute getäuscht, indem die Goldstücke zu Hause
zu Spreu wurden."
In Wurzelsdorf gab mir die dort 1860 geborene unverehelichte Antonie Berg-
mann folgende Auskunft:
„Rübezahl sandte Gewitter von der Schneekoppe her. Er hatte einen langen
Bart und trug einen Korb auf dem Rücken mit Kräutern, damit ging er unter
die Leute.
Ein Schuhmacher aus AVurzelsdorf namens Rösler, der jetzt ungefähr 30 Jahr
tot ist, erzählte, wie er einmal auf den Farenberg gegangen wäre und sich dort
nicht hätte herausfinden können, weil Rübezahl ihn irreführte. Es war dort früher
eine Heide, jetzt grösstenteils Wald. Rösler hat dort viel Blumen gefunden und
ist den Blumen nachgegangen; er hat geglaubt, in Rübezahls Garten zu sein. Wie
er wieder herausgekommen ist, weiss ich nicht mehr."
In Wurzelsdorf erhielt ich weiter von dem dort 1852 geborenen Josef
Battermann folgende Auskunft:
„Rübezahl hat die Leute richtig geführt oder irre geführt, je nachdem sie ihn
lobten oder verspotteten. Er hat auch Kräuter verteilt."
Dazu erzählte Battermann noch folgende zwei Geschichten:
1. „Einem Mädchen tat Rübezahl Kräuter in die Schürze und sagte, dass sie
ihr Heil bringen würden. Sie dachte aber, dass die Kräuter doch nur zum Fort-
schütten wären. Zu Hause angelangt, fand sie einen Dukaten an der Schürze
hängen, der aus einem hängengebliebenen Blatte entstanden war.
2. Mehrere junge Leute gingen einmal in den Wald und hängten ihre
Kleidungsstücke an die herausgerissenen Wurzeln eines vom Sturme nieder-
gerissenen Baumes (solchen Baum nennt der Dialekt Worps). Sie spotteten
darüber, dass Rübezahl aus der Wurzel einer Rübe entstanden war1), und sagten,
aus den Wurzeln des Baumes könnten sie auch Rübezahle machen. Da entstand
ein Sturm und führte ein Kleidungsstück in die Höhe. Alle rannten nach.
Während dieser Zeit warf der Sturm den Worps zurück, so dass die Wurzeln
wieder in die Erde fuhren und die Kleidungsstücke mitnahmen."
Die Sage von der Entstehung Rübezahls aus der Wurzel einer Rübe soll
nach Battermann allgemeiner bekannt gewesen sein. Dass sich gerade bei ihm
1) Aus dieser Bemerkung geht hervor, dass Rübezahl von Haus aus ein Alraun
war. Ich war zu diesem Resultat schon auf anderem Wege gekommen, noch bevor icli
überhaupt (1907) Rübezahlsagen aus dem Volksmunde in grösserer Zahl gesammelt hatte.
Meine diesbezüglichen Ergebnisse hoffe ich später noch darzulegen.
10*
148
Loewe :
diese Tradition erhalten hatte, hängt offenbar damit zusammen, dass er selbst das
vereinigte Gewerbe eines Kräutergärtners, Apothekers und Arztes für das Volk
ausübte. Wie mir Franz Roesler (vgl. S. 36 f.) mitteilte, gab es schon. früher in
Wurzelsdorf Leute, die (ganz ähnlich wie die Laboranten in Krummhübel) dem
gleichen Berufe oblagen. Vortrefflich passt hierzu auch der Name 'Wurzelsdorf.
Battermann selbst bemerkte noch hierüber:
„Meine Tante hat erzählt, dass die Piychowiczer aus Antoniwald, wo jetzt
Wurzelsdorf steht, sich Wurzeln geholt haben. Dort ist das Wurzelflössel, das
in Ober- Wurzelsdorf entspringt und in Unter- Wurzelsdorf in die Iser geht."
V, Das Isergebirge.
In Klein-Iser erhielt ich von dem dort 1843 geborenen Ortsvorsteher Josef
Hujer folgende Auskunft:
„In meiner Kindheit wurde von alten Leuten über Rübezahl gesprochen. Er
war im Riesengebirge, und zwar bald hier, bald dort. Er hat verschiedene
Gestalten angenommen; bald sah er alt, bald jung aus. Wenn er auf Leute böse
war, so hat er sich in einen Stecken verwandelt: setzten sich dann solche Leute
mit ihrer Hucke darauf, so fielen sie plötzlich um, weil der Stecken fort war.
Auch hat er Leute irre geführt. Doch half er anderen auch durch Heilkräuter."
Ferner berichtete mir in Klein-Iser der dort 1843 geborene Waldarbeiter Franz
Stefan :
„In meiner Kindheit wurde von Rübezahl und vom Nachtjäger erzählt, weniger
vom Wassermann. Danach hielt sich Rübezahl in den Steinhöhlen des Riesen-
gebirges auf; es gab dort förmlich unterirdische Schlösser. Auch Weiber nahm
er mit in seine Höhle und hat sie dann selbst wieder nach Hause geschickt. Er
säte auch Rüben und machte daraus Geister, welche die Weiber, die er sich
geholt hatte, bedienen mussten. Es waren oft sehr vornehme Damen. Auch
Gewitter hat Rübezahl gemacht."
Von dem 1836 in Einsiedeln geborenen, aber seit seinem 6. Lebensjahre in
Weisbach befindlichen Uhrmacher Franz Tschiedel erfuhr ich folgendes:
„Es wurde in Weisbach vom Nachtjäger erzählt, der in der Gegend der
Tafelfichte sein sollte auf Hubertushütte zu. Die Buschweiber sollten im Wald
sein, auch in einem Haus in Weisbach gesponnen haben. Rübezahl soll auf der
Schneekoppe gewohnt haben.
Rübezahl holte sich aus Warmbrunn Rübsamen und pflanzte ihn in der
Gegend von Johannisbad; daraus entstanden Pferde; auf einem solchen entfloh
eine Prinzessin, die er sich geraubt hatte. Aus der warmen Küche Rübezahls
entstanden die warmen Quellen von Johannisbad."
Der Sohn des Uhrmachers Tschiedel, der Holzarbeiter Tschiedel, sagte mir,
dass das Moos, das an den Fichten hängt, Rlbzöils bärt (Rübezahls Bart) oder
meist kurzweg Ribzöil heisse.
In Weisbach machte mir ferner der dort 1827 geborene Holzarbeiter und Feld-
gärtner Ignaz Neisser einige Mitteilungen:
„Der Nachtjäger und die Holzweiber waren im Walde bei Weisbach, Rübe-
zahl dagegen im Riesengebirge. Rübezahl erschien bald grösser und bald kleiner.
Wenn jemand ihn verspottet hat, so hat er ihn irre geführt; wenn jemand aber
gutes von ihm sprach, hat er ihm auch gutes getan. — Rübezahls Bart (Ribzoilbört)
hängt an den Fichten.
Weiteres über Rübezahl im beutigen Volksglauben. 14!)
Eine arme Frau suchte Laub im Wald. Da tat ihr Rübezahl etwas in die
Schürze; sie schüttete es aber wieder fort. Zu Hause fand sie jedoch noch etliche
Goldblätter in ihrer Schürze."
In dem schon in der Vorebene des Isergebirges gelegenen Schönwald erfuhr
ich von dem dort 1820 geborenen Gedingsbauer Anton Görlach:
„Die alten Leute haben erzählt, dass Rübezahl (Rlbzoil) auf dem Gebirge
war. Wie mein Grossvater sagte, hat er sich hinter der hohen Strasse nach Neu-
stadt zu, wo früher lauter Wald war, gezeigt."
In bezug auf Bullendorf bezeugte mir die 1841 dort geborene Pauline Hannik,
geb. Tschiedel (die jetzt in Schönwald wohnt), dass dort die alten Leute auch
von Rübezahl gesprochen hätten.
VI. Das Bober -Katzbachgebirge.
Der einzige aus dem Bober-Katzbachgebirge gebürtige Mann, von dem ich
über Rübezahl einige Auskunft erhalten habe, war der jetzt in Kaiserswaldau
wohnhafte, 1874 in Grünau geborene Gastwirt Ernst Ansorge. Derselbe hat sein
Wissen darüber von seinen beiderseitigen durchweg auch aus Grünau gebürtigen
Grosseltern. Er berichtete mir:
„Rübezahl (Ribezoil) wohnte in den Steinhöhlen des Riesengebirges, kam aber
bei Nacht auch in das Tal hinunter. Er hatte ein verwittertes, vermoostes Gesicht,
einen grossen Bart und eine starke Figur. Er ging als Jäger und trug daher ein
kurzes Jacket mit zwei Reihen Knöpfen und kurze Hosen. Auch führte er immer
einen Stock bei sich."
Im übrigen teilte mir nur noch Kantor Prescher in Arnsdorf mit, dass seine
1833 geborene Mutter, die ihre Jugend in Bolkenhain (im Osten des Bober-Katzbach-
gebirges) verlebt hat, ihm gesagt habe, dass auch dort viele Rübezahlsagen im
Volksmunde waren; doch seien diese mehr allgemeiner Art gewesen, während die
in Arnsdorf und Umgegend erzählten gefehlt hätten.
VII. Das Rabengebirge.
Im Rabengebirge habe ich mich nur in und bei Schömberg aufgehalten und
dort meine hauptsächlichste Auskunft von dem 1836 in Schömberg geborenen und
jetzt in Voigtsdorf wohnhaften Feldgärtner Heinrich Wesener bekommen. Der-
selbe berichtete mir folgendes:
„Der wilde Jäger, der viele Hunde, die man bellen hörte, bei sich hatte, war
um Schömberg, ebenso der Feuermann und andere Geister. Rübezahl (Ribenz;.!)
dagegen hatte seinen Hauptsitz auf der Schneekoppe; von dort aus machte ei-
serne AusGüge. Arme Leute hat er zu sich in seine Grotte auf die Schneekoppe
geführt und dort gut genährt. Wenn er ihr Vertrauen hatte, hat er sie aus-
geschickt, dass sie eben solche Scherze machen sollten wie er selbst. Er hat
auch Arzneistoffe von der Schneekoppe mitgebracht und Leidenden damit geholfen.
Genährt hat er sich von Wasserrüben, die er sich vom Felde holte. Wenn Leute
ihn ärgerten, schaffte er ihnen grossen Nachteil; wenn sie gut von ihm sprachen,
war er dienstwillig.
Rübezahl hat viel und gern Geige gespielt. Er nannte die Violine seine
Fidulücke. Damit hat er die Leute aufmerksam gemacht, wenn er kam.
Rübezahl lässt sich jetzt nicht mehr spüren; vielleicht ist er in einen anderen
Landstrich gegangen. Leben tut er sicher; ein Geist stirbt nicht."
Ausserdem erzählte mir Heinrich Wesener noch folgende Geschichte:
150 Loewe: Weiteres über Rübezahl im heutigen Volksglauben.
„Ein Landmann arbeitete neben einem Walde auf seinem Rübenacker. Da
kam jemand zu ihm aus dem Walde herab und sprach, er möchte ihm über-
lassen, was in seinem Hause vorginge. Der Landmann sagte: 'Da kömmt es
mir nicht darauf an.' Der andere Mann erwiderte: 'So gehen Sie jetzt mit mir
nach Hause'. Der Landmann sagte darauf: 'Jetzt kann ich nicht mitgehen; ich
will erst zählen, wieviel Schock Rüben ich hier gesetzt habe. Wenn du zählen
willst, so will ich gehen'. Der andere Mann zählte nun, während der Bauer nach
Hause ging. Zu Hause fand der Landmann, dass ihm ein kleiner Sohn geboren
war. Darüber erschrak er, sprang hinaus zum Felde und sagte zu dem anderen
Manne, er möchte erst am nächsten Tage kommen. Der aber war noch beim
Zählen und wollte auch nicht eher aufhören, als bis er fertig war. Er war auch
erst ganz spät am Abend fertig. Als er nun in der Nacht kam, hatte der Bauer
alles verschlossen. Da fluchte Rübezahl und sagte: 'Das verfluchte Rübenzählen
hat mich so verspätet'. Davon erhielt er den Namen Rübezahl. Er sagte noch
zum Fenster hinein: 'Morgen zu der und der Stunde bin ich wieder da' und ging zurück.
Indessen setzte der Landmann seinen Schraubstock vor die Türe, wo die
Frau im Wochenbett lag. Als Rübezahl kam, sprach er zu ihm, er solle beim
Schraubstock etwas warten, er wolle erst die Frau wecken. Während des Ge-
spräches zwischen beiden passte der Bauer einen Augenblick ab, in dem Rübezahl
seine Hand in den Schraubstock gesteckt hatte; dann drehte er zu, so dass Rübe-
zahl nicht mehr hinaus konnte. Rübezahl schrie und sprach: 'Lass mich nur
los; ich will dir alles lassen, dass ich nur aus den Schmerzen komme'. Der
Landmann antwortete: 'Ich lasse dich nicht eher los, als bis du mir fest ver-
sichert hast, dass du mir nichts nimmst'. Nach anderthalb Stunden Hess dann
der Landmann Rübezahl los. Der aber lief davon mit dem Fluche: 'Das ver-
fluchte Rübenzählen'.
Der Landmann und seine Frau sahen und hörten nun eine Zeitlang nichts
mehr von Rübezahl. Eines Tages aber, als sie mit dem Heu auf der Wiese be-
schäftigt waren und auch ihr Kind bei sich hatten, sahen sie Rübezahl von fern
angesprungen kommen. Da nahm der Landmann seine Frau in die Höhe bei den
Beinen und sprach: 'Siehst du den Schraubstock? Da werde ich dich wieder
einklemmen'. Rübezahl sagte darauf: 'Wenn du immer den verfluchten Schraub-
stock bei dir hast, komme ich nimmer zu dir' und lief fort."
Zu Schömberg sagte mir noch der jetzige Privatier und frühere Fleischer
Adolf Wiener, der dort 1828 geboren ist:
„Man sprach früher vom wilden Jäger, vom Drachen und vom Feuermann,
am meisten aber von Rübezahl (Ribenzfil). Er lebte in der Schmiedeberger
Gegend und auf der Schneekoppe."
Endlich teilte mir in Schömberg der dort 1830 geborene jetzige Privatier und
frühere Färber Franz Fiebig folgendes mit:
„Es wurde gesprochen vom wilden Jäger, Drachen und Feuermann, die alle
bei Schömberg, und von Rübezahl, der bei der Schneekoppe sein sollte. Kinder
wurden damit ängstlich gemacht, dass man ihnen sagte: 'Rübezahl holt dich ins
Knieholz' oder 'Rüberzahl holt dich ins Pfefferland'. Alte Leute erzählten, dass
Rübezahl sie irre geführt hätte; das wäre auch um Schömberg geschehen."
VIII. Das Euleogebirge.
Durch Vermittlung des Herrn Kantor Prescher in Arnsdorf erfuhr ich von der
jetzt in Fellhammer wohnenden, 1841 in Silberberg geborenen und dort auf-
gewachsenen Frau Emma Menzel (vgl. S. 3(1) folgende kleine Geschichte:
Zachariae: Etwas vom Messen der Kranken. 151
„Eine Familie geriet in Not und ging zu ihren Verwandten nach Hain. Dort
aber wurden die Leute hinausgeworfen. Im Gebirge riefen sie darauf Rübezahl
an. Iheser erschien auch als Landmann und half ihnen."
IX. Das Zobtengebirge.
Aus den Anschauungen über Rübezahl im Zobtengebirge erfuhr ich nach
Beendigung meiner Reise einiges durch den jetzt in Lankwitz bei Berlin
wohnenden, 1888 in Rogau-Rosenau geborenen Wilhelm Kuczowitz. Derselbe
sagte mir, dass in seinem Heimatsdorfe keine Bücher über Rübezahl gelesen
wurden, und teilte mir aus dem Geisterglauben daselbst überhaupt folgendes mit:
„Im Zobten hausen Zwerge, die dort grosse Schätze angesammelt haben.
Wenn sich der Reiter ohne Kopf zeigt, so geschieht ein Unglück. Wo feurige
Hunde erscheinen, brennt das Haus ab. Wenn ein heftiger Sturm bei Nacht heult,
so kommt der wilde Jäger mit seinen Hunden. Die Hexen reiten in der Luft auf
Besen.
Rübezahls Reich erstreckt sich vom Riesengebirge bis zum Zobten. Er kommt
auch selbst bis in die Nähe des Zobten. Er ist ein grosser Mann mit grossem
Bart, kann aber auch andere Gestalten annehmen. Manchen Leuten hat er einen
Schabernack gespielt, anderen aber wieder gutes getan. Er hat auch Blätter in
Gold verwandelt und zwar (wovon Geschichten erzählt wurden) einmal bei einem
armen Bauern, das andere Mal auf einer Hochzeit."
Etwas vom Messen der Kranken.
(Der rohe Faden.)
Von Theodor Zachariae.
Vom Messen in seiner abergläubischen Verwendung, namentlich zum
Zweck der Heilung einer Krankheit, ist in dieser Zeitschrift öfters die
Kede gewesen. So in dem Aufsatz von Max Bartels über Volksanthropo-
metrie oben Li, 353 — 368 (dazu die Nachträge von Bernhard Kahle 15,
34D1'.)1). Ich will hier zwei weniger bekannte, bei älteren Autoren vor-
kommende Stellen anführen und besprechen, worin von der abergläubischen
Heilart des Messens gehandelt wird.
1) Vgl. sonst oben 2, 170. 6, 89. 17, 169. Luther, Werke (krit. Gesamtausgabe)
1, 40-2. Ducange u. d. W. mensnrare. Grimm DM.2 lllGf. 1121. 12.'J:'.; DM.4 :J, 342.
Deutsches Wörterbuch 6, 2119. Wuttke, Der deutsche Volksaberolaube der Gegenwart -
1869 §506. 507. P. Sartori, Am Urquell 6, 59 f. 87 f. Ulf. H. B. Schindler, Der Aber-
glaube des Mittelalters 185S S. 1791". L. Strackerjan, Aberglaube und Sagen aus dem
Herzogtum Oldenburg 1, 71. P. Drechsler, Sitte, Brauch und Volksglaube in Schlesien
1, 212 f. 2, .'512 ff. G. Lammert, Volksmedizin und medizinischer Aberglaube in Bayern
152 Zachariae:
1. Die erste Stelle entnehme ich <ler Explicatio Decalogi des
Thoraas Tamburini 8. J. (geb. in Caltanissetta auf Sizilien 1591, f in
Palermo 1675). Tamburini handelt, wie andere, ältere oder gleichzeitige
Erklärer des Dekalogs, bei der Erklärung des ersten Gebotes1) aus-
führlich über abergläubische Vorstellungen und Gebräuche. Unter der
Überschrift Vanae aliquot superstitiones nostra aetate usurpari
solitae2) teilt er folgende zwei Heilmittel gegen die Gelbsucht mit:
lcteritiam, quam Siculi zafaram3) vocamus, aliqui sanant quodam filo
conquisito a telarum textricibus, quem iidem Siculi Lizzum4) appellant, quo
quidem filo aegri staturam, ejusdemque extensa brachia ter metiuntur, mox
filum complicant, vulgarique forfice super caput, humeros, pectus infirmi com-
plicatum idem filum secant, addentes interea quaedam verba deprecatoria; nam
secare sie, et profligare morbum profitentur, sanitatemque inducere. si id semel,
bis, tertio, continuis tribus diebus, faciant, certo putant; nonnulli caeremoniam
illam dimensionis omittunt, caetera quae dieta sunt expedientes. Immo non
nemo solum supra caput, non vero supra humeros pectusque filum secant. Sunt
et alii, qui eandem curant jubentes, vel lcteritiam patiens mingat in herbam
Marrochium5), quae in ipso fundo vasis urinarii, in quo mingunt, sit imposita.
Man beachte hier das Zusammenlegen oder Verknoten (complicare)
sowie das Zerschneiden des Fadens mit dem gemessen wird. Ersteres
findet sich auch sonst; so misst man gegen Kopfweh 'drei Tage nach-
einander den Kopf vom Scheitel bis unter das Kinn mit drei Halmen
Koggenstroh, bindet diese in drei Knoten und hängt sie an einen Baum'
1869 S. 89. 98. 224. Fossel, Volksmedizin und medizinischer Aberglaube in Steiermark*
S. 87. Liebrecht zu Gervasius von Tilbury, Otia Imperialia S. 250, 376 a. Schönbach in
den Analecta Graeciensia S. 47 und in seineu Studien zur Geschichte der altdeutschen
Predigt 2, 29. P. Pietsch, Zs. f. deutsche Philologie 16, 194. K. Euling, Studien über
Heinrich Kaufringer 1900 S. 79. B. Kahle, Neue Jahrbücher für das klass. Altertum 15,
7 16 f. (1905). K. Knortz, Nachklänge germanischen Glaubens und Brauchs in Amerika 1900
S. 113. Riess in Pauly-Wissowas Realenzyklopädie 1, 50. A. Franz, Die kirchlichen
Benediktionen im Mittelalter 2, 457 ff. Das Sämavidhanabrähmaria deutsch von Sten
Konow 1893 S. 71 f. Kausikasütra 50, 5 ff. (W. Caland, Altindisches Zauberritual 1900
S. 174). W. Crooke, Populär Religion 1, 104. 2, 311. Mitteilungen der Gesellschaft für
jüdische Volkskunde 5, 60f. 6, 137. 7, 93.
1) Siehe Joh. Geffcken, Der Bilderkatechismus des 15. Jahrhunderts 1855 S. 5.'»ff.
2) Explicationis Decalogi Lib. 2 cap. 6 § 1 n. 33 (Tamburini Opera, Venetiis
1710, p. 68).
3) Zafara, malattia, che procede da spargimento di fiele, itterizia. icteros, regius
morbus. Cosi detta forse del render essa cosi giallo il volto, che tinto sembrasse di
zafarana, da cui poi toltane il na per distinzione, questo male vien chiamato zafara.
(M. Pasqualino, Vocabolario Siciliano etimologico.)
4) Lizzu, iilo torto ad uso di spago, intrecciato, o sostenuto da aste, o pezzi di
canna, del quäle si servono i tessitori per alzare, e abbassare le lila delP ordito nel tesser
le tele, liccio. licium. Dal lat. licium. lizzu. (Vocabolario Siciliano.)
5) Druckfehler für Marrobium (sizilisch: Marrobiu, erba quasi simile alla melissa:
lat. marrubium 'Andorn')? Auf jeden Fall ist der Andorn gemeint: auch bedient sich
Tamburini der Form Marrobium an einer anderen Stelle, wo er von der 'vis naturalis
herbae Marrobii Icteritiae contrariae' spricht.
Etwas vom Messen der Kranken. 15;^;
(s. Wuttke § 507; vgl. Zs. f. vergl. Sprachforsch. 13, lf)3. Drechsler, Sitte,
Brauch und Volksglauben in Schlesien 2, 314). Auf das Verknoten des
Messfadens komme ich unten noch einmal zurück.
Das zweite von Tamlmrini überlieferte Mittel gegen die Gelbsucht
ist mir anderwärts nicht begegnet. Doch wird der Harn bei den Gelb-
suchtskuren oft erwähnt; so z. B. wird empfohlen das Harnen in eine
ausgehöhlte gelbe Rübe, das Harnen auf ein leinenes Tuch u. dgl., s.
Wuttke § 505. Drechsler 2, 305. Lammert, Volksmedizin S. 248. Fossel,
Volksmedizin S. 120f. Auch wird der Andorn, z. B. der daraus gewonnene
Saft, als Mittel gegen die Gelbsucht empfohlen; so schon Plinius: sucus
auriculis et naribns et morbo regio minuendaeque bili cum melle prodest
(n. h. 20, 243). Siehe sonst Hovorka und Kronfeld, Vergleichende Volks-
medizin 1, 30.
Aus den Bemerkungen, die Tamburini an einer anderen Stelle seines
Werkes (2, 6, 1, 73) über das Messen und das Harnen auf den Andorn
macht, will ich noch folgende Stelle herausheben:
Aliqui hoc raorbo [Icteritia] infecti eandem herbam [Marrobium] ponunt intra
calceos, alii sub nuda planta pedum1), alii fructuosius alligant ad mida crura,
reticique se hoc remedio testantur. Forte quia ejusmodi herba occulta vi letericiam
bilem avertit, dissipat; vel certe mitigat. Nam non omnino ab ejusmodi mictu,
vel alligatione se fuisse valetudini redditum quidam adolescens mihi narravit, sed
solum aliqua ratione refectum; qui tarnen addidit tandem omnino se sanitati
restitutum intra paucos dies a praedicta fili secatione fuisse.
2. Die zweite Stelle begegnete mir zuerst in der Abhandlung von
Heinrich Rinn: Kulturgeschichtliches aus deutschen Predigten des Mittel-
alters (Programm des Johanneums in Hamburg, 1883). Hier zitiert Rinn
auf S. 35 eine Stelle aus Wackernagels Sammlung altdeutscher Predigten
(du solt niht geloben an messen S. 77, 5) und führt dazu in
einer Anmerkung, ohne Quellenangabe, das folgende Zitat an:
Alte Weiber massen den schmerzenden Kopf mit einem Gürtel oder mit einem
roten Faden, indem sie dem Kranken ins Ohr flüsterten: das Feuer bedarf
keine Erwärmung, das Bier bedarf keinen Trunk.
Das Zitat stammt ohne Zweifel aus R. Cruels Geschichte der deutschen
Predigt im Mittelalter S. 618, wo wir genau dieselben Worte finden: nur
heisst es bei Cruel 'messen" und 'flüstern' statten 'massen' und 'flüsterten',
und ausserdem erscheint — eine bemerkenswerte Variante — statt des
roten Fadens bei Rinn ein roher Faden bei Cruel. Rinns roter Faden
muss auf einem Versehen oder auf einem Druckfehler beruhen. Dass
der rohe Messfaden zu Recht besteht, ergibt sich, wenn wir das Original
vergleichen, wovon die Worte bei Rinn und Cruel nur eine Übersetzung
1) Auch rühmt man dagegen (gegen die Gelbsucht), Schöllkraut auf die Puss-
sohlen zu binden. Lammert, Volksmedizin S.249.
154 Zachariae:
sind. In Gottschalk Hollens Sonntagspredigten (1, 47; das Zitat gibt
Cruel S. (118) entsprechen die Worte1):
Sicut quedam vetule mensurant caput dolentis cum cingulo aut cum filo non
bullito: dicendo in aurem inflrmi 'Ignis non indiget calefactione; cereuisia non
indiget potatione': aut alia fatua et superstitiosa faciunt.
Es kommt hinzu, dass sich der 'nicht gekochte' oder, wie sich
•Cruel ausdrückt, der 'rohe' — Faden auch anderwärts nachweisen lässt.
Indessen ehe ich hierauf eingehe, muss ich noch eine zweite Übersetzung,
die Hollens Worten zuteil o-eworden ist, kritisch beleuchten und mit Cruels
Übersetzung vergleichen. Franz Jostes hat, augenscheinlich ohne die
letztere zu kennen, Hollens Worte wie folgt wiedergegeben (Zeitschrift
für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 47, 1, 1)4; Münster 1889):
So messen manche alte Weiber den Kopf des Kranken mit einem Gürtel
oder mit einem ungeknoteten Faden, wobei sie dem Kranken ins Ohr sagen:
"Die Hitze bedarf nicht des Heizens, das Bier nicht des Trinkens', oder anderen
Unsinn und Aberglauben treiben.
Wie Jostes dazu gekommen ist, Hollens 'filum non bullitum" mit
Eingeknoteter Faden* zu übersetzen, ist mir unerfindlich. Viel eher könnte
man einen geknoteten Faden statt eines ungeknoteten erwarten; wird
•doch, wie ich oben gezeigt habe, die Knotung des Messfadens2) häufig
genug erwähnt und gefordert. Dagegen wird man Jostes unbedingt Recht
geben müssen, wenn er Hollens Worte 'mensurant caput dolentis' mit
•sie messen den Kopf des Kranken' übersetzt3). Cruels Übersetzung
'sie messen den schmerzenden Kopf ist zum mindesten ungenau*),
sie wäre nur richtig, wenn im lateinischen Original caput dolens stünde,
sie ist überdies geeignet, den Anschein zu erwecken, als handle es sich
in der Stelle bei Hollen um die Heilung von Kopfschmerz. Nun wird
•das Messen allerdings nicht selten als Mittel gegen Kopfschmerz angeführt
oder empfohlen6); bei Hollen aber ist entschieden nur vom Messen der
Kranken im allgemeinen die Rede; ein Mittel gegen Kopfschmerz gibt
er gleich darauf mit den Worten an: Quidam contra dolorem capitis
non comedunt aut tangunt caput animalis aut piscis6).
1) Die Stelle steht auch in Hollens Praeceptnrium (Kölner Ausgabe von 1484,
Blatt 32B). Über Hollens Sonntagspredigten vgl. oben IS, 442ff.; über sein Praeceptorium:
Geffcken, Bilderkatechismus S. ."'>lf.
2) Über die Zauberkraft des Knotens vgl. z. B. Wuttke § 180 und das Register unter
Knoten. Adam Abt, Die Apologie des Apuleius von Madaura 11)08 S. 7G. Campbell,
Indian Antiquarv 24, 131.
3) Siehe auch A. Franz, Theologische Quartalschrift 88, 420, Anm. 4.
Ii über andere Ungenauigkeiten oder Unrichtigkeiten bei Cruel vgl. oben 18, 442 f.
5) Luther, Werke 1, 102 Ncscio quot modis murmurandi cingulo metientes capitis
dolorem mitigent. Grimm, DM. 2 1121. Wuttke § 5ü7. Lammert, Volksmedizin S. 224.
Mooney, Proceedings of the American Philosophical Society 24, 15G. M. Güdemann,
•Geschichte des Erziehungswesens und der Kultur der abendländischen Juden 1, 215.
6) Siehe oben 18, 443. Der Genuss von Tierköpt'en hatte nach einem im Mittelalter
Etwas vom Messen der Kranken. 155
Ich wende mich zu dem rollen Faden zurück. Dass gerade ein
solcher bei der abergläubischen Handlung des Messens verwendet wird,
mag auf den ersten Blick auffällig erscheinen. Spielt doch sonst vielmehr
der rote Faden im Volksaberglauben eine grosse Rolle. Er kommt so
häufig vor, dass es überflüssig sein dürfte, Beispiele anzuführen1). Ja
selbst beim Messen tritt der rote Faden auf. Nach den Märkischen
Forschungen 1, 247 bekannte im Jahre 1583 in Beskow eine Hexe, sie
habe ein Weib nackt ausgezogen, sie mit einem Sonntags gewobenen
roten Garnfaden gemessen, dann Bier in eine Grube in der Erde gegossen
und das Weib dies mittels einer Röhre austrinken lassen, damit sie Kinder
bekomme (s. Grimm DM.2 1117). In einem Beichtspiegel bei Hasak,
Der christliche Glaube des deutschen Volkes beim Schlüsse des Mittel-
alters 1868 S. 19'2 heisst es: 'Hastu dich icht lassen messen mit einem
roten faden'2). Allein es fragt sich, ob in den angeführten oder in
anderen von mir vielleicht übersehenen Fällen die Überlieferung immer
richtig ist. In der zweiten, aus Hasak zitierten Stelle liegt unzweifelhaft
ein Fehler — ein Druckfehler oder ein Versehen Hasaks — vor (vgl.
weiter unten). Doch dem sei, wie ihm wolle. Gewiss legt man im
Zauberwesen grosses Gewicht auf die Farbe der Fäden, und der rote
Faden nimmt unstreitig unter den bunten, farbigen Fäden den ersten
Ran«: ein. Ferner ist die Zahl der zu verwendenden Fäden von Be-
deutung, sowie der Stoff, woraus die Fäden gefertigt sind (Fäden aus
Hanf, Wollfäden, Seidenfäden). In Betracht kommen die Person, die
einen Faden spinnt, und die Zeit, zu der ein Faden gesponnen wird.
Daneben aber beansprucht auch der rohe Faden seinen Platz im Zauber-
wesen. Das filuin non bullitum, womit nach Hollen alte Weiber
den Kopf eines Leidenden messen, lässt sich auch sonst nachweisen. Auf
der gleichen Stufe steht rohes Gram, rohe Leinewand u. dgl.
In zwei nahe miteinander verwandten Beichtspiegeln, die von Geffcken, Bilder-
katechismus, Beilage Sp. 99 und von Pietsch, Zs. f. deutsche Philologie IG, 185 f.
herausgegeben werden sind, findet sich die Frage: 'Hostu dich lossin messin mit
eynem roen (ron, rohen) fadem'?' Die Vermutung Geffckens, es sei doch wohl
ein roter Paden gemeint, ist bereits von Pietsch zurückgewiesen worden. In
herrschenden Volksglauben Kopfleiden im Gefolge (A. Franz, Die kirchlichen Benedik-
tionen "2, 564). Vgl. ferner Usener, Religionsgeschichtliche Untersuchungen 2, Kl, 10.
A. Franz, Der Magister Nikolaus Magni de Jawor 1898 S. 182. Les Evangiles des
quenouilles (Paris 1855) 1, 8. 9. 22. 3, 2. Zeitschrift des bergischen Geschichtsvereins
31, 97 f. 101 ff. (der Epileptiker soll nicht essen von Häuptern, sie seien von Fischen
oder Fleisch).
1) Vgl. meine Ausführungen in der Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgen-
landes 17, 218ff. und namentlich die dort angeführten Schriften von Rochholz.
2) Vgl. auch das rote Band, womit bei Kopfleiden der Kopf gemessen wird, bei
Wuttke §507: Lammert, Volksmedizin S. 221.
2 56 Zachariae :
'Der Selen Trost' heisst es bei der Erklärung des ersten Gebotes: 'Du solt dich
nit lassen messen mit einem rohen faden' (Hasak, der christl. Glaube S. 105;
Geffcken S. 55). Mit dem rohen Faden vergleicht Pietsch den ungespulten
Faden, der in Böhmen beim Messen gebraucht wird ('Dieser Faden ist ungespult,
und am Charsamstage vor Sonnenaufgange, und zwar von rückwärts, gesponnen;'
Grohmann, Aberglauben u. Gebräuche aus Böhmen u. Mähren § 125s. Wuttke
§ 506). Auch in Schlesien geschieht das Messen mit einem rohen Faden; s.
Drechsler, Sitte usw. in Schlesien 2, 312. Vgl. auch ebenda S. 2-74. 285 (Knoten
werden in einen rohen Faden gemacht).
Filum crudum: 'Vas in quo balneantur circumligant1) crudo filo;' aus des
Frater Rudolfus Buch De officio Cherubyn mitgeteilt von A. Franz, Theologische
Quartalschrift 88, 420. In der Anmerkung z. d. St. hat Franz auf Hollens filum
non bullitum hingewiesen.
Raw thread: 'Green leaves of a tree are tied on to the hand of the suspected
person with raw thread, and an iron spade, heated to redness, being then placed
on his palra, he must carry it for several paces quickly'; aus der Beschreibung
eines indischen Gottesgerichtes2) bei H. M. Elliot, The history oflndia as told by
its own historians 1, 329.
Linum rüde3): 'Oculos cum dolere quis coeperit, ilico ei subvenies, si quot
litteras nomen eius habuerit, nominans easdem, totidem nodos in rudi lino
stringas4) et circa Collum dolentis innectas'; Marcellus Empiricus 8, G2 ed. Helm-
reich. Vgl. 10, 70: Scribes in Charta virgine et collo suspendes lino rudi liga-
tum tribus nodis ei, qui profluvio sanguinis laborat
Unausgekochtes Garn u. dgl.: 'Wenn ein sechswochenkind viel schreit,
ziehe man es dreimal stillschweigends durch ein unausgekochtes stück garn;'
Deutscher Aberglaube bei Grimm, DM.1 S. CVII, Nr. 926. 'Kleine Kinder, aber
auch Erwachsene und Tiere, welche krank sind oder doch nicht so, wie sie sein
sollten, oder die man gegen künftige Krankheit schützen will, werden durch ein
Stück rohes, ungewaschenes Garn, wie es einem Tonnenreif ähnlich von
der Haspel kommt, hindurchgezogen;' Strackerjan, Aberglaube und Sagen 1,
364; vgl. ebd. S. 301. 365. 367 (durch ein Stück rohes Garn ziehn). In Skandi-
1) Zum Umwinden des Gefässes mit einem Faden vgl. Wiener Zs. für die Kunde des
Morgenlandes 17, 217. A. Abt, Die Apologie des Apuleius S. 74 ff. und die auf S. 209 aus
Horsts Zauberbibliothek zitierte Stelle. Campbell, Indian Antiquary 26, 129. Kausikasütra
2G, 32 (Caland, Althuliscb.es Zauberritual S. 78). Wassergefässe, deren Hälse mit weissen
Fäden umwunden sind, erwähnt Varühamihira (Brhatsamhitä 48, :'>7; Journal öf the Royal
Asiatic Society C>, 75).
2) Siehe Asiatic Researches 1, 394. 397. E. Schlagintweit, Uie Gottesurteile der
lädier, München 186G, S. 22.
3) Wenn ich das linum rüde mit dem rohen Faden auf eine Linie stelle, so über-
sehe ich doch die Tatsache nicht, dass lat. rudis auch bedeuten kann: meu, frisch, un-
gebraucht'; siehe H. Rönsch, Itala und Vulgata S. 336f.; Semasiologische Beiträge zum
lateinischen Wörterbuch 2, 4(1: dazu das Deutsche Wörterbuch 8, 1115 (unter roh Nr. 5).
So ist olla rudis bei Marcellus 15, 109. 16, 58. 31, 26. 35, 23 und sonst, das man ver-
sucht sein könnte dem 'rohen1, d. h. ungebrannten Gefäss der Inder (vgl. unten) gleich-
zusetzen, offenbar synonym mit olla nova 26, 25. 27, 10(5. 29, 41 u. ö.
4) Soviel Knoten in einen (rohen) Faden machen, als man Warzen, Hühneraugen
u. dgl. hat: Wuttke §484. 492. 504. 508 (vgl. 488.499). Strackerjan 1, 70f. 74. 7G— 71«
2, 1!). Lammert S. 186. Drechsler 2, 285.
Etwas vom Messen der Kranken. 157
navien heilt man die Rachitis (Skerfvan) dadurch, dass man den Kranken mit
den Füssen voran durch eine ungebleichte Garnsträhne zieht1); Hovorka und
Kronfeld, Vergleichende Volksmedizin 2, 6D5.
Rohe Leinwand: Gegen schlimme Augen sucht man schweigend neunerlei
Kräuter, näht sie in ein Stückchen ungekrimptes (ungenetztes) graues Tuch mit
einem Faden Garn ein, den ein Kind von sieben Jahren gesponnen3), darf
aber dabei keinen Knoten machen und den Faden nicht vernähen; dies wird nun
wieder in rohe Leinwand gewickelt und neun Tage auf dem Leibe getragen,
und dann an einen Ort vergraben, wo weder Sonne noch Mond hinscheint.
Wuttke § 495.
Die vorstehenden Beispiele werden genügen: genügen insonderheit
auch für die Beantwortung der Frage: was ist unter einem rohen Faden
zu verstehen? P. Drechsler, Sitte, Brauch und Volksglaube in Schlesien
2, 312 glaubt, es sei ein von Speichel unbenetzt oder ungenässt
gesponnener Faden gemeint (vgl. 2, 285. 326, wo roh = ungenetzt).
Dieser Auffassung, die ich nicht für richtig halten kann, widerspricht
schon Hollens Ausdruck filum non bullitum. Richtig erklärt Pietsch,
Zs. f. deutsche Philologie 16, 187 'roh' mit 'ungebleicht'. Dieser Aus-
druck ist uns oben bereits begegnet. Ein roher Faden ist ein Faden, der
'noch irgendeiner Verarbeitung oder Vervollkommnung fähig ist,' ein
Faden, der der 'Appretur' ermangelt. Man sehe nur das Deutsche "Wörter-
buch unter dem Worte 'roh' (Sp. 1115, 5) und die dort gegebenen Bei-
spiele: Rohe Seide, fila bombyeina non exeoeta, sua naturali ruditate
dura; roh Tuch, das nicht gewalkt; rohe Leinwand, linum crudum; rohe
oder ungebleichte Leinwand; rohes Garn, linum crudum; rohe Wolle,
lana ' nondum praeparata. Vgl. auch das Deutsche Wörterbuch unter
'Garn' Sp. 1361 f. und die griechischen Wörterbücher unter <bii6hvov.
1) Zu dem Brauche vgl. Feilberg oben 7, 44. 46. Kuhn u. Scliwartz, Norddeutsche
Sagen S. 410, 157. Liebrecht, Zs. f. roman. Philologie 5, 420. Strackerjan, Aberglaube
und Sagen 1, 36S. Grohmann, Aberglauben und Gebräuche § 832. H. Gaidoz, TJn vieux
rite medical p. G.*!. G4.
2) Ein Fadeu, den ein siebenjähriges Kind oder ein Kind unter 5 oder 7 Jahren, oder
eine reine, keusche Jungfrau gesponnen hat, ist besonders zauberkräftig und glückbringend.
So erzählt Tamburini: 'Filum Cannabis quidam assumebat, quod puella virgo ne-
Terat, eoque submurmuratis quibusdam preeibus utebatur ad sanandos infirmos' (Explicatio
Decalogi 2, G, 1, n. 38; cf. n. G7). Die heilige Schnur der Brahmanen wird in folgender
Weise hergestellt: Ein Mädchen, das noch nicht mannbar ist, muss das Garn mit den
Fingern spinnen, ohne Spinnrad, und aus rötlicher und gelblicher Baumwolle, und der
Brahmaner drehet hernach den Faden widersinnisch (Zs. der deutschen morgenl. Ges.
7, 24G. Zu dem Ausdruck 'widersinnisch' vgl. Gaidoz, Vieux rite medical p. G4: on fresse
a contre-sens une corde de paille). Hierher gehört das filum virginis oben 18, 1 1 I
(nicht: 'Haar von einer Jungfrau', wie Jostes, Zs. für vaterl. Geschichte und Alter-
tumskunde 47, 1, 1)5 übersetzt; als wenn cum pilo virginis im lat. Text stünde). Siehe
sonst Wuttke §542 und Register unter 'siebenjährig': das Deutsche Wörterbuch unter Not-
hemd: Deutscher Aberglaube bei Grimm, DM.1 Nr. 115. 656. 708.931; Panzer, Beitrag zur
deutschen Mythologie 1, 256. 2, 278. 295 usw.
158
Zachariae :
Fragen wir endlich, wie es zugeht, dass ein roher Faden (rohe Lein-
wand u. dgl.) bei abergläubischen Handlungen, namentlich in der Volks-
heilkunde gebraucht wird, so bietet sich, soweit ich sehe, nur eine Mög-
lichkeit der Erklärung dar: der rohe Faden stammt aus einer Zeit, wo
man eine Verarbeitung, eine Appretur noch nicht kannte. Der rohe Faden
ist ein Überrest älterer Kulturverhältuisse. Es ist eine bekannte Tat-
sache, dass man im Kultus und im Zauberwesen ältere Stoffe und Geräte
beibehielt, obwohl deren Verwendung eigentlich nebensächlich ist, und
obwohl im gewöhnlichen Leben längst andere, bessere oder vollkommenere
Stoffe und Geräte eingeführt waren1). Die Erklärungsart, die ich für den
rohen Faden in Anspruch nehmen möchte, ist in Hinsicht auf andere
Gegenstände, andere Verhältnisse oft genug angenommen worden. Dem
Flamen Dialis war es verboten, gesäuerten Brotteig zu berühren (farinam
fermento inbutam adtingere). Man sieht darin eine Erinnerung an die
Zeit, wo die Säuerung des Brotes noch unbekannt war. Wenn sich der-
selbe Flamen nur mit ehernen Messern scheren lassen durfte, so hält man
das für ein Überbleibsel aus der Bronzezeit. Die im Ritual so häufig auf-
tretende, bisher in verschiedenem Sinne gedeutete Nacktheit2) ist nach
G. L. Gorarae ein 'survival of a rüde prehistoric cult.' Wenn sich die
Priester des dodonäischen Zeus, die Seiler, niemals die Füsse wuschen
und stets auf dem Erdboden schliefen (ZeXXoi ärmioTioöss yafmievvai Ilias
16,235), so lässt dies nach der Meinung einiger auf eine Epoche schliessen,
wo das Waschen der Füsse und der Gebrauch der Bettstellen in Griechen-
land unbekannte Dinge waren3).
In diesem Zusammenhang verdient wohl das im indischen Zauber-
wesen zuweilen vorkommende ämapätram, das rohe d.h. ungebrannte
Gefäss, erwähnt zu werden. Ich verweise auf die Zauberhandlungen, die
das Kausikasütra 26, 32. 41, 7. 48, 43 beschreibt (s. Caland, Altindisches.
1) Vgl. im allgemeinen z. B. W. Kroll, Antiker Aberglaube S. Cff. A.Abt, Die Apo-
logie des Apuleius S. 85 und die daselbst angeführte Literatur. Von Überlebseln in der
Kultur handelt E. B. Tjlor im 3. und 4. Kapitel seines Werkes Primitive culture.
21 Weinhold, Zur Geschichte des heidnischen Ritus 189G S. 4. Kroll, Antiker Aber-
glaube S. 21. Abt, Die Apologie des Apuleius S. 1721. Einen Überblick über die ver-
schiedenen Erklärungen gibt jetzt E. Samter, Geburt, Hochzeit und Tod S. 112 ff.
3) So z. B. Wolfgang Heibig, Die Italiker in der Poebene 1879 S. 4; neuerdings
wieder Eugene Monseur, Revue de l'histoire des religions .">3 (190(5), 297-299 (il y a la
un simple cas de misoneisme sacerdotal). Anders, und ohne Zweifel richtiger, P. Kretschmer,
Einleitung in die Geschichte der griechischen Sprache 1S96 S. 87 f.; F. Dümmler, Kleine
Schriften 2, 213. Vgl. auch A. Abt, Die Apologie des Apuleius S. 40, wo auf die in den
Zauberpapyri vorkommende Vorschrift cbisxs tlalavslov (ajiooyjodto ßaXaveiov) hingewiesen
wird, im deutschen Aberglauben findet sich bisweilen die Forderung, dass man eine
magische Handlung 'ungewaschen und ungekämmt' vollziehen soll (Wuttke § 529; vgl. 381.
386). Hierher gehört wohl auch 'inlotis manibus remedium facies' Marcellus Empiricus
15, 9: J. Grimm, Kleinere Sclniften 2, 131.
Etwas vom Messen der Kranken. 159
Zauberritual 1900 S. 78. 141. 171); ferner auf die Zauberhandlung, die
ein Brahmane vornehmen soll, der den Liebhaber seiner Gattin verfluchen
will: 'Wenn ein Weib einen Buhlen hat, und wenn er den hasst, so soll
er in einem ungebrannten Gefäss ein Feuer anlegen, eine Streu von
Rohrhalmen in verkehrter Richtim«; ausbreiten und im selbi°en Feuer
die betreffenden Spitzen der Rohrhalme, nachdem er sie verkehrt mit
Butter gesalbt hat, opfern und vier Sprüche dabei rezitieren' (P. Deussen.
Sechzig Upanisads des Yeda 1897 S. 515 f.; vgl. Oldenberg, Die Religion
des Yeda S. 519). Im Atharvaveda 5, 31, 1. 4, 17, 4 erscheint das un-
gebrannte Gefäss unter den 'Stellen' und Gegenständen, die zur Ver-
zauberung geeignet oder dem Zauber ausgesetzt sind; von der gleichen
Bedeutung sind z. B. der überaus zauberkräftige blaurote Faden, rohes
Fleisch, Menschenknochen, der Würfel, der Pfeil, der Brunnen, der Be-
gräbnisplatz usw. (Caland S. 136; Bloomfield, Sacred Books of the Fast
42, 395. 456 f.). Nach Bloomfield 'The unburned vessel seems to sym-
bolise the fragility, destructibility of the person upon whom enchantments
are practised.' Aber sollte sich nicht der Gebrauch der ungebrannten
Gefässe im indischen Zauberwesen daraus erkhären lassen, dass sie einer
läugstvergangenen Zeit angehören, einer Zeit, wo man das Brennen der
Gefässe noch nicht kannte? Es sei noch auf die tzMv&oi <:>u(/.i, die un-
gebrannten Ziegel, verwiesen, die uns in den Zauberpapyri begegnen;
vgl. z. B. im grossen Pariser Zauberbuch y.äftioov avxöv tk nXiv&ovg <htiä^
(Denkschriften der Wiener Akademie, phil.-hist. Klasse 36, 2, S. 67, 900)
oder Pap. Lond. 122, 105 e%(ov nQÖg xecpaXrjv nXiv&ov v)to)v (Denkschriften
42, 2, S. 58).
Halle a. S.
lli(l Bolte:
Kleine Mitteilungen.
Gereimte Märchen und Schwanke aus dem IG. Jahrhundert.
Der Wert der zahlreichen Meisterliederhandschriften des 16. bis 17. Jahr-
hunderts für die Geschichte der Erzählungsstoffe ist schon mehrfach betont
worden1) und wird deutlich erwiesen durch die von E. Goetze und K. Drescher
unternommene treffliche Ausgabe sämtlicher Fabeln und Schwanke des Hans
Sachs, welche im 3. bis 5. Bande (1900 — 1904) 830 bisher zumeist ungedruckte
Meisterlieder des Nürnberger Poeten darbietet, die oft freilich nur Versifikationen
bekannter Prosa-Vorlagen sind, aber auch mehrfach die mündliche Volksüber-
lieferung zur Grundlage haben. Aus dieser noch nicht ausgeschöpften Quelle
entnehme ich die nachfolgenden Dichtungen des 16. Jahrhunderts.
1. Hans Sachs, Der ritter mit der verzauberten nadel.
Im langen thon Regenbogen.
1. Zuhandt ein schöne Jungfrau vor ihm stundt. 15
In Hoch ßurgundt ein ritter säße, Ob der erschrackh der ritter sehr,
Florentz genant, gar adelich vndt wol- Die Jungfrau aber redt ihm freundtlich zue
gestalt, Vndt sprach : „Florentz, förcht dir nit
Dem war gar wol mit iägerey, mehr!
Ritterspihel thäten ihm auch lieben. Kein vnrat hast von mir zu gwarten du.
5 Eines tags er außreihten wase Ich bin eben der vorig hirsch, 20
Mit seinem windtspihel in eim dückhen Verflucht wardt ich auß meiner muter
finstern waldt, mundt.
Reiset vmb in der wüsteneye, Doch kanstu edler ritter kün
Ein schönen hirschen seine hundt auf- Mich wol erlösen von deß fluches pundt,
triben,
Der vor ihnen durch den waldt 2.
sprung, Das ich bleib ein menschliches bilde,
jo Durch berg vndt thal, hin vndt her, Wann du das thust, so soltu mein gemahel 2".
manche krümme, sein.
Führt den ritter vast sechß stundt lang Ich bin eins königs tochter schon,
In dem vnwegsamen gehültz weit ümbe Von mir solst haben freüdt, gewalt vndt
Biß endtlich auf ein wisen grün. ehre."
Der hirsch darauf verschwundt, Florentz antwortt der Jungfrau milde:
1) Ich erlaube mir, ein paar eigene Aufsätze anzuführen: Märchen- und Schwank-
stoffe im deutschen Meisterliede (Zs. f. vgl. Literaturgeschichte 7, 449- 172. 11, 65— TU).
Der Schwank von den drei lispelnden Schwestern (oben 3, 58—61). Das Märchen vom
Gevatter Tod (oben 4, 34—41). Stoffgeschichtliches zu Hans Sachs (Euphorion 3, 351 bis
362). Sechs Meisterlieder Georg Hagers (Alemannia 22, 159-184). Zehn Meisterlieder
Michael Beheims (Festschrift für Kelle 1, 401 — 421. 1908). Der Nürnberger Meistersinger
Hans Vogel (Archiv f. neuere Spr. 1911). Einige Meisterlieder stehen in meinen Aus-
gaben der Schwankbücher von Val. Schumann (1893), Frey (1896), Montanus (1899),
Wirkram (Werke •'! und 8).
Kleine Mitteilungen.
161
„Wormit kau ich euch helfen? Das sagt
mir allein,
30 Mein leih vndt leben wag ich dran."
Die junckhl'rau antwort ihm hinwider
nuhre :
„So kombt von beut über ein iahr
Gleich widerumb auf dise grüne wisen!
So will ich dir anzeigen klar,
35 Wie du mich nun solt erlösen von disen
Meinen plagen. Doch schau, schlaf
nicht
Auf dem platz zu der zeit!
Du bringst vns sonst beide in hertzen-
leidt."
Florentz bot ihr darauf sein handt
40 Vndt vmbiiug die schöne Jungfrauen
jung.
Ihr menschliche gstalt baldt verschwandt,
Widerumb alß ein hirsch gehn waldt
einspruug.
Der ritter sach ihr senlich nach,
Stundt da in großem wunder allbereit.
45 Alß der hirsch kam auß seim gesicht,
Er baldt widerumb heim gehn Bur-
gundt rieht.
Alß sich herzu nebet das iahre,
Riht Florentz hin. lag über nacht auf
einem schloß
Zu nachts vor disem finstern waldt,
50 Auf das er früe kam auf die wisen
grüne.
Auf disem schloß ein wittfrau wäre,
Hätt auch ein tochter schön vndt zart
mannes genoß,
Die sie lengst hat solcher gestalt
Gern verheyrathet disem ritter küne.
55 Zu nachts forscht sie an seiuem
knecht,
Was er so früe hat in dem waldt zu
schaffen.
Der knecht ihr all ding saget schlecht,
Auch wie er auf der wisen nit dörfft
schlafen.
Alß die wittfrau die mehr verstundt,
60 Schenckht sie dem knecht für das
Ein lot silbers vndt ihm darnach fürbaß
Eine verzauberte nadel gab,
Die er dem ritttr in den mantel solt
Steckhen, so er vom roß stig ab.
G5 Der bößwicht |ver]hieß zu thun, wie sie
wolt.
Alß der ritter früe riht hinauß
Auf die wisen, vom gaul absteigen was,
Zeitsclir. d. Vereins f. Volkskunde. 1911 Heft
Steckht ihm der knecht die nadel rundt
In sein mantel, alß er saß in das graß.
4.
Zuhandt der ritter starekh entschliefe 70
Auß crafft der zauberey. Die junckhfrau
darnach kam,
Fandt ihn schlafent; groß war ihr klag
Ob ihm, dieweil sie ihn nicht kunt er-
weckhen.
Den knecht bat sie gar hoch vndt tiefe,
Wann er erwacht, das er ihm ansaget mit 75
nam
Zu kommen auf den andern tag,
So wolt sie ihm ihr erlösung entdeckhen.
Alß nun der ritter auferwacht,
Sagt ihm der knecht den befelch der Jung-
frauen.
Der ritter sich gar traurig macht so
Wider aufs schloß zu nachts ohn allen
grauen.
Die frau all ding erfuhr vom knecht,
Noch größer schänekh ihm thät.
Frü, alß der ritter hin kam an die statt,
Der knecht macht wider schlafent ihn. S5
Die Jungfrau kam, ihn wider schlafent
fandt
Vnd schidt wider traurig dahin
Vndt doch den knecht mit großer bitt ver-
mahnt,
Das er doch morgens widerkäm
"Vndt den ritter zu wachen überredt: 90
Wo sie ihn nicht fendt wachent schlecht,
Ihr beider hoffnung gar ein ende hat.
5.
Der ritter an dem dritten tage
Riht wider in den waldt, da ihn der
falsche knecht
Macht schlafent mit der nadel sein. 95
Nachdem die Jungfrau auf den platz kam
dare,
Fand ihn schlafent, sehr große klage
Führet sie vndt sauck nider auf die erden
schlecht,
Sprach: „Nun werde ich nimmer dein "
Sie wandt ihr häudt vndt raufft ihr gelbes 100
hare
Vnd küßet ihn an seinen miimlf
Vndt sprach: „Nun hat all mein hoffnung
ein ende."
Sie hieng ihrer lieb zu urkunt
Drei gülden keten an sein halß behende,
Nach dem sprang sie wider gehn holtz 105
In eines hirschen gstalt.
2. II
162
Bolte:
Der vuthreü knecht zog rauß die
naclel bald,
Zuhandt der ritter auferwacht.
Der knecht sagt ihm der Jungfrauen
klagwort,
uo Da liel der ritter in vnmacht
Vndt schafft seinen knecht mit den
pferdten fort.
Er wolt nimmermehr kommen heim,
Sein leben forthin verzehren im waldt,
Weil er verschlafen hätt die stoltz;
U5 Wurtzel vndt kreüter war sein auf-
enthalt.
Eins tags der ritter auf eim berge
Zerfiel ein schenckhel, krafftloß in einer
hol lag,
Da ihn ein armer koler fandt;
Der heylet ihn, der ritter wurdt sein
knechte^
120 Hätt bey ihm ein iahr sein herberge.
Nach dem fuhr der koler gehn Paris
auf ein tag,
Nam mit den ritter vnerkant;
Da ihn ein wittfrau von fürstlichem
gschlechte
Zu einem hofdiener aufnum,
125 Der dienet er ein monat oder mehre.
Nach dem im gantzen königthum
l'ranckhreich mann außrufft ein turnier
gar sehre.
Der ritter einen burger hat
Zu Paris in der statt,
130 Der seine keten behielt, den er bat
Zu helfen vmb pferdt vndt hämisch.
Vndt alß nun der tag zu thurniren kam,
Rüst sich heimlich der ritter, frisch
In d schranckhen riht zu andern adels-
stain,
Vnerkant mit ihnen turniert, 135
Da er vil sättel gelärt hat.
Baldt sich der turnier enden thät,
Riht er herauß vnerkant zu hauß spat.
Deß andern tags wider turniert
Der ritter, besaß aber darzue wol vndt 140
vest
Vndt thät das best, doch vnerkant
Sich darvon stal: vndt an dem dritten
morgen
Er sich mit sein drey ketten zieret,
Riht in turnier vndt thät aber darinn das
best.
Alß nun der turnier hat ein endt, 145
Schlueg mann die schranckhen zu gar
vnverborgen.
Zuhandt wurdt der ritter Florentz
Hinauf geführet in das frauenzimmer:
Mit großer ehr vndt reverentz
Empfieng ihn der könig vndt königin 150
immer,
Vergaßen ihres vngemachs:
Der ihren [1. Denn ihre] tochter klar,
Welches der verflucht hirsch gewesen war,
Kam wider zum menschlichen bildt,
Dieweil Florentz im turnier das best thät. 155
Das ihm die Jungfrau in der wildt
Sageu wolt, wenn er nit geschlafen hat.
Der könig gab ihms zu der ehe,
Sie hielten ein fürstliche hochzeit zwar.
Drumb was gott ordnet, spricht Hanß 160
SacliU.
Das kau kein mensch auf erden wenden
In H. Sachsens 13. Meistergesangbuch (in Zwickau) Bl. 30a steht diese
Dichtung u. d. T. „Der ritter von Purgund mit dem hirscn", gedichtet am 12. Sept.
1552, verzeichnet (H. Sachs hsg. von Keller-Goetze -2."), 400 Nr. 3873 a); ich gebe
sie hier nach dem Weimarer Mscr. P419, Hl. 445a Nr. 528 wieder, da mir dieses
bequemer zugänglich war. - Das Meisterlied ist merkwürdig als die älteste Auf-
zeichnung eines verbreiteten Märchens von einer in ein Tier verzauberten Königs-
tochter, die der Held durch standhaftes, schweigendes Ertragen von Schlägen und
Martern erlöst, dann aber durch dreimaliges Einschlafen vor dem Stelldichein ver-
liert und erst nach geraumer Zeit wiederfindet. Ich kenne folgende Fassungen:
Deutsch: Feen-Mährchen, Braunschweig 1801 S. 206 'Das Schloss im Walde und
Ritter Gundiberts Abentheuer. Grimm, KHM. 93 'Die Rabe1. Schambach-Müller, Nieder-
sächsische Sagen 185.") S. 25:3 'Die Prinzessin hinter dem roten, weissen und schwarzen
Meere'. Zingerle, Tirols Volksdichtungen
•2, 239
'Die verwünschte Prinzessin': 2, 356
Die drei Soldaten'. Busch, Ut 61er Welt 1910 S. 57 'Das verwünschte Schloss' (das Ein-
Kleine Mitteilungen. I(j3
schlafen fehlt). Wisser, Wat Grotinoder verteilt 1, 49 'Op'n Gollnmarker Sloß' (1901
Nur teilweise hergehürig). — Vlämisch: zwei entstellte Fassungen aus Denderleeuw
teilte mir A. de Cock freundlich mit. — Dänisch: Madsen, Folkeminder fra Hanved Sogn
L870 S. 36 'Prinsessen i Hundeham'. — Gälisch: Campbell, Populär tales of the West
Highlands2 2, 007 Nr. 44 lThe widow's son': vgl. R. Köhler, Kl. Schriften 1, 259. Mac
Innes, Folk and hero tales 1890 p. 127 Nr. 5 'The kingdom of the green mountains': dazu
S. 45s. — Französisch: Sebillor, Contes populaires de la Hautc-Bretagne 2, lf>2 Nr. 28
•Le pillotous'. Deulin, Contes d:uu buveur de biere 1873 p. 85 'Le petit Soldat'. —
Rätoromanisch: Decurtins, Rätoroman. Chrestomathie 2, 35 (1901) 'La siarp' = Jecklin,
Volkstümliches aus Graubünden 1, 126 'Die Schlangenjungfrau'. — Italienisch: Schneller.
Märchen aus Wälschtirol 1867 Nr. 37 'Der Schuster' und 38 'Die Königin von den drei
goldenen Pergen'. Comparetti, Novelline pop. italiane 1S75 Nr. 24 'La regina delle tre
montagne' (Monferrato) und 27 Tl palazzo incantato' (ebd.). Nerucci. Sessanta novelle
pop. montalesi 1891 Nr. 59 'Fiordinando'. De Nino, Usi e costumi abruzzesi 3, 284 Nr. 56
•La regina di Spagna'. Finamore, Archivio delle tradiz. pop. 3, 540 'I tre anelli' (Abruzzcn.
Entstelle R. Förster, Archivio 10, 316 'E caporal Pipeta' (Dalmatien). Gonzenbacli.
^kilianische Märchen 1870 Nr. 60 'Vom verschwenderischen Giovanninu": vgl. oben 6, 164.
Pitre, Fiabe pop. siciliane (1S75) 2, 238 Nr. S4 'La bedda di li setti muutagni d'oru' und
I. 436. — Portugiesisch: Coelho, Contos populäres portuguezes 1879 Nr. 18 'Os dos
irmäos". — Baskisch: Webster, Basque legends 1877 p. 106: 'Dragon'. — Serbisch:
Wuk, Volksmärchen der Serben 1854 Nr. 4 'Der goldene Apfelbaum und die neun Pfauinnen1.
Krauss, Sagen der Südslawen 1, 352 Nr. 81 'Der goldene Apfelbaum und die neun
Pt'aueuhennen': Nr. 88 'Bendes-Yila Mandalena'. — Ungarisch: Gaal-Stier, Ungar.
Volksmärchen 1857 S. 39 'Die verwünschte Königstochter auf dem Glasberge'. Sklarek,
Ungar. Volksmärchen 1, 193 Nr. 20 'Vom pfauenhaarigen Mädchen'. — Rumänisch:
Schott, Walachische Märchen 1845 S. 213 Nr. 21 'Mandsehiieru". — Tatarisch: Radioff,
Vnlksliteratur der türk. Stämme Südsibiriens 4, 502 (1872) 'Chosha Sultan'.
Unter diesen Fassungen, deren Unterschiede und Beeinflussungen durch andre
Märchenkreise ich nicht sämtlich aufzählen kann, entspricht die schottische bei
Campbell wohl am besten dem Moisterliede. Der Fischersohn Jain jagt eine
Hindin und will dreimal darauf schiessen, aber jedesmal erscheint sie ihm als ein
schönes Weib und heisst ihn in ein Räuberhaus gehen und sich dort satt essen. Als
die Räuber heimkehren, töten sie ihn, aber die Hindin belebt ihn wieder. Dies
geschieht zu drei Malen. Dann leitet die Hindin ihn zu einer Hütte, wo eine
Hexe mit ihrem Sohne wohnt, und bestellt ihn für den andern Morgen zur Kirche.
Die Hexe jedoch steckt einen Schlafdorn in die Kirchtür (oder in seinen Rock),
und Jain, den ihr Sohn hinführt, schläft ein. Die Jungfrau erscheint, schreibt
ihren Xamen 'Tochter des Königs vom unterseeischen Reich' unter seinen Arm
und entfernt sich. Am nächsten Tage steckt sie dem Schlafenden eine Tabaks-
dose in die Tasche, am dritten verkündet sie, dass sie nie wiederkommen werde.
Durch die in der Dose steckenden Geister wird endlich Jain in jenes Königreich
yetrasren, sieü't in drei Wettrennen mit Pferd. Hund und Falken und erhält die
Hand der Prinzessin. Die Hexe wird samt ihrem Sohne verbrannt. — In andern
Versionen jagt der Held nicht einen Hirsch, sondern findet in einem verzauberten
Schlosse eine Ziege, Schaf, Hund, Katze, Ente, Raben, Schlange, Rose oder eine
bis zum Kopfe eingemauerte (De Nino) oder im Wasser stehende (Comparetti "24.
Finamore) Dame, die ihn um Erlösung bittet. Die Entzauberung wird entweder
dadurch bewirkt, dass der Jüngling (wie bei Grimm Nr. 4 und 121 'Fürchten-
lernen') in drei Nächten von Geistern misshandelt wird oder dass er gemäss einem
ebenfalls verbreiteten Glauben1) die Prinzess dreimal neben sich schlafen lässt,
1) Vgl. oben 14, 245. Toldo, Zs. f. roman. Philologie 27, 293 f. ; auch Maynadier,
The wife of Bath's tale 1901 p. 2olf.
11*
Iß4 Bolte:
ohne sie anzurühren oder zu beleuchten (Madsen, Nerucci, Comparetti 27). Das
Schlafmittel, durch das die Hexe, die Mutter, der Gefährte oder der Wirt dreimal
das Stelldichein vereitelt (vgl. oben 15, 325. 18, 169. 19, 156), ist eine Schlaf-
nadel, ein Apfel oder ein Pulver1). Beim Aufsuchen der fernen Geliebten leisten
dem Helden bisweilen Einsiedler, Geister oder Tiere Beistand.
Auch unser Meisterlied weist einige besondere Züge auf. Die Verzauberung
der Königstochter rührt aus einer Verfluchung durch ihre Mutter (V. 21) her, und
zwar vermutlich aus einer unbedachten und nachher bereuten wie im Märchen
von den sieben Haben2); ihre Erlösung wird nicht durch des Ritters Einsiedler-
leben und Siechtum in der Köhlerhütte, sondern durch seinen Sieg im Turnier
bewirkt (V. 155); der Held ist kein Niedriggeborener, wie so häufig im Märchen.
sondern gehört höheren Gesellschaftskreisen an; nicht eine Hexe, sondern eine
Edelfrau, die in dem Ritter einen Tochtermann zu gewinnen hofft, vereitelt durch
Bestechung seines Knappen das Zusammentreffen mit der Prinzess; endlich werden
als Schauplätze der Handlung Burgund3) und Paris genannt, und der Ritter heisst
Plorentz gleich einem Helden im Volksbuch von Kaiser Oktavian4). Ich möchte
daher glauben, dass Hans Sachsens Quelle nicht ein mündlich überliefertes Volks-
märchen, sondern ein aus diesem entsprungener, noch zu ermittelnder Ritter-
roman war. Dazu würde auch die in den Minneallegorien eine grosse Rolle
spielende Jagd auf die Hindin5) gut passen.
2. Die Feindschaft zwischen Hunden, Katzen und Mäusen6).
Den Widerwillen der Hunde wider die Katzen begründet schon eine deutsche
Reimfabel des 14. bis 15. Jahrh. (Alemannia 34, 118: Von der katzen vnd von
dem hunde, aus Cgm. 1020) durch einen Zank, den ein Hund und eine Katze,
die gemeinsam zu einer Hochzeit zogen, dort um die guten Bissen anhüben. Weit
1) Grimm, Mythologie 3 S. 1155. Unland, Schriften 8, 464. Knoop, Hessische BI.
f. Volkskunde 6,. 73. — Zum verschlafenen Stelldichein vgl. auch Barth, Liebe und Ehe
im atz. Fablel 1910 S. 123.
2) Sonst verwandelt meist die Stiefmutter die Jungfrau oder Braut in ein Tier:
Grundtvig, Dänische Volksmärchen 2, 95 Nr. 6 und Danmarks gamle Folkeviser 2, LÖS
Nr. 56. 4, S95. Rittershaus, Neuisländ. Volksmärchen S. 72. Histoire litt, de la
France 30, 9'.).
3) Der Eingangsvers 'In Hoch-Burgundt ein ritter säße' stimmt übereiu mit H. Sachsens
Meisterliede vom strengen Urteil des Herzogs von Burgund (1547. H. Sachs ed. Goedeke
1, 241; vgl. Bolte u. Breslauer, Acht Lieder aus der Reformationszeit, Festschrift für
R. v. Liliencron 1910 Nr. 5).
4) Histoire litt, de la France 26, 303 'Florent et Octavien). Auch in andern fran-
zösischen Epen kommt der Name Florent vor (Langlois, Noms propres compris dans les
chansons de geste 1904 p. 221).
5) H. v. Laber, Jagd ed Stejskal 18S0. Lassberg, Liedersaal 2, 293. Zs. f. d. Alt.
24, 254. Keller, Fastnachtspiele 3, 1392. Ad. Blätter 1, 12,s. Busse, Augustin v. Hamer-
steten (Diss. Marl-urg 1902). Erk-Böhme, LWerhort 3, 295 Nr. 1434. 1445. Zs. f. d.
Phil. 40, 417 Nr. 42. J. v. d Heyden, Speculum Cornelianum 1618 Nr. 32: ein Jäger
mit den' Hunden Lieb, Treu und Stettigkeit folgt einer Hindin, deren Oberkörper der einer
Jungfrau ist. Doch erscheint auch, mit Anlehnung an Ovids Aktäonfabel, der Liebhaber
als der von der Jungfrau gehetzte Hirsch: Kopp, Bremberger-Lieder 1908 S. 27. Ditfurth,
Volks- und Gesellschaftslieder 1872 S. 3.
C,i Ich gebe hier nur den Auszug eines längeren Aufsatzes, da derselbe Stoff, wie
ich eleu höre, im 4. Lande von I •ähnhardts Natursagen eingehender behandelt und dort
auch die Meisterlieder B und E mitgeteilt werden sollen.
Kleine Mitteilungen. 165
grössere Verbreitung jedoch erlangte die Erzählung von dem durch die Fahr-
lässigkeit der Katzen verlorenen Privileg der Hunde, die uns bis 1614 in Deutsch-
land nicht weniger als elfmal begegnet:
A. Bildergedicht des Nürnberger Briefmalers Albrecht Glockendon (tätig 1531 bis
L543) = Montanus, Schwankbücher 1899 S. 487. — B. Meisterlied des Nürnberger Bechen-
meisters Peter Probst in der Rorweis Pfaltzen, 1544 14. März (Dresden Hs. M 191,
Bl. 175a). — C. Meisterlied von Hans Sachs, 1547 1. Mai = H. Sachs, Fabeln und
Schwanke ed. Goetze u. Drescher 4, 210 Nr. 374 (Zu den im H. Sachs ed. Keller-Goetze
25, 243 Nr. 2296 verzeichneten Handschriften kommt noch Dresden M 9. S. 1214). —
1). Spruchgedicht von Hans Sachs, 1558 20. April = H. Sachs, Fabeln 1, 591 Nr. 200. —
E. Meisterlied in der Leben weis Peter Fleischers, 15G0 8. Januar (Dresden M 207, Bl. 31b.
rnterzcich.net H. S., aber nicht von Hans Sachs verfasst). — F. Anonymes Meisterlied
in der Briefweis Regenbogen* v. J. 1592 = Montanus 1899 S. 492. — G. Meisterlied des
Nadlers Peter Heiberger zu Steier 1614 30. Januar = unten S. 168. — H. Montanus,
Wegkürzer 1557 Nr. 14 = 1899 S. 35. — I. Hulsbusch, Sylva sermonum iueundissi-
morum 1568 p. 168 = Montanus 1899 S. 486. — K. YVegekörter 1592 Nr. 2; s. Jahrbuch f.
nd. Sprachforschung 20, 133. — L. Eyring, Copia proverbiorum :'», 547 Nr. 237 (1604)
= unten S. 169.
Unter diesen elf Fassungen gehören enger zusammen: 1. die fast sämtlich in
Nürnberg entstandenen Gedichte A — G, 2. die Prosafabel des Montanus nebst ihrer
lateinischen und niederdeutschen Übersetzung H — K, 3. Eyrings Gedicht. Die
Fassungen der ersten Gruppe sind direkt (B E F) oder indirekt (C D G) aus dem
um 1535 erschienenen Bilderbogen Glockendons (A) geflossen, den Fischart noch 1573
im Epilog zur Flöhhaz anführt:
Wer sieht nicht, was für seltzam streit
Vnser brieffmaler malen heut,
Da sie führen zu feld die katzen
Wider die hund, mäuß vnd die ratzen?
Danach hatten die Hunde vom Vater Noah das Anrecht auf die Eingeweide
der geschlachteten Ochsen und Schweine empfangen. Einst baten sie die Katzen,
die zur Fastnacht bei ihnen zu Gaste waren, die wertvolle Urkunde für sie auf-
zubewahren. Die Katzen bargen sie in einem Mäuseloch; doch als die Hunde ein
Jahr darauf das Blatt begehrten, da war es von den Mäusen zernagt. Darum
wurden die Hunde den Katzen feind, und die Katzen den Mäusen. Zwar ver-
suchten die Hunde ihr Privileg erneuern zu lassen, aber ihr Abgesandter kehrte
nicht aus der Fremde wieder; seitdem beriechen die Hunde jeden fremden Genossen
und fragen ihn, ob er nicht die Urkunde bringe.
Die Fassungen B — G behalten den Kern dieser Erzählung bei, nach welchem
die Urkunde den Katzen anvertraut, aber von den Mäusen zerfressen wird und so
ein Krieg zwischen den Hunden und Katzen einerseits und zwischen den Katzen
und Mäusen anderseits anhebt, aber die Einleitung wird geändert. Noahs Name
erscheint nur noch in F; E redet nur von einer alten Verpflichtung der Metzger,
zur Fastnacht den Hunden ein Mahl zu geben; Probst (B) leitet dies Recht aus
einem selbstherrlichen Beschluss der Hunde ab: EL Sachs (C D G) aber motiviert
besser, bei ihm verleiht der Papst den Hunden die Freiheit, Freitags Fleisch zu
essen, weil sie für die Pfaffen Wildpret fangen. Ebenso zeigt der Schluss Ab-
weichungen. In F geht die Gesandtschaft, welche ein neues Privileg erbitten soll,
zum grossen Chan ins Cathaierland, d. h. nach China (vgl. Tabarin), in E fehlt
der ganze Schlussteil, Probst (B) vergisst die Absendung der Boten zu erwähnen,
während er von ihrer erwarteten Rückkehr redet: nur H. Sachs lässt die Ab-
166 Bolte:
gesandten folgerichtig- zum Papste wallfahrten und in Italien, wo sie sicn am
süssen "Wein berauschen, umkommen.
Dürfen wir nun in der Fabel eine, eigene Erfindung Glockendons sehen, oder
fand er sie bereits in der Volksüberlieferung vor'? Gewiss ist, dass er sich bemüht
hat, ihr durch Einflechtung von Nürnberger Örtlichkeiten und Personennamen ein
Lokalkolorit zu verleihen, worin ihn Probst nachahmt, wenn er die Katze, welche
das Pergament zur Aufbewahrung übernimmt, den Herrn von Katzwang (nach
einem Orte bei Schwabach an der Regnitz) nennt. Ob die 1557 und 1604 ge-
druckten Versionen des Montanus und Eyring auf einen von Glockendon un-
abhängigen Volksschwank zurückgehen, ist nicht ohne weiteres zu entscheiden.
Es könnte auf ungenauer Erinnerung beruhen, wenn bei Montanus der Hauptteil,
die Zerstörung des Dokuments durch die Mäuse,, fehlt: die Hunde verlieren das
von einem fernen Könige erteilte Privileg, als beim Durchschwimmen eines
Stromes der eine Abgesandte es unter seinen Schwanz nimmt. Eyring dagegen
berichtet nicht von einem Privileg, sondern von einem Reichstagsbeschluss sämt-
licher Tiere. Als der darin verkündete Landfriede durch einen mutwilligen Huml
gebrochen wird, sucht man nach der den Katzen übergebenen Urkunde und findet
sie von Mäusen zernagt; da brechen die alten Fehden zwischen Hunden und Katzer.
und zwischen Katzen und Mäusen wieder aus, und endlich wollen die Mäuse den
Katzen eine Schelle anhängen1). Auch der von Hans Weiditz um 1530 ge-
zeichnete Strassburger Bilderbogen von der Belagerung der Katzen durch die
Mäuse, dessen Text leider verloren ist2), könnte ebensogut durch Glockendon
angeregt als von ihm benutzt worden sein.
Aber stutzig werden wir doch, wenn auch ausserhalb Deutschlands dieselbe
Geschichte erzählt wird. 1547 berichtet der Schulmeister Guillaume Haudent zu
Rouen in einer gereimten Fabel 'De la guerre des chiens, des chatz et des souris' : .
wie einst die Hunde, um nicht von ihren Herren fortgejagt zu werden, mit diesen
einen Vertrag schlössen, in welchem ihre Pflichten festgesetzt wurden. Diese
Urkunde gaben sie den Katzen zur Aufbewahrung, entdeckten aber bald, dass die
Mäuse das Dokument zerfressen hatten, und wurden nun den Katzen feind, die
ihrerseits die Mäuse verfolgten. Sollte Haudent zu dieser Fabel, für die weder
Robert4) noch Lormier und Regnier ein älteres Vorbild ausfindig zu machen ver-
mochten, erst durch den Nürnberger Bilderbogen oder eine französische Nach-
bildung desselben angeregt worden sein? Die bei Haudent fehlende Schlusspartie
taucht 1622 bei Tabarin (Oeuvres ed. Aventin 1858 1, 35) auf. der wie Montanus
nur erklären will, „pourquoy les chiens, s'entre saluant. se flairent au derriere
1) Vgl. über diesen letzten Zug Oesterley zu Pauli. Schimpf und Ernst c. :iijl und
zu Kirchhof, Wendmimut 7, 105; H. Sachs, Fabeln 4, 30 Nr. 259 und S. VI: Chauvin.
Bibliographie arabe 2, 109; Wesselski, Arlottos Schwanke 2, 226 (1910).
2) Heitz (Eine Abbildung der Hohkönigsburg aus dem 16. Jahrhundert. 1907) hat
den alten Holzstock abgedruckt. Ferner Diederichs, Deutsches Leben der Vergangenheit
L908 1, Nr. 839. Yan.Heurck et Boekenoogen, Imagerie populaire Hamande 1910 p. 545.
La grande et merveilleuse Bataille d'entre les Chats et les Rats, Lyon 1610 (Bilderbogen
auf der Pariser Nationalbibliothek). Ayrer, Dramen ed. Keller I. 2367, 35: "Zu mahlen
die meuß mit den ratzen, Die ein krieg führen mit den katzen". Oben 17. 425 — 127.
3) Haudent, 366 apologucs d'Esope traduicts en rithme franQoise, Rouen 1547 liv. ■_',
nr. 61 = Neudruck von Ch. Lormier, Rouen 1877; unten S. 169 wiederholt. — Von J. de
La Fontaine (Eables 12, S 'La «[ucrelle des chiens et des chats et celle des chats et
des souris' = Oeuvres ed. H. Regnier •"., 225. 1885) 1694 ohne sonderliches Geschick erneuert.
1 Robert, Fables inedites des 12., 13. et 11. siecles L825 1, C1.XXX1X. Haudent
ed. Lormier p. XXIV.
Kleine Mitteilungen. 167
Tun de l'autre": um sich unabhängig zu machen, wollen die Hunde einen Handel
mit indischen Gewürzen anfangen; allein ihr Abgesandter wird bei einem Sturm
über Bord geworfen.
Die Entscheidung über das Alter unsrer Fabel gewährt uns endlich ein
."•echisches Werk des 15. Jahrhunderts, der 1467 von dem mährischen Landes-
hauptmann Ctibor Tovacovsky von Cimburk abgefasste und dem Könige Georg
Podiebrad gewidmete 'Streit der Wahrheit und der Lüge' (gedruckt 15o9, Bl. 34a),
wo dem Geize folgende Fabel in den Mund gelegt wird1):
Die Bauern, die mit den Wölfen einen gütlichen Vergleich schliessen wollten, be-
sprachen mit ihnen die beiderseitigen Bedingungen. Zuletzt bestimmten sie, dass ihre
Helfer, die Hunde, alles verzehren dürften, was vom Festmahle der Wölfe übrig bliebe.
Und als sie alle Punkte verabredet hatten, setzten sie einen schriftlichen Vertrag auf und
gelobten ihn zu halten. Und sie bedachten, wem sie diesen Vertrag anvertrauen könnten
und sollten: nachdem sie viele treue Freunde gesucht hatten, konnten sie keinen so
trefflichen finden als die Katze; denn diese sieht bei Tag und bei Nacht, Ihr vertrauten
sie nun den Schatz an, damit sie ihn treu bewahre und jeder Partei übergebe, falls es
nottäte. Als die Katze die Urkunde übernahm, versprach sie, diese vor Schaden zu
bewahren und zu behüten, und legte sie in einen geheimen Winkel, wohin die Leute nicht
kamen, und hoffte, dass sie nun sicher sei. Aber die naseweise Maus, die alles durch-
stöberte und in allen Winkeln herumschnupperte, kam dahin, erblickte das Schriftstück
in einer Ritze, und wie sie es lesen wollte, da waren die Blätter mit dem Siegel zu-
sammeugeklebt; weil sie nun die Schrift nicht sehen konnte, begann sie zu nagen, um
hinein zu gelangen und den Vertrag durchzulesen. Lange Zeit danach wurden die
Bauern [von den Wölfen] geschädigt. Die Hunde stellten sich krank und wollten ihnen
nicht gegen die Wölfe helfen. Als die Bauern das merkten, jagten sie die Hunde fort
und gaben ihnen nicht zu fressen. Da schlugen die hungrigen Hunde auf die Wölfe los
und vertrieben sie. Als die Wölfe sich wieder sammelten, sprachen sie: „Seht, ihrer sind
viele, aber von verschiedener Farbe, die einen rot, die andern weiss, die dritten schwarz
und die vierten bunt, und wir sind alle grau. Darum wollen wir sie im Vertrauen auf
unser Recht und auf Gottes Beistand angreifen.'- Und sie erwürgten viele Hunde. Als
die Hunde geschlagen wurden und viele Verluste hatten, bereuten sie ihre Tat, schickten
zu den Wölfen und mahnten sie au ihren Vertrag. Die Wölfe verlangten, dass der
Vertrag vorgelegt und verlesen werde. Da baten die Hunde die Katze, ihn herbeizubringen.
Weil aber die Katze nicht wusste, was die Maus getan, brachte sie die verdorbenen und geradezu
ausgerissenen Blätter. Als die Wölfe dies sahen, rotteten sie sich zusammen und zerrissen
die Hunde, so dass nur wenige übrig blieben, die nach Hause flohen. Aus diesem Grunde
ist der Hund der Katze feind, und die Katze der Maus; und die arme Maus kriecht aus
Furcht vor der Katze in die Winkel und kritzelt, kritzelt, als ob sie die Blätter wieder
aufschreiben wollte.
Wrir sehen somit, dass das von Glockendon um 1535 bearbeitete Märchen in
kürzerer Fassung, d. h. ohne den das Beriechen der Hunde motivierenden Schluss,
bereits im 15. Jahrhundert in Mähren bekannt war. Die Einleitung enthält in der
Schlacht zwischen Hunden und Wölfen einen eigentümlichen Zug und in der
Drohung der Bauern, die Hunde wegzujagen, eine auffällige Gemeinsamkeit mit
Haudent. Dass auch Glockendon die verschiedenen P'arben der Hunde (schwarz,
grau, rot, gescheckelt, weiss) erwähnt, denen Tovacovsky eine tiefere Bedeutung
1) Tobolka, Oasopis vlasteneck6ho muzejniho spolku v Olomouci [Zeitschrift der
vaterländischen Museumsgesellschaft in Olmütz] 11, li'.t (1894). Von Herrn Professor
G. Polivka, der schon in der Zs. für österreichische Volkskunde 1, 358 auf diesen Artikel
hingewiesen hatte, für mich freundlich übersetzt.
168
Bolte:
beilegt, mag ein Zufall sein. Da eine ältere schriftliche Quelle des Märchens sich
nicht ermitteln Hess, wird man annehmen müssen, dass sowohl Tovacovsky als
Glockendon und Haudent aus mündlicher Volksüberlieferung schöpften.
Weitere Nachweise stellen in Montanus Schwankbüchern S. 56Sf. Ich füge hinzu:
Zs. f. dtsch. Mythologie 4, 484 Blätter f. pommersche Volkskunde S, 169. NiedersacliMii
14, 57. Wossidlo, Aus dem Lande F. .Reuters 1910 S. 159. Zs. f. rheinische Volkskunde
6, 23. Wette, Spökcnkieker 1907 S. 38 (das verlorene Urteil). Revue des trad. pop.
14, :;7'.». Wallonia 3, 115. 4, 77. .">, 11. Srbillot, Folklore de France 3, 74f. Sebillot,
Joyeuses histoires de Bretagne 1910 p. 211. 213. Athaide Oliveira, Contos trad. do
Algarve 1, 66 Nr. 25 (1900). Flachs, Rumänische Schnurren (Vossische Zeitung 1902,
17. Juni). B. M. Fulda, Mährische Märchen 1854 S. 597. St. Ciszewski, Lud volniczo-
görniczy S. 187. Polivka, Archiv f. slav. Philologie 21, 264. Jurkschat, Litauisch'
Märchen 1, 52 Nr. 17 (1898). Auch Lademaun, Archiv deutscher Kolonialsprachen 12, 117 Nr. 11.
2 a. Peter Heiberger, Die hund mit dem brieff.
In dem rosenthon H. Sachsen.
Einmal thett ich ein altten fragen,
Von wau die l'eüudtschafft vor den dagen
Herkem zwüschen katzen vnd hund,
Zwischen katzen vnd meisen rund,
5 Im haß vnd neüd so stark thun leben.
Er thett mir bald die antwortt geben:
'Es geschach nun vor langen jaren,
Das die hund al beisamen waren
Vnd schickten ein botschafft gen Rom,
10 Das in der papst freyheütt mit nam
Geb, am freydag des fleüsch zu essen,
Weil sie des wülprett so vermesen
Alda den pfaffen aller düng
Mitt groser mihe in dem holtz füng.
15 Der papst gab in sigel vnd brieffe,
Frölich die pottschafft heimwertt lieffe.
Zusamen kamen die hund hie,
Den brieff tbetten verlesen sie,
Thett [en] bald rattschlagen vnd sorgen,
20 Wie der brieff blib gwis vnd verborgen.
Nach disem brieff so gar vermesen,
Da hatten in die meüs gefresen.
Alsbald hueb sich jamer vnd nott,
Die hund bisen die katzen dott.
Die feündschafft hatt sich angefangen 35
Zwischen den hund da mitt verlangen
Vnd auch zwischen den katzen schlecht,
Ein theil den andern hartt durch echt.
Weil die katzen haben verloren
Den brieff, das rhutt den hunden zoren. 10
3.
Desgleich sind worden [feind] die
katzen
Den meisen vnd darzu den ratzen,
Das sie den brieff haben zernagt,
In als dottfeinden abgesagt
Vnd würgen sie beid dag vnd nachte. 45
Nachdem die hund sich bald bedachte
Vnd schicken gehn Rom in die statt
Wider ein bottschai'ft, zwen hund dratte
Schrüfftlich zu brüugen ein vrkund,
Das sie möchten fleisch essen, vnd so
Da die zwen hund nit kamen wider,
Sund auff der stras gefallen nider,
Wo ein hund geht für andern noch,
Schmeckt er im hünden iir das loch,
Ob er die rechten brieff nit brüngen, 55
Wie man dergleich siht aler düngen.
Gib|tJ er nüt dan gutten bescheid,
So beisen sie einander beid.'
Die antwortt war mir von dem altten,
Das hab ich nitt wolen verhaltten. go
Sie betten khein druhen noch kaltter.
In verging [!] herfür ein vraltter
Hund, der sprach: 'Ich ratt entlich, das
Man vnser freündt die katzen las
25 Den brieff zu dreüer band bewaren:
Sund darzu stül vnd wol erfaren.
Sie gaben den brieff ahn verdrisen,
Die katzen namen in vnd stiesen
Ynder das dach mitt gantzem fleis.
30 Die katzen schautten gleicher weis
Anno salutis verkhert in den thon den 2:*> dag november vnd geschriben den 30 dag
im 1614 jar P. H. (d. i. Peter Heiberger zu Steicr).
Aus (lein Münchner Cod. germ. 5453, Bl. 16"2a Nr. 145 (eine Nachahmung von Hans
Sachsens Meisterlied in der Hundswcis Hans Vogels v. J. 1547). Vgl. Keinz, Sitzungs-
berichte der Münchner Akademie L893, 160.
Kleine Mitteilungen.
169
2b. Eucharius Eyring, Wer wil der Katzen die Schelln anhencken?
(E. Eyring, Copia proverbiorum 3, 547—550 Nr. 237. Eisleben L604.)
. . . Dann als etwan vor langer zeit
Zwischen den Thiern gewest ein streit,
Der bey jhn nemen wolt kein end,
20 Sind sie zusammn kommen behend,
Vom Handel rahtschlagten gemein.
Wie jhm hieriun zu tlnm möcht sein.
Schrieben ein Reichßtag aus so bald
Aus Königlichem Löwen gwalt,
25 Auff welchem Tag sie schlössen das.
Hinzulegen alln Neid vnd Hass,
Kein Thier dem andern Leids zu thon,
Welchs sie allsampt genommen an,
Das mit Brieffen so bald lirmirt,
30 Mit des Affen Pitschir pitschirt.
Als solchs der Esel thet verlesen,
Ist es jhr aller Meinung gwesen,
Den Hunden die Brieff vbergeben.
Dieselbigen fort auffzuheben,
35 Denen man sie nicht leicht kunt stelen
Vor jhrem steten billu vnd bellen.
Die Hund die Brieff genommen han,
Wolfen doch mit Gehülffen han.
Wehlten zu jhn die bösen Katzen,
40 Die vorn vnd hinten vbel kratzen.
Dieselben daucht nun für gut das,
Man köndt sie nicht verwahren baß,
Man thets denn in ein Meußloch stecken
Etwa in einer Unstern Ecken,
15 Doselbsten blieben sie verborgen,
Dürfften für sie so sehr nit sorgen.
Als aber etliche Jahr vergieng,
Ein junger Huud ein Hasen lieng,
Der nichts vmb diese Freyheit wisf,
50 Auff jhrm Reichßtag nicht gwesen ist.
Verbesserte Druckfehler: V. 2G allen
Der Haß berufft sich auff die Brieff
Vnd bald zun alten Hunden lieff,
Die fordern thet zu seinem Heil.
Die Hund lieffn zun Katzen in eil.
Die Katzen zum Meußloch dorthin 55
Vnd funden jhre Brieff dorinn
Auil's kleinst zerbissen vnd zerschrotten,
Stunden in engsten vnd groß Nhöten.
Dadurch die alt Feindschafft vorzeit
Widerumb gentzlich wurd vernewt, co
All Thier wurden den Hunden feind.
Die Hund den Katzen nicht hold seind,
Weil sie die Brieff nicht wol verwart,
l'arnmb sie die verfolgen hart.
Den Meuseu die Katzen entgegen, gö
Von den sich keine darff geregen,
Dieweil sie jhn die Brieff zerbissen:
Dasselb thut sie so sehr verdriessen,
Das sie alls würgen ohn genad.
Derhalben wurdens auch zu Rath, 70
Wie sies fort wolten fangen an,
Das sie jhrm Feind möchten entgahn.
Vnd theten einen List erdencken,
Wolten alln Katzen Schelln auhencken,
Das sie die allzeit hörten klingen 75
Vnd jhnen allwegen entgiengen.
Darunt eine kluge Mauß do war,
Die sprach zum andern offenbar:
'Wer wil sichs aber vnterstahn,
Die Schelln den Katzen hencken an ? so
Darzu sind wir Meußlein zu schlecht.
Das wer ein Spiel den Katzen recht;
Eh man einer ein Schelln anhieug,
Weren wir all vmbbracht gering.
— 57 kleinest — s:> Ehe — 84 Wem.
2c. Guillaume Haudent, De la guerre des chiens, des chatz et des souris.
(G. Haudent, 366 apologues d'Esope 1. 2, nr. 61. Rouen 1547.)
Les chiens voyant que leurs maistres vouloient
Les chasser hors, vindrent a leur promettre
De les seruir trop mieulx qu'ilz ne souloient
Et de ce faire, ilz en passerent lettre
5 Laijuelle aux chatz fut baillee, affin destre
Par eul\ gardee en lieu seur et escars,
Mais sur des ayz la sont venue a mettre
Ou les souris en feirent mille partz.
Or peu aprez il aduint <[uc les chiens
10 Peurent aux cliatz leurs lettres demander
Ne voulant plus estre obligey en riens,
Sur quoy les chatz vindrent a leur mander
Que lc souris en lieu de viander
170
Bolte:
En anltre chose, elz estoient empeschees
15 A les ronger, menger et friander
Tant <[ue du tout les auoient despechees.
Incontinent «pie les chiens entendirent
Iceulx propos deslors guerre mortelle
Contre les cliatz moiiuer Hz pretendirent
20 Mesmes les cliatz, pouv cause et raison teile
Contre souris meurent guerre, laquelle
On voit encor iusqu'a ce iour durer
Voyre si aspre importune et cruelle
Qu'a chaseun coup leur i'ont mort endurer.
25 Par la fable on doibt retenir
Que quand plusieurs hayne ou raneune
Tiennent sus auleun ou auleune
Sont veuz a iamais la teuir.
3. Ein lied von einem eeüchen volck.
In des Schillers thon.
[Ein gut gezeichneter Holzschnitt. 8x6 cm: ein Jüngling und eine Jungfrau, einander
die Hand reichend.]
Ein eelich volck eins mals ich kant,
Kain grossere trew ich nie entpfandt
Dann von den zwayen leüten.
Sie waren jr sach gantz vber ein,
5 Ir kains dem andern thet kain pein,
Das wil ich euch bedeuten.
Es wer zu tisch oder zu beth,
Oder was sie sunst pflagen,
Ir kains dem andern nbel redt,
10 .Man dorfft nit weyter fragen.
Es wer mit trinckenn, schlaffenn oder
essen,
Ir kains da kundt vergessenn
Des andern spat oder frü.
Hins mals kam es darzü:
15 Der gut mau in der kranckhayi
starb ;
Do nicht das weyb vor layd verdarb,
Das war ein grosses wunder.
Sy wunt jr hendt vn raufft jr bar,
Drung sich auch stettigs vmb die par,
20 Zerriß auch all jr pluuder.
Sy het ein viertayl halbe meyl
Zu jrer rechten pfarre.
Das volck bestellet wardt mit eyl,
Heften nit lang zu harre.
25 Mau wolt den Leyb hyn zu dem grab
beleyten,
Es war Kain lenger beyten,
Man trug die par hindan,
Vil volcks darmil wurdt gan.
Sy kamen zu eim bäum gar drat,
Da klagt das weyb auch all jr uot 30
Vnnd thet auch gar seer schreye:
'Ach lieben leüt, tragt jn fürbaß!
Do es mein erster man todt was,
Do trugens jn herbeye.
Do sie kamen vnter den bäum, 35
Setzten da die par nider,
Er erwacht sam auß einem träum
Vnnd kam zum leben wider.
Darumb so wollet rwen hie mit
nichte!
Hcynt het ich ein gesiebt.'. 40
Wie er zu hymel wer.
Beraubt jn nit seiner eer!
4.
'Last sein seel darinn! Ir ist wol.
Ob ich auff erdt bleyb kuniers vol
Vnd mich muß lenger leyden. 45
Vnd wen er wider lebendig wür,
Wer west, wer jm des todes pur
Zum andern mal thet schneyden!
Trübsal vn schmertz wil ich allein
On jn lieber gedulden.
Ich schenck euch doch ein faß mit
weiu,
Wenn jr meim wort werdt hulden,
Wolt jn on rw biß auff den kirchoff
tragen.'
Sie wurden eyln vnd jagen,
Biß sie jn brachten ins grab. -r>">
Den wein s yn geren gab.
Kleine Mitteilungen.
171
60
Ee sy haym hyn kam wider gar,
Sy schlug jr bald ein andern dar,
Het hochzeyt in acht tagen
Darauff, das sy jr layds vergeß,
Das sy sich auch doch nit verseß
Vnd noch lenger müst klagen. —
Das beyspill merckt, ir lieben geseln,
Wol von der weyber liste!
Sie waynen vnd klagen, wenn sie wuln.
Wen jnn schon nit vil priste.
Sie haben kurtzen mut vn lange klayder.
Das klagt vil mancher layder,
Das noch teglich geschieht,
Darmit bschleyß ich das dicht.
60
70
Das Lied steht auf einem um 1520 gedruckten Folioblatte, von welchem die
Berliner Kgl. Bibliothek zwei Exemplare (Yd 7801, 2 und Yd 7803, 28) besitzt.
Es ist eine leichte Umformung eines Po lzschen Meistergesanges in der Plamweys,
den A. L. Mayer (Die Meisterlieder des Hans Polz 1908 S. 86) aus dem Münchner
Autographon mitgeteilt hat. Die beiden letzten Zeilen lauten dort: „Es sint nit
newe mer, | Spricht Hanß F0IC5 barwirer." — Über das ICH von Benedikt von Watt
verfasste Meisterlied gleichen Inhalts und spätere Schwanke, in denen nicht der
Mann bestattet wird, sondern die Frau, vgl. oben 20, ;!54c und E. T. Kristensen,
Danske Skjsemtesagn 1, 127 (1900).
4. Lorenz Wessel, Der
In der meyenwe
1.
Ein armer wandrer auf ein zeit
Am Reinstram ging sein strasen,
Bey einer doren hecken fant
Er ein schlafenten hasen,
."> Der sein lang oren strecken war.
Der wandrer sich zum streich bereit,
Det bey im selbert sagen:
'Disen hasen mit meiner hant
Wil ich jezund erschlagen:
10 Das sol mir feilen vmb kein har.
Dar nach wil ich mit laufen
Gen Speyer in die stat
Vnd wil in da verkaufen
Vmb sechs paezen gerat.
15 Vnd wenn man mir das gelt erleget hat.
So nim ich ein dieselbig sum,
Thu auf dem gey vmb reisen
Vnd kauf mir lautter aür darum:
Gar ring wil ich mich speisen
20 Mit keß vnd brod ein ganezes jar.
wandrer mit dem hasen.
iß Lorencz Wesl.
Bis ich zusamen bringe
Wol sechzig gulten gut.
Darmit ich mich den schwinge
Aus al meiner armut,
Die mich ein lauge zeit hart drucken thut. 35
Darnach so kauf ich mir ein kram,
Damit im laud vmbwander,
Bis ich bring hundert gulten zsain,
Stück ein war vmb die ander
Vnd bring zusam vil kaufmans war. 40
Acht aür ich vmb ein kreiezer kauf;
Zu Speyer, darf ich sagen,
Da gelten vier ein kreiezer mir,
Thut dopelt gwin mir dragen.
25 Wie halt hab ich zwölf paezen par!
Mit den selben ich wider lauf
Vnd kauf mir andre ayer,
Die gib ich wider hin gar schir
Dort in der stat. zu Speyer.
so Den handel dreib ich durch das jar,
Darnach kauf ich mir in der stat
Ein haus mit lust erbauen,
Nach dem wil ich bewerben mich
Vmb ein reiche witfrawen;
Denn bin ich ein gemachter herr.' r>
Als er den rath bcschlosen hat
Sehr freidenreich er wase,
Schrir ich, warf ein hant vber sich.
Darvon erwacht der hase,
Fuhr auf vnd floh von dannen ferr. so
Wie halt war im verschwunden
Sein angenumne freudt! —
Acli gott, es werden funden
Noch vil derselben leiidt,
Den durch lautbracht ir anschlag wird 55
zerstreüdt
Vnd wendet sich alsbalt herum.
Es sol niemant nit schreyen,
Bis er vber den berge kum.
Das glück dregt küreze reyen,
Es leit nit, das man es einsper. G 1
172
Bolte, Sattler:
Dicht Lorencz Wesl, kürschner von Eisen ieezt jin L567 jar, vnd ist mir von Singe
von Steyer geschickt worden.
Aus der von Georg Hager geschriebenen Dresdener Hs. M G, Bl. 273b. Das
Lied steht mit Lorentz Wesels Namen auch im Münchner Cod. germ. 5453,
Bl. 163a nr. 146, „geschriben im 161-4 jar den 2. sondag des adtuents, das ist der
7. dag decem[ber].tt Lesarten: V. 2 Reinstrom zog 5 ohren lang strecket
dar -- 11 batzen in rad — i<; ein] dan — 1- den geu - is Vnd] fehlt — aüer
20 kas — 21 aür ich - - 33 dan ich mich — 35 so hart — 36 Aisdan — 4- ich] ju
— 51 Gar — 52 Sein angenumne — 53 gfunden — V. 50 steht hinter 59 — :>r nit]
ju — 53 ybern berg — 59 dregt] danzt — go leidet — mans.
• Über den 1529 geborenen Kürschner Lorenz Wessel von Essen vgl. Goedeke,
Grundriss2 2, 307. 313. Keinz, Hans Sachs-Forschungen 1894 S. 348. — Zum
Stoffe seines Liedes vgl. Waldis, Esopus 4, 80 'Des Betlers Kauffmanschaft".
Archiv f. siebenbürg. Landeskunde n. F. 33, 619 'Der Zigeuner und der Hase'.
Polivka, Zs. f. österr. Volkskunde 3, 377 und Archiv f. slav. Philologie 22, 307
nr. 408. 31, 285 nr. 271. Radioff, Türkische Stämme Südsibiriens 4, 260 Nr. 11
'Der Hase'. Über die verwandte Fabel vom Einsiedler mit dem Honigtopf oder
von der Milchfrau s. Montanus, Schwankbücher S. 603 f. 658.
5. Adam Meyer, Der ianezknecht mit den hünern.
In der grünen hag weiß Georg Hagers.
1.
Ein Ianezknecht reiset vber feit,
Er war drawrig, er het kein gelt.
Ein bauren sah er vngefer
Auf dem feit, zu dem eilet er,
5 Sprach: 'Bauer, ich dich freundlich
bit,
Du wolst mir etwas deillen mit.'
Der bawer autwort im beheut,
Sprach: 'Ich bin selber gar elent,
Auch sol ich stewer geben schir
10 Vnd weiß noch wenig hinder mir.
Auch der zinstherr gelt haben wil,
Vnd es get schon daher das zil.
Wenn du mir hüner fingest balt,
Ich wolt dirs zalen der gestalt
15 Vnd ein trinckgelt geben darzu.'
Der kriegsman sprach: 'Sey du zu ru!
Weist du hüener, zeig mir das an!
Ich kan sie fangen wie ein man.'
'Ich weiß ir wol', der bauer sagt.
20 Der kriegsman sprach: 'Sey vnverzagt!
Zeig mir dein haus, das ich es weiß,
So kan ich dir bringen mit flelß,
Was ich gefangen hab gar rundt.'
Der bauer zeigt jms haus zu stundt,
25 Sprach: 'Mein nachbauer neben mir
Der hat hüner, die sint frey dir.
Darumb so magstu schauen schon,
Ob du etliche brechtst darvon.
Er hat ir vil, es schat im nicht.'
Nun höret weiter, was geschieht! 30
Der Ianezknecht kam bald vngefer
In des bauren hoff mit beger,
Der in die hüner fangen hieß.
Er fings im auf vnd in sack stieß
Vnd bracht es dem bauren für war, 35
Der jms mit freüden auszalt par.
Vnd waren doch die hüner sein,
Vnd gab für eins sechs kreiczerlein.
Der hüner waren elf an spot,
Darzu des göckers kamp war rot. 40
Seinem weib det ers zeigen an,
Wie er het wolfeil kaufen than.
Als die beürin ir hüner sach,
Schent sie den man vnd zu im sprach:
'Kenst du denn vnser hüner nicht? 45
Ey du bist ein loser böswicht,
Das du kaufst, was vor vnser ist."
Sie nain die gabel zu der frist
Vnd jn zimlich abberen was.
Der kriegsman war schon auf der stras, 50
Het vmb das gelt ein guten mut. —
Wer sein nachbaren neiden thut,
Dem kan noch begegnen an schew,
Vnd das er im selbst wirt vntrew.
Anno 1599 den 23. december dicht Adam Meyer, ein Schreiners gescl von Breslaw.
Kleine Mitteilungen. 173
'&
Aus G. Hagers Handschrift (Dresden M 6) Bl. 257b. Ebenda Bl. 256 b steht
ein von demselben (schreiners gesel vnd drabant zu Anspach) am 1. Januar 1600
verfasstes Meisterlied 'Dreyer münchen heylikeit' in der kalten Pfmgstweiß
G. Hagers (Ein minich war). — Verwandt ist eine Erzählung bei Montanus,
Schwankbücher S. 327 Nr. 67, in der ein reicher Bauer einen Armen stehlen heisst
und dieser den Getreidespeicher des Ratgebers plündert.
Berlin. Johannes Bolte.
Albauesische 'Volkslieder.
Die Originaltexte zu den folgenden Übersetzungen — für deren Genauigkeit
und Richtigkeit ich im allgemeinen bürgen kann — wurden von mir auf einer
Reise durch Südalbanien (Frühling 1910), und zwar in der Gegend von Avlona,
Delvino und Janina gesammelt. Nr. 1, 2, 5 und 6 sind nach dem mündlichen
Vortrag aufgezeichnet, Nr. 3, 4 und 7 erhielt ich handschriftlich.
Vorliegende sieben Nummern sind nur eine Auswahl; sie gehören sämtlich
dem toskischen Dialekt an. Die Veröffentlichung der ganzen Sammlung, Text
und Übersetzung, soll erst später in einem ausführlichen Werke über meine
Albanienreise erfolgen. Dieselbe fiel gerade in jene Periode des Gnegenaufstandes,
als dieser auch nach Südalbanien überzugreifen drohte. Daher zeigen manche von
den Liedern, z. B. Nr. 2 und 5, einen ganz aktuellen Inhalt. Ihren poetischen
Gehalt darf man freilich nicht zu hoch anschlagen. Besonders die letzterwähnten
Zeitgedichte sind, was Reim und Versbau betrifft, ziemlich nachlässig behandelt;
es wurde offenbar mehr Sorgfalt auf die Einzelheiten des Ereignisses als auf die
Darstellungsform verwendet.
Die liederfrohen Albanesen besingen alle erdenklichen Vorfälle. Hat doch
einer meiner Bekannten, ein ehemaliger Kawasse des griechischen Konsulates in
Avlona, den ich photographiert hatte, sogar diese Tatsache in Verse gebracht.
Das betreffende Gedicht wurde, als zu unbedeutend, allerdings nicht unter die
vorliegenden Proben aufgenommen.
Zuletzt gestatte ich mir noch die Bemerkung, dass ich keineswegs 'Albanologe'
(der Ausdruck stammt von Dr. Pekmezi) bin. Das Material, das ich hier und
anderwärts veröffentliche, ist nur eine gelegentliche Beute, sowie man etwa ein
glitzerndes Ding einsteckt, das man am Wege findet, ohne erst seinen Wert genau
zu prüfen. Die Bewertung dieser Lieder für die Volkskunde, speziell als Bei-
träge zur Kenntnis des Schkjipetaren -Volkes, ist Sache der Fachmänner, und falls
sich jemand dafür interessieren sollte, so bin ich gern bereit, auf eine einfache
Anfrage hin genaue Kopien der Originaltexte zur Verfügung zu stellen.
I. Lied von der Geliebten.
1. Genosse, wo weilt mein Lieb? — Bei einem April-Veilchen, dort, wo
ich sie in Gedanken nicht vermutete.
2. 'Deine Lippen sind Rosen, -- der Hals wie Lampenschimmer, -- unbezahlbar
deine Brüste — weder mit der Bank von Egypten1) — noch mit Edelsteinen; —
das Auge ist 300 Napoleon wert.
1) Wörtlich: 'me banko n1 Misiri'. Gemeint ist die Bank in Alexandria, von deren
Schätzen im Volke die übertriebensten Vorstellungen herrschen.
174 Sattler:
3. O du Lamra, weiss wie ein Stern, — weisses Lamm der Herde! — Dir
gebürt ein goldener Sitz; — möge der Mann sterben, den du hast1)!'
4. „Lass ihn sterben, ich mag ihn nicht. — Er ist für mich ein Krüppel. -
Ich will mir einen wackern Mann nehmen, um mich mit ihm zu vergnügen!"
2. Das Lied von Chimara.
1. Am 25. April2) beschloss die Ratsversammlung — zu Konstantinopel
und ordnete an: — zwei Abteilungen Soldaten schickte sie — mit Geschützen
und Munition: — die sandte sie nach Chimara.
2. Hinsandte sie auch zwei Kriegsschiffe - mit zwei Abteilungen Soldaten. —
Sie kamen, uns zu beschiessen. — Es kam ein Mutessarif — als Befehlshaber
mit einigen Offizieren. — Sie kamen, uns zu vernichten.
3. Sie erschienen in Chimara, — wollten Antwort sogleich, — denselben Tag,
dieselbe Stunde.
4. Alle Alten3) kamen zusammen, — hielten in Chimara eine Versammlung;
— einer schaute den andern an4). - Die armen Alten hatten Grund: — es gab
keine lange Frist, — nur 30 Stunden5).
5. Die Alten fassten einen Entschluss. — Sie gingen zum Pascha und sprachen:
'Pascha, wir haben einen Entschluss gefasst. — Magst du uns augenblicklich ver-
nichten, — unsere Vorrechte6) geben wir nicht auf!'
G. Es gingen Etliche nach Konstantinopel, — um die Besatzung wegzubringen;
— sie gingen hinein in den Rat. — Der Vezir mit dem ganzen Rate — unter-
redete sich mit dem Sultan, — dass sie7) bleiben, so wie sie sind: — 'Heil,
Chimara!' sagten sie7).
3. Liebeslied des Mädchens.
1. Ibrahim, grosser Pascha8), mein Herr, — wer hat dir Böses von mir
hinterbracht'?. — Nimm doch nicht solche Verleumdungen über mich an; — dich
habe ich geliebt und dich liebe ich!
1) 'te vdekt buri, kje ke!' Dieser fromme Wunsch kommt in albanesischen Liebes-
licdern, die an verheiratete Frauen gerichtet sind, öfter vor. Vgl. Hahn, Alban. Studien,
i'. L31, Nr. 21: 'Buri, moj', kje ke, te dekte!' Vgl. auch das letzte Lied dieser Sammlung.
Str. 2 und 3.
■2) Nach dem griechischen Kalender. — Der Vorfall ist aus den Zeitungsnachrichten
bekannt. Chimara liegt an der Küste, etwa in der Mitte zwischen Avlona und Santi
Quaranta. Die Einwohnerschaft ignorierte die türkischen Behörden vollständig. Auf eine
unter Militärbegleitung dahin entsandte Regierungskommission wurde ein Überfall aus-
geführt, weshalb dann aus Janina zwei Bataillone mit einer Geschützbatterie und aus
Konstantinopel zwei Kriegsschiffe abkommandiert wurden.
3) 'Pljckjt' — die Alten, deren Versammlung, 'pljekjesia' genannt, den Gemeinderat
bildet.
I) 'njeri tjaterin veschtojn1 ist Zeichen der Verlegenheit.
.")) 'veteme tridjet saat' bildet einen Widerspruch zu dem Schlussvers der vorigen
Strophe: 'ate dit, ate saät'.
6) Unter diesen Vorrechten, im Texte mit dem griechischen Kollektivausdruck
'pronomion' bezeichnet, ist wahrscheinlich Steuerbefreiung u. ä. zu verstellen.
7) Die Personen sind hier ungenau bezeichnet, doch sind mit den 'sie' wohl beide-
male die Chimarioten, beziehungsweise ihre Abgesandten gemeint.
8) Natürlich ist er kein wirklicher Pascha; das ist nur verliebte Übertreibung.
Kleine Mitteilungen. 17.»
2. Wehe, Knabe, ich gehe zugrunde durch dich, — da du mir deinen Mund
entziehst, du sehr Schlimmer! — Nach Belieben, Knabe, betrachte mit den Augen —
die zarte Gestalt, gleich der Zypresse!
3. Deine Lippen sind Myrtenblüten; - - möge Gott dir verzeihen! - Entweder
töte mich oder gib mir ein Heilmittel!
4. Janina.
1. Diese Burg mit der Mauerbrüstung, - - ein Löwengeschlecht möge sie innen
haben: — Ali Pascha1) mit sieben Getreuen, — dass er die Kanonen mit Feinden
fülle2)!
2. 'Ach Janina, Janina! vergebens — treffe dich Feuer, um dich zu zer-
stören! — Übel bekommt's mir, dass ich selbst dich aufgerichtet3), — da weder
ich noch meine Kinder dich bewohnen sollen.
3. Meine Söhne, das Judengeschlecht4), und mein Hund — verlassen mich,
den Greis, treulos5). — Es köpfe sie Sultan Mahmud, dass der Hund die
ganze Familie0) ausrotte!"
5. Nik Dhim, der Türkentöter.
1. Bravo, Nik Dhim, bravo! — Damals, als man dich aussandte — mit der
Post von Delvino,
2. Da machtest du dich auf in Begleitung deines Neffen — mit einigen
Briefen, die nach Vl'or7) bestimmt waren. — Jene, die dich schickten, hatten
Furcht, — daher gingen sie nicht selber.
3. Und siehe, auf offener Strasse — lauerten Räuber euch auf. Wehe,
Nik Dhim, dass sie euch auflauerten — bei einer Quelle in der Nähe von
Radh'im8).
4. Sie griffen nach deinen Waffen: - - 'Giaur'! riefen sie, 'ergib dich! — zu
Ende ist dein Tag9), zu Ende dein Leben!'
1) Die Erinnerung an den grossen Nationalhelden ist heute noch im Volke lebendig. —
atrophe 1 bildet die Einleitung; sie leiht etwa dem Gedanken eines freiheitliebendeii
Schkjipetaren Ausdruck, beim Anblick von Stadt und Festung, die er nun hoffnungslos in
den Händen der verwünschten Türken sieht. Die Strophen 2 und •'! sind Ali Pascha in
den Mund gelegt.
2) Wörtlich so: 'qi musch topat me dykmena."
3) Ali Pascha ist nicht der Gründer der Stadt, doch verdankt sie ihm ihre starken
Befestigungen.
4) Ist bloss als Schimpfwort mit verächtlichster Bedeutung zu verstehen.
•")) Am 10. Januar 1822 musste sich Ali Pascha, der vom Sultan Mahmud bekriegt
•wurde, nach zweijähriger Belagerung in Janina ergeben, nachdem bereits früher viele
-einer Anhänger von ihm abgefallen waren. Sein trauriges Schicksal ist bekannt.
6) Im Texte steht das Wort 'oeäk', das nach G. Meyer, Etyni. Wörterb. d. alb. Spr.
vom türkischen 'odschak' d. i. Herd, Haus, Familie stammt und im Toskischen ein altes,
ehrwürdiges Geschlecht bezeichnet.
7) VL'or ist die toskische Form des Namens Avlona.
8) Radhim ist ein Dorf, 10 hm südlich von Avlona.
\)) Die Stelle lautet: 'te sos dita, te sos jeta' d.h. -mit dir ist's aus, du bist ver-
loren!' Das Zeitwort 'sos' kommt vom griechischen oc6t& und hat auch, wie dieses, die
Bedeutung 'retten'. Merkwürdig ist, dass mein Gewährsmann es auch in der griechische
Übersetzung der Stelle gebrauchte, als ich ihn um eine solche ersuchte: 'oor sowas /,
'fiega ttai y 'C,ojtf obwohl es sonst im Griechischen nicht 'enden' bedeutet. Vgl. auch da
folgende Lied, Str. 6.
],(; Sattler, Gebhardt:
5. Du aber, Nik Dhim, wehrtest dich wacker: — 'Ich will mich, bei Gott,
nicht ergeben!' — Und durchbohrtest den einen mit dem Messer, - - einen andern
traf deine Pistole ins Auge.
6. Dich fand der neue Tag schon jenseit des Gebirges, — das Tageslicht
inmitten der Einöde; — doch schreckte dich nicht etwa das Gewissen.
7. Und wo du vorüberkamst, — sangen dir die Vöglein - und grunzten die
Schweine des Waldes1):
8. 'Nik Dhim, du Pallikar, — hast zwei verruchte Türken umgebracht. —
dich selbst gerettet — und dem Dorfe Ehre gemacht!'
6. Lied von einem reichen Chimarioten, den seine Hirten umbrachten.
1. Eine Woche im Oktober2) sattelte er seinen Rotgaul — und machte
sich auf nach Dekati3).
2. Schlug den Weg über das goldene Bnenej ein und den Weg über
Loghara, — wo sie4) ihn sahen und er sie sah.
3. Als er mit ihnen zusammentraf, — fingen sie ihn mit List — beim Durch-
schreiten des Waldgebirges.
4. Es kam ein Regen und Sturm, — da machte Mitro den Vorschlag: —
•Auf, in die Höhle, Kapetan!' sagte er,
5. 'Lass uns dort eine Zigarette rauchen'. — Und sie stiegen hinauf zur
Höhle; — dort rief dann Mitro:
6. 'Zu ende ist dein Tag, Kapetan!' Und sie durchbohrten ihn — mit
dreizehn Messerstichen.
7. Das Pferd entwich zu Tale; — unten im Dorfe Vangilaj, — dorten machte
es Halt.
7. Liebeslied des Jünglings.
1. Warum kommst du nicht heraus zu den Genossinnen — Sumbulo, du rote
Pflaume5)?
2. Töte doch deinen kranken Mann, — Sumbulo, usw.
3. Dass er sterbe und ich dich heiraten kann6), — Sumbulo, usw.
4. Dich will ich mit lauter Silber schmücken7), - - Sumbulo, usw.
5. 0 du, dich mit lauter Silber! — Sumbulo, usw.
<i. Heraus, du! nicht hast du Mühe, denn du hast keinen leidenschaft-
lichen Mann.
Prag. Franz Sattler.
1) Wörtlich so: 'pilischne derat te püllit'.
2) 'Me nje jav tc Sche-Mitre . . .' Die Tosken benennen den Oktober nach dem hlg.
Demetrius.
3) Dekati ist ein kleines Dorf, etwa in der Hälfte des Weges von Chimara nach
Avlona. An der Strasse dahin liefen auch die Ortschaften Bnenej (mit dem Epitheton
't'arte' — golden), Loghara und Vangilaj.
4) Die verräterischen Hirten, deren Rädelsführer Mitro heisst.
5) Der Kehrreim lautet im Original: 'Sumbulo, kumbul' e kukje!'
6) Ti dekt e ti martsja un!' Vgl Hahn a. a. 0. Nr. 21: 'Te dikt e te martscha une".
7) 'Ti te benj erfüllte schum'. Hierzu findet sich ebenfalls eine Parallele bei Hahu,
a. a. 0. Nr. '24: 'Te te benj ergjende schume\
v
Kleine Mitteilungen. 177
Ein altisländisches Rechen rätsei.
In seinen isländischen Legenden, Novellen und Märchen (Halle 1882 — 18<S3)
gibt Hugo Gering unter Nr. 80 (1, 216) den Text und (2, 157 f.) die deutsche
Übersetzung eines Märchens 'Indische Edelsteine", das in der isländischen Hand-
schrift 6.37, 4t0- der Arna-magnäanischen Sammlung aus der Wende des 14. und
15. Jahrhunderts erhalten ist, und dessen Inhalt in kurzen Zügen folgender ist.
Ein Däne kommt auf einer Reise nach dem Süden auch in eine ansehnliche
indische Stadt, wo er bei einem Ratsherrn einkehrt. Dieser übergibt ihm drei
kleine Steine, die er bei seiner Rückkehr seinem König überbringen soll. Dies
geschieht, aber der König macht nicht viel aus den unscheinbaren Steinen. Nach
längerer Zeit erscheint ein Fremder beim König, fragt nach den Steinen und lässt
sie sich vorlegen. Er „nahm sie in die Hand und sprach: 'Da euch die Steine
wenig wertvoll erscheinen, so will ich euch mit eurer Erlaubnis die Eigenschaften
derselben sagen.' Er hob den ersten Stein empor und sagte: 'Dieser Stein hat
die folgende Eigenschaft: wenn ihr soviel Gold abwiegt, als der Stein schwer ist.
und ihn zu dem Golde legt, so wächst das Gold so, dass es sich bald verdoppelt
hat, und solange es dabei liegt, verdoppelt es sich stets. '" Der zweite Stein macht
unverwundbar, und als der Fremde den dritten Stein emporhob, sagte er: 'Das
ist die Eigenschaft dieses Steines, dass ich jetzt hier bin, im nächsten Augenblicke
aber in Indien/ Damit war er verschwunden, obwohl die Türen verschlossen waren.
Die Erklärung des ersten Steines habe ich oben bis zu und mit den Worten
'so wächst das Gold' genau nach Gerings Worten gegeben, der den folgenden
Satz von 'so' bis 'stets' durch die Worte 'um die Hälfte' übersetzt, meines Er-
achtens gegen den isländischen Sprachgebrauch1). Der isländische Text, auf dessen
Wortlaut es hier ankommt, lautet so: pat er nättüra persa steins: ef per vegit gull
jafnv<egi hans ok leggit hann viO gullit, pä vex pat svä at pat er skjött hälfu meira,
ok sva lengi sem pat er meiVr, verör pat ae hälfu meira. In Gerings Übersetzung
gehen die pat ('das" oder 'es') des isländischen Textes verloren. Sie können sich
grammatisch sowohl auf gull 'Gold' beziehen wie auf jafnvsegi 'was das gleiche
Gewicht hat'. Ich glaube, sie gehören abwechselnd zum ersten und zum zweiten,
vorausgesetzt, dass der Isländer sich darüber klarer geworden war als unsere
heutigen naiven Erzähler, die es auch ihrem Hörer überlassen, aus zahllosen 'es',
'das' klug zu werden. Soviel ist aber sicher, es geht nicht auf steinn, denn
dieses Wort ist männlichen Geschlechts.
Also: wenn der Stein zu dem ihm gleich schweren Golde gelegt wird, so
verdoppelt 'es' sich; 'es': entweder das Gold, das ja vorher dem Steine gleich
schwer wog und nun durch das Hinzulegen des Steines sich am Gewicht ver-
doppelt, oder das Gegengewicht: dieses muss nun doppelt so gross werden, da ja
das alte Gegengewicht des Steines zu diesem hinzugelegt wurde, also das neue
Gegengewicht den Stein und nochmals dessen Gewicht in Gold aufwiegen muss.
Und so fort: legt man abermals das Gegengewicht auf die Wagschale hin-
über, auf der der Stein nebst dem von Fall zu Fall wachsenden Gewicht in Golde
liegt, so braucht man zum Aufwiegen wiederum das Doppelte. Und so fort cum
gratia in infinitum veriVr [>at x hälfu meira, 'so verdoppelt es sich jedesmal'.
Reinhold Köhler (bei Gering 2, 158) vergleicht dazu Romania5, 76 — 81 eine
angeblich ursprünglichere Fassung in einer italienischen Novelle, wo aber nur die
Kraft des dritten Steines genau angegeben ist.
1) Vgl. Oldnordisk Ordbog ved Erik Jonssem, Kjöbenhavn 1863, S. 202, a unter hdlfr
hälfu meira een Gang saa stör, dobbelt saa stör.
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1911. Heft 2 I-
X78 Gebhardt, Hahn, Weitland, Schnippel:
Ich kann mich nun nach meiner oben gegebenen Erklärung des isländischen
Textes des Eindrucks nicht erwehren, wie wenn die scheinbar wunderbare Eigen-
schaft des ersten Steines in der isländischen Passung — zwar in einer eigentüm-
lichen Verbindung mit wirklich zauberischen Eigenschaften der beiden anderen
Steine — nichts anderes wäre, als eine andere Fassung einer scherzhaften Rechen-
aufgabe, die ich vor einigen Jahren in folgender Form gehört habe: „Ein Stein
wiegt drei Pfund und einen halben Stein, wieviel wiegen drei solche Steine?" Die
Lösung scheint so schwierig und ist doch so einfach: 18 Pfund.
Algebraisch:
x
1. x= 2— M.
X X
Davon subtrahiert: —. - — -^ , bleibt
-~- = 3, also x = 2 x 3 = 6.
•2. 3x6=18.
Wie es aber kam, dass diese Knackmandel in Verbindung mit den magischen
Eigenschaften der anderen Steine gesetzt wurde, das steht freilich dahin. Viel-
leicht war schon der Isländer, der diese Verbindung hergestellt hat, mathematisch
nicht geschult genug, um die einfache Rechenaufgabe zu lösen.
Als ich das isländische Märchen unserem Orientalisten Herrn Professor Jacob
erzählte, antwortete er mir, er könne sich zwar nicht entsinnen, eine orientalische
Fassung davon gelesen zu haben, doch sehe die Geschichte sehr orientalisch aus.
Auch sei es durchaus nicht unmöglich, dass eine scherzhafte Rechenaufgabe in
Verbindung mit den magischen Eigenschaften der beiden anderen Steine er-
zählt wird.
Erlangen. August Gebhardt.
Klabautermann.
Mit dem Durchstecken der Kinder durch den Baum (vgl. oben S. 109) hängt
auch eine sehr eigentümliche Gestalt des deutschen Gespensterglaubens zusammen,
die freilich jetzt wohl ganz der Vergangenheit angehört, der Klabautermann.
Bäume, durch die man Kinder in der S. 109 beschriebenen Zeremonie gesteckt
hat, sollen ja fortleben und die Krankheit bei sich behalten. Sie werden aber
nicht immer so sorgfältig behandelt wie in dem erwähnten Fall. Wahrscheinlich
kann man auch den Baum, wenn er fortlebt und die Höhlung behält, öfter brauchen,
nur verliert die ganze Zeremonie natürlich dadurch an Wirksamkeit. Ich erinnere
mich, dass bei uns in Lübeck (Forstort Israelsdorf — eigentlich Iser-Helsdorf)
die Kinder durch eine schöne Buche, die ein Zwiesel war, d. h. aus zwei Bäumen
zusammengewachsen, nur als Belustigung durchkrochen, allerdings immer noch
mit etwas Schauder, obgleich man die Vorstellung hatte, dass es gut sein würde.
Dem verdienstvollen Forscher der Steinzeit auf Rügen Rudolf Baier, dem Be-
gründer des schönen Stralsunder Museums, verdanken wir nun einen Bericht, der
wohl deshalb wenig beachtet ist, weil er in einem der letzten Bände von Wolfs
Zeitschrift für Mythologie (2, 141. 1855) vergraben wurde. Nach Baier ist bei
dieser Heilung durch einen Baum die Gefahr, dass, wenn das Kind — es ist nicht
gesagt, aber wohl selbstverständlich — trotzdem stirbt, die Seele des Kindes
in den Baum gehen muss.
Kleine Mitteilungen. 179
Nun benutzte der ältere Schiffsbau gerne gewachsene Krummhölzer, besonders
von Eichen, zum Schiffskiel. Solche Bäume wurden oft jahrelang aufgespart und
förmlich für dies oder jenes Schiff vorausbestimmt. Bäume aber, die zum Durch-
stecken gebraucht worden waren, zeigten oft einen geeigneten krummen Wuchs.
So lag die Gefahr nahe, dass die Seele des Kindes mit dem Bauholz in das Schiff
geriet. Dies aber war eben der Klabautermann. Deshalb hatte nicht jedes
Schiff einen, und deshalb erklärt sich auch die eigentümliche Doppelnatur des
Gespenstes. Der Klabautermann ist, wie oft dergleichen Hausgespenster, gut ge-
artet, wenn er nicht geärgert wird. Zugleich aber muss doch sein Streben dahin
gehen, die Fessel abzustreifen, die ihn an das Schiff bindet, deswegen seine Freude,
wenn es untergeht, auch wenn er vorher die Menschen nach Kräften gewarnt hat.
Es ist wohl eine Wiederholung dieser Notiz, wenn sich in Bastians 'Mensch
in der Geschichte' (3, 89) unter dem Autornamen Friedreich eine ganz ähnliche
Angabe findet.
Berlin. Eduard Hahn.
Das 'ßorenleihen' (Bärenfiihren).
Im Dorfe Pirow in der Westpriegnitz , veranstalten junge Burschen in den
Wochen vor Weihnachten das sogenannte 'Borenleihen'. Sie umwickeln einen aus
ihrer Mitte mit Erbsstroh, wodurch die Gestalt plump wird, geben ihm einen
Stab in die Hand und befestigen um seinen Leib eine Kette. So ist der Bär
fertig. Ein anderer Bursche zieht sich nach Art der Bärenführer einen Regenrock
an, nimmt eine Peitsche zur Hand und lässt bei den Klängen einer Ziehharmonika
den Bären tanzen. Unter dem Gelächter der Zuschauer, besonders der Schul-
jugend, gehen die Burschen, wohl 10 bis 15 an der Zahl, von einem Hof zum
andern und bitten um Gaben. Sie erhalten vorzugsweise Eier und Speck, zu-
weilen auch Geld. Hat man genügend Lebensmittel zusammen, so bereitet sich
die heitere Gesellschaft ein leckeres Mahl.
Pinnow (Uckermark). Erich Weitland.
Segen wider die ßose aus Masuren.
Die Weide und die Rose, hatten einen Streit
Die Weide gewan, die Rose verschwand,
Im Nahmen Gottes f Vaters, Gottes Sohns f
und Gottes Heiligen Geistes f Amen
Dieses wird 3 Mahl still hinter einüder
gesprochen, und den ein Vater unser.
Diese Formel steht genau so, von einer Hand aus dem Ende des 18. Jahrh.
geschrieben, auf einem schmalen Papierstreifen (17 x 5,8 cm), der jetzt der ge-
schichtlichen Sammlung des Kaiser Wilhelm -Gymnasiums zu Osterode, Ostpr.
angehört. Er war bisher stets im Gesangbuche einer und derselben (evangelischen)
Familie aufbewahrt worden; die Besprechung wurde unmittelbar vor Sonnenunter-
gang und nach Sonnenaufgang vorgenommen. Das f bedeutet zweifellos jedesmal
die Gebärde des Kreuzschiagens.
[Vgl. oben 7, 410: aus der Grafschaft Ruppin.]
Osterode, Ostpr. Emil Schnippel.
12*
180 Bolte:
Berichte und Bücheranzeken.
Neuere Märchenliteratur.
Den vielseitigen Wert des Märchenstudiums entwickelt ein in Boston ge-
haltener Vortrag Swantons1), der namentlich den Plan einer Konkordanz sämt-
licher indianischen Mythen empfiehlt, auf die Scheidung der mythischen, historischen
und phantastischen Bestandteile dringt und vor den Übertreibungen gewisser
neuerer Mythologen warnt. Weitaus positivere Belehrung gewährt ein knapp-
gefasstes, aber gedankenreiches Buch des gelehrten Herausgebers der Revue des
etudes ethnographiques et sociologiques A. van Gennep2) über die Entstehung
der Märchen. In streng logischer Gliederung bespricht er die Punkte, die vor
der Beantwortung der Hauptfrage zu erledigen sind: den Unterschied von Märchen,
Fabel, Sage und Mythus; die Verbreitung, Zusammensetzung und Reihenfolge der
Märchenmotive; ihre Beziehungen zur sichtbaren und zur überirdischen AVeit, zur
Geschichte und zur Literatur. Vertraut mit den neueren Forschungen, schliesst
er sich doch keiner Theorie unbedingt an und steht den allzu einfachen Er-
klärungen misstrauisch gegenüber (S. G7). Im Anschluss an englische und
amerikanische Ethnologen betont er, dass die Erzählungen ursprünglich keineswegs
nur der Erheiterung dienten, sondern auch moralische und praktische, selbst
magische Zwecke verfolgten, z. B. die Indianer in dem Lachsfange oder der
Hirschjagd unterweisen sollten. Die herkömmlichen Definitionen der Erzählungs-
gattungen, denen auch F. v. d. Leyen8) eine hübsche Betrachtung widmete,
genügen ihm nicht, weil die Grenzen fliessen. Verfolgt man die geographische
Verbreitung der Märchenmotive, so ergeben sich Motivgebiete, die von Sprache,
Rasse und Bildungsstufe unabhängig sind (S. 45). Diese Märchenmotive, für die
eine Bezeichnung durch kurze Namen höchst wünschenswert ist, erscheinen selten
allein, meist mit mehreren andern kombiniert und in verschiedener Reihenfolge.
In die älteste Zeit reichen die naturdeutenden Erzählungen zurück, die in den
sichtbaren Gegenständen verwandelte Tiere oder Menschen erblicken. Wenn die
Astralmythologen Jensen, Siecke, Frobenius u. a. womöglich alle Mythen und
Märchen auf die Betrachtung des Sternenhimmels zurückführen wollen, so liegt
darin eine falsche Schätzung des Einflusses, den die Gestirne auf das tägliche
Leben, die religiösen Vorstellungen und Sagen der primitiven Menschen hatten.
Die Tiermärchen lassen sich aus dem Totemismus (über den gleichzeitig ein
Aufsatz von Goldenweiser orientiert*) herleiten; doch ist der Ursprung dieser
1) John R. Swanton, Some practical aspects of the study of mytlis (Journal of
american folk-lore 23, 1 — 7).
2) A. van Gennep, La formation des legendes. Paris, F. Flammarion 1'JIO.
326 S. 3,50 Fr.
3) Fr. v. d. Leyen, Märchen, Sage und Mythus (Westermanns Monatshefte 105,
399- 106. L908);
4) A. A. Golden w eiser. Totemism (Journal of american folk-lore 2:'», 170—29:'.).
Berichte und Bücheranzeigen. ]S1
Anschauung noch nicht hinreichend erklärt. Den Abschnitt über Dämonen-, Götter-
und Heldensagen beschliesst eine Betrachtung über die Entwicklung der Herakles-
sage in Griechenland und Italien. Den historischen Wert der Heldensagen und
Epen schlägt der Vf. sehr gering an, da bei nicht schreibkundigen Völkern eine
gewöhnliche Tatsache sich kaum 150 — 200 Jahre lang fortpflanze. Dagegen
empfiehlt er die geographische Methode, die Berard bei der Odyssee und Bedier
beim Wilhelm von Orange angewandt hat, und die auch für die russischen und
südslawischen Heldenlieder erfolgreich war. Das Aufsteigen der Volkssagen in
die Literatur erläutert er am Epos, an Perraults Märchensammlung und an den
Bearbeitungen der Sagen von Don Juan, Faust und vom Zweikampfe des Vaters
mit dem Sohne. Im letzten Abschnitte endlich kritisiert er die von Rosieres,
Olrik, Frobenius und Benigni aufgestellten Gesetze der Sagenbildung und stellt
selber folgende Prinzipien auf, die jedes Volk nach seiner Gemütsstimmung und
Denkkraft variiert: Lokalisation und Delokalisation, Individualisation und Des-
individualisation, Temporation und Detemporation, Konvergenz und Dissociation der
Motive. Das ganze Buch, aus dem hier nur einige Gedanken herausgegriffen
wurden, enthält eine Fülle von gesunder Kritik und von neuen Anregungen; und
obschon ich zu mehr als einer Stelle ein Fragezeichen am Rande beifügen möchte,
so begrüsse ich doch das Werk mit Dankbarkeit und bedaure nur, dass der dem
Vf. vorgeschriebene Umfang ihn an breiterer Ausführung des Einzelnen und an
der Beigabe der gerade hier so nötigen Literaturnachweise gehindert hat. —
Das neuerdings öfter erörterte Verhältnis zwischen Heldensage und Märchen
unterzieht Sijmons1) einer klaren und anschaulichen Betrachtung. Er tritt im
wesentlichen auf Heuslers (oben 20, 331) Seite, wenn er gegen Wundts und
Panzers Behauptung, dass die germanische Heldensage aus dem Märchen er-
wachsen sei und allmählich geschichtliche Züge angenommen habe, Einspruch
erhebt. Ihm ist die Heldensage zur Poesie gewordene Geschichte; der Sänger,
der die Wirklichkeit mit den Mitteln der Kunst festhalten will, schmückt seinen
Helden mit Märchenzügen aus; freilich setzt er ihn meist in andere Zusammen-
hänge, da ihm der Sinn für die weltbewegenden Ideen und die Tatsachen der
Völkerwanderung abgeht. - - Eine andere Förderung der Märchenforschung kommt
aus Finnland. Dort hat Aarne2) ein sehr nützliches Verzeichnis sämtlicher ihm
bekannter Märchentypen in systematischer Anordnung zusammengestellt, das eine
weit umfassendere Übersicht als das 1864 in Hahns griechischen Märchen ver-
öffentlichte Register bietet. Der Vf. verfolgt dabei den praktischen Zweck, ein
Schema für die Katalogisierung der grossen hsl. vorhandenen finnischen Märchen-
schätze zu gewinnen, und hebt mit Recht hervor, wie sehr es die Arbeit der ver-
gleichenden Forscher erleichtern würde, wenn künftig alle Märchensammlungen nach
demselben System und denselben Bezeichnungen geordnet würden. Ausser den
finnischen Märchen hat er besonders die skandinavischen und deutschen Samm-
lungen ausgezogen, aber für Nachträge auf eingeschalteten Blättern hinreichend
Raum gelassen. Die einzelnen Nummern, die zumeist vollständigen Erzählungen
entsprechen, aber auch verschiedene Schwankmotive gesondert aufführen, tragen
eine Benennung (z. B. die kluge Bauerntochter) und zumeist auch eine kurze
Inhaltsangabe. Die drei Hauptgruppen werden gebildet von den Tiermärchen, den
eigentlichen Märchen (Zaubermärchen, Legenden, Novellen, vom dummen Teufel)
1) B. Sijmons, Heldensage en sprookje (Verslagen cn mededeelingen der k.
Vlaamsche academie 1910, 579—598. Gent).
2) A. Aarne, Verzeichnis der Märchentypen, mit Hilfe von Fachgenossen ausgearbeitet.
Helsingfors, Finnische Akademie der ^Yissenschaften 1910. X, 66 S. (FF Communications 3).
182 Bolte:
und den Schwanken, und jede Gruppe zerfällt natürlich in weitere Unterabteilungen.
Nachträge fehlender Märchentypen wird die finnische Akademie in Helsingfors mit
Dank annehmen. Für eine zweite Auflage möchte ich noch die Hinzufügung von
kurzen Hinweisen auf vorhandene Monographien und sonstige Literatur empfehlen. —
D ahn ha r dt1) gesellt den trefflichen beiden Bänden seiner Natursagen, welche
die an die biblischen Erzählungen anschliessenden explikativen Märchen behandeln,
einen dritten zu, der wiederum ein erstaunlich reichhaltiges, grossenteils neues
oder schwer zugängliches Studienmaterial für Tiersagen darbietet. Je nach der
Stufe seiner Einsicht und Phantasie hat der die Erscheinungswelt beobachtende
Mensch Antworten auf die sich ihm aufdrängenden Fragen gefunden: Warum hat
die Schwalbe einen gespaltenen Schwanz, warum scharrt das Huhn, wühlt das
Schwein in der Erde, stösst der Habicht auf die Küchlein, fliegen die Insekten
ins Licht, hat der Krebs die Augen hinten, stellt sich das verfolgte Opossum tot,
woher stammt das Feuer usw.? Und wenn die Antworten bei weit entfernten
Völkern oft gleich ausfallen, so liegt das sehr häufig an der einheitlichen Art des
mythischen Denkens. Allgemein legt man den Tieren menschliches Fühlen und
Wollen bei, ja man sieht in ihnen frühere Menschen, die durch besondere Schick-
sale in diese Gestalt verwandelt worden sind; auch den Seelen der Verstorbenen
legt man häufig Tiergestalt bei. Und neben seltsamen, novellistisch ausge-
sponnenen oder scherzhaften ätiologischen Sagen begegnen uns manche mit ernster
Scheu erzählte religiöse Mythen, wie z. B. einige Berichte von der Gewinnung
der Sonne und des Feuers. In dem Wirrwarr dieser zahllosen Märchen hat D.,
der seine mühevolle Tätigkeit allzu bescheiden nur als die eines Sammlers be-
zeichnet, Ordnung geschaifen, indem er zum Einteilungsprinzip nicht die Tier-
gattungen, sondern die verwendeten Motive wählte. Er stellt folgende Gruppen
auf: Gestalt, Körperfarbe, Gewinnung des Feuers, Wechsel des Eigentums, wettende
Tiere, Entstehung des Ungeziefers, Namen, Wohnstätte, Aufenthalt, Lebens-
gewohnheiten, lichtscheue und suchende Tiere, Nahrung, Feindschaften und Freund-
schaften, Tierstimmen, Verwandlungen (mit Ausschluss der antiken Literatur),
Seelenvögel. Dabei nimmt er auch die Partien andrer Märchen, wie von der
untergeschobenen Braut, auf, die Naturdeutungen enthalten. Anziehend wirken u. a.
die Symbolisierung der bunten Farben der Vögel, die ja durch ihre Haltung, Nahrung
und Gewohnheiten stets besondres Interesse erregten, die Volksetymologie der
Namen und Rufe der Tiere, die Milde, mit der die Russen die Gefrässigkeit des
Wolfes rechtfertigen, das hübsche Märchen vom fliehenden Pfannkuchen, das
unsern Lesern bereits aus des Vf. Darlegung (oben 17, 133) bekannt ist, auch die
zahlreichen finnischen und indianischen Tiermärchen. Durch die sorgfältige
1 >isposition und durch kurze Zwischenbemerkungen werden überall dem Leser die
Wege zum Verständnis gebahnt; auch ein ausführliches Register fehlt nicht. Auf
allgemeine Gesichtspunkte, wie die Verwandtschaft amerikanischer und asiatischer
Überlieferungen, Wanderstoffe, charakteristische Anschauungen einzelner Stämme,
macht die klar geschriebene Einleitung aufmerksam. Die komplizierten Ver-
wandlungssagen und Wanderlegenden sollen im 4. Bande folgen, dem wir mit
Spannung entgegensehen. — Slavische Märchen über die Entstehung der Tabaks-
1) 0. Dähnhardt, Natursagen, eine Sammlung naturdeutender Sagen, Märchen,
F;ibeln und Legenden, Bd. .''.: Tiersagen, erster Teil. Leipzig, Teubner 1!>10. XVI, 55S S.
15 Mk. — Zu S. 11 (Viel Geschrei und wenig Wolle) verweise ich noch auf Neubauer,
oben L3, 342; zu S. 21(5 (Floh und Fliege) auf Polivka, oben 15, 105; zu S. 3S2 (Ent-
deckung durch Spiegelbild im Wasser) auf R. Köhler, oben G, G4.
Berichte und Bücheranzeigen. 183
pflanze stellt Dubsky1) nach Polivka zusammen. (her die Bedeutung Indiens
für die Herkunft der europäischen Märchen äussert sich Forke2) ziemlich gering-
schätzig. Unter den rund 1400 Märchen, die in den Jatakas, Avadanas, im
Paiicatantra, Kathasarit-sägara und andern alten indischen Sammlungen enthalten
sind, will er höchstens 15 Episoden oder ganze Erzählungen anerkennen, die in
etwa 400 deutschen Märchen wiederkehren. Gegen R. Köhler, Cosquin und Aarne
tritt er in den meisten Fällen mit Bedier und A. Lang für die Polygenesie der
Märchen ein; die Arbeiten v. d. Leyens und Hertels Tanträkhyäyika werden von
ihm ebenso wenig erwähnt wie Chauvins Bibliographie arabe.
Indische Parallelen zu den Erzählungen vom Ursprünge des "Weines (Gesta
Romanorum 159) und der Unfruchtbarkeit des Maultieres (Dähnhardt 1, 292) und
vom Heilwunsche beim Niesen (oben 8, 395) liefert Oertel3), der für die erst-
genannte Sage auch indischen Ursprung vermutet. — In dem Märchen vom dank-
baren Toten, dessen Leiche der Held vor der Misshandlung der Gläubiger rettet,
hatte schon Simrock eine rechtshistorische Sage erblickt; ihm stimmt Huet4) bei,
indem er auf einen noch 1870 auf den Molukken geübten Brauch hinweist, nach
welchem das Begräbnis erst stattfinden darf, nachdem die Angehörigen die Schulden
des Verstorbenen bezahlt haben. Das Alter dieses Märchens erhellt aus der Tat-
sache, dass es bereits dem apokryphischen Buche Tobit zugrunde liegt, wo freilich
nicht der Totenbestatter, sondern sein Sohn die reiche, von einem argen Dämon
gehütete Erbin heimführt. Wie die sorgfältigen Untersuchungen von Müller und
Smend5) zeigen, hat die jüdische Verkleidung in dem um 200 v. Chr. aramäisch (?)
niedergeschriebenen Romane nicht alle heidnischen Züge (die Zaubermittel, den
Hund des Helden, die Namen Tobit und Asmodaios) beseitigt: und auch der
Roman vom weisen Achikar, auf den im Buche Tobit angespielt wird, weist eine
ähnliche Mischung aus heidnischen und jüdischen Elementen auf. Da uns, ab-
gesehen von einem kürzlich in Ägypten entdeckten Papyrus, nur spätere Fassungen
dieser zwei verschiedene Motive, den Verrat des Adoptivsohnes und die Recht-
fertigung des in Ungnade gefallenen Weisen, vereinigenden Erzählung erhalten
sind, so ist die Entscheidung der seit 1894 diskutierten Frage nicht leicht. Wahr-
scheinlich aber ward die älteste Gestalt des Achikar-Romans während der Kämpfe
zwischen den Seleuciden und Ptolemäern in aramäischer Sprache abgefasst, und
deutliche Einwirkungen gingen von ihrer späteren griechischen Übertragung in
die griechische Vita Aesopi und in die äsopischen Fabeln über. — Das Märchen
vom überlisteten Menschenfresser bildet das Thema einer vortrefflichen Arbeit
von Cosquin6). Während in einer um 1000 aufgezeichneten indischen Version
1) 0. Dubsky, Les contes populaires sur l'origine du tabac (Revue des trad. pop.
24, 161—168).
2) Forke, Die indischen Märchen und ihre Bedeutung für die vergleichende Märchen-
forschung. Berlin, K. Curtius 1911. TT S. 1,80 Mk.
'■'<) H. Oertel, Contributions from the Jfiiinimya brabmana (Transactions of the
Connecticut Academy of arts and sciences 15, 155— 21G. 1909).
4i G. Huet, Le conto du mort reconnaissant et une coutüme de l'ile de Timor
(Revue des trad. pop. 24, 305—310 .
5) Job. Müller, Beiträge zur Erklärung und Kritik des Baches Tobit. — Rud.
Smend, Alter und Herkunft des Achikar-Romans und sein Verhältnis zu Aesop. Giessen,
Töpelmann 1908. 125 S. 4,40 Mk. (Beiheft 13 zur Zs. f. d. alttestamentl. Wissenschaft.)
<>) E. Cosquin, Le conte de la chaudiere bouillante et la feinte maladresse dans
Finde et hors de rinde. Rennes 1910. 58 S. (= Revue des trad. pop. 2."), 1 — IS. 65-86.
126-141). — Nachtrag von A. de Cock, ebd. 25, 207 f.
184 Bolte:
der durch einen lachenden Schädel gewarnte Vikramäditya der Aufforderung- des
tückischen Div, den auf dem Feuer stehenden Kessel zu umwandeln, die Bitte
entgegensetzt, ihm dies vorzumachen, und dabei den Dämon in die siedende Flut
hineinstösst, ist in andern Fassungen ein Hineinschieben in den Backofen (Hansel
und Gretel) oder eine Enthauptung an die Stelle des Kessels getreten: oder der
Held tötet nicht die Hexe selber, sondern überlistet deren Tochter, die ihn
schlachten sollte, und setzt ihr Fleisch der Mutter vor. Diese Motive, ihre Um-
gestaltung und Kombination mit andern Elementen werden gründlich und scharf-
sinnig durch die weitschichtige Literatur verfolgt und der Ursprung des Typus in
Indien gesucht. — Umgekehrt schreibt Aarne1), dessen musterhafte Untersuchung
über die Märchen vom Zauberringe, vom Zaubervogel und von Fortunat oben 18r
452 erwähnt wurde, in einem würdigen Seitenstücke dazu dem Märchen von dem
Speisen spendenden Tischtuch, dem Goldesel und dem von selbst schlagenden
Knüppel europäischen, genauer südeuropäischen Ursprung zu. Die besonnene Be-
trachtung von mehr als 220 Aufzeichnungen aus dem Volksmunde und von drei
'Buchvarianteiv in Basiles Pentamerone (1G37), in der georgischen Sammlung
Orbelianis (um 1700) und im mongolischen Siddhi-Kür führt ihn zur Scheidung-
von drei Typen des Märchens, in denen entweder drei oder zwei oder eine Zauber-
gabe auftritt, und die sich mehrfach gegenseitig beeinflusst haben. Die älteste
Form mit den drei Gaben drang aus Italien nach Norden und scheint in Däne-
mark zu dem Typus mit der vom Teufel erhaltenen Zaubermühle umgestaltet
worden zu sein. In Finnland existieren alle drei Formen nebeneinander; der
Geber der Wunderdinge ist hier häufig der Frost oder der Wind. — Auf alte
keltische Überlieferungen führt v. Sydow2) die eigentümliche, in Snorris Edda
berichtete Fahrt Thors nach Utgard zurück; besonders ausführlich legt er dar,
dass wir in die Wiederbelebung der im Bauernhause geschlachteten Böcke Thors,
an denen aber ein Beinknochen beschädigt ist, eine bereits im griechischen
Altertum begegnende Sage vor uns haben, die sich zu vier verschiedenen Typen
entwickelt: 1. die Schulter des Pelops, 2. die von Hexen verzehrte und belebte
Kuh des Bauern, 3. die schon 796 bei Nennius angeführte Legende vom h.
Germanus, 4. die Thor-Sage und ähnliche irische Heiligenlegenden. — Um eine
Wiederbelebung handelt sichs auch in der von Zwierzina3) erläuterten koptischen
Legende vom Apostel Bartholomäus aus dem 5. bis 6. Jahrh. Dieser wird samt
seinen Genossen von den Heiden dreimal verbrannt, gekreuzigt, zersägt, wieder
verbrannt und die Asche ins Meer geworfen, doch immer wieder erstehen sie zum
Leben. Dies Motiv, das die dem Christen zuteil gewordene Erlösung vom Tode
sinnfällig darstellt, ist dann in die Legenden von Christophorus, Georg, Quiricus
übergegangen. Z. vergleicht damit das Märchen vom Lebenswasser; gehören aber
nicht auch die Märchen von der Wiederkehr der in einen Vogel oder eine Pflanze
verwandelten Seele Ermordeter (Grimm 47. 130. 135) hierher? An den von
A. v. Löwis (oben 20, 45— 5G) beleuchteten Übergang der Gregoriuslegende zu
einem armenischen Märchen brauche ich unsre Leser nur zu erinnern. — Gegen
Farinelli, der dem 1630 gedruckten Drama 'El burlador de Sevilla' die Originalität
1) A. Aarne, Die Zaubergaljen, eine vergleichende Märchenuntersuchung. Helsing-
fors 1909. (Journal de la socicte finno-ougrienne 27, 1 — 96).
2) C. W. v. Sydow, Tors färd tili Utgärd (Danske studier 1910, 65—105. 145-182).
3) K. Zwierzina, Die Legenden der Märtyrer vom unzerstörbaren Leben (Inns-
brucker Festgruss dargebracht der .X). Versammlung deutscher Philologen in Graz 1909
S. 130-158).
Belichte und Bücheranzeigen. 185
absprach, ist Armeto1) als Verteidiger des spanischen Ursprunges der Don Juan-
Sage aufgetreten. Wir sind ihm für die Mitteilung dreier galizischer Romanzen
von dem zum Nachtmahle geladenen Totenschädel (S. 34), vier galizischer Volks-
sagen von der geladenen Statue (S. 45) und einer Romanze aus ßurgos gewiss
dankbar; nur können wir diese neuerdings aufgezeichneten Stücke nicht als voll-
gültigen Beweis für seine These ansehen, zumal die zahlreichen ausländischen
Zeugnisse für die Sage, die 1900 von mir, 1903 von d'Ancona, 1906 von Gendarme
de Bevotte angeführt wurden, von ihm unberücksichtigt blieben. Seitdem haben
auch A. de Cock (oben 20, 331) und Klapper (oben 20, 92 3) wichtige neue Funde
gemacht. — Jones2) versucht, die märchenhaften Elemente in einem französischen
Epos des 13. Jahrh., dem Cleomades des Adenet le Roi, festzustellen; allein statt
von dessen längst nachgewiesenem Vorbilde, einer Erzählung der 1001 Nacht
(Chauvin, Bibliographie arabe 5, 221) und von den charakteristischen Zügen, dem
hölzernen Zauberpferde und dem verstellten Wahnsinn der bedrängten Jungfrau
(oben 15, 3G5) auszugehen, zieht er allerlei fernstehende Motive, das Goldener-
märchen, die Luftreise, die kunstreichen Gefährten u. a., heran. - - Dagegen dürfen
wir die umfängliche Arbeit Wallenskölds3) über die Sage von der durch ihren
Schwager bedrängten keuschen Frau als eine gelehrte und gediegene Übersicht
über ein grosses Gebiet bezeichnen. Die aus dem Orient (Tuti-nameh) nach
Europa gedrungene Novelle hat dort fünf Sprossen getrieben: 1. die Fassung der
Gesta Romanorum, 2. Florence de Rome, 3. Marienmirakel, 4. Crescentia, 5. Hilde-
gardis. Den ausführlichen Nachweisungen sind verschiedene bisher unedierte
Texte beigegeben. Da in den drei ersten Versionen Ungarn eine Rolle spielt,
wagt Karl die Vermutung, schon bald nach ihrem Tode sei die h. Elisabeth von
Ungarn (7 1231) von den Franziskanern als ein Exempel der verfolgten keuschen
Frau aufgestellt und so in die Sage eingeführt worden. — Zu dem Märchen vom
Mädchen ohne Hände teilt Suchier4) eine lateinische Novelle 'Ystoria regis
Franchorum et filie', die er schon in seiner gründlichen Einleitung zu Beaumanoir
besprochen hatte, aus einer Pariser Hs. v. J. 1370 mit. — Dem Märchen von
Sneewittchen, auf dessen Verwandtschaft mit der französischen Bertha-Sage
Johnston5) aufmerksam macht, widmet Böklen6) eine ausführliche Untersuchung,
deren erster Teil eine dankenswerte Zusammenstellung von 75 Aufzeichnungen
aus Europa, Afrika und Brasilien im Auszuge sowie eine Übersicht der 30 Motive
dieser Versionen bietet. Hierbei tritt die reiche Erfindungsgabe der Erzähler
hervor, welche die verschiedenen Teile des Märchens, insbesondere die durch ver-
giftete oder verzauberte Speisen, Kleidungsstücke, Schmucksachen usw. herbei-
geführte Tötung der Heldin, die Aufbewahrung, Auffindung und Erweckung der
1) V. S. Armesto, La lejenda de Don Juan, origenes poeticos de El burlador de
Sevilla y convidado de piedra. Madrid, Hernando 1908. 303 S.
2) H. S. V. Jones, The Ok-omades and related folktales (Publications of the Modern
language society of America 23, 557—598).
3) A. Wallensköld, Le conte de la femme chaste convoitee par son beau-frere
(Acta societatis scientiarum fennicae 34, 1. 1907. 174 S. 4°). — L. Karl, Florence de
Rome et la vie de deux saints de Hongrie (Revue des langues rom. 52, Hi:'> — 180).
4) H. Suchier, La fille sans mains (Romania 39, 61 — 76).
5) 0. M. Johnston, The legend of Berte aus grans pies and the märchen of Little
Snow-white (Revue des langues romanes 51, 545—547).
6) E. Böklen, Sneewittchenstudien, 1. Teil: 75 Variauten im engern Sinn gesammelt
und unter sich selbst verglichen. Leipzig, Hinrichs 1910. 172 S. 6 Mk. (Mythologische
Bibliothek III, 2).
186 ßolte:
Leiche oder Verwandlung in einen Vogel und die Entzauberung, vielfach variieren.
Zahlreich sind namentlich die italienischen Fassungen. Die ferner stehenden
indischen Märchen und die nur teilweise verwandten sieben Raben oder Dornröschen
werden absichtlich übergangen, da erst der 2. Teil die Vergleichung mit andern Stoffen
und die mythologische Deutung bringen soll. Bleich1) ergänzt die bekannte
Aschenbrödel-Monographie der Miss Cox (die bei Böklen Coax und bei van
Gennep Coxe heisst) durch eine Betrachtung der literarischen Fassungen dieses
Märchens; nachdem er die Erzählungen von Basile, Grimm und Perrault
charakterisiert hat, wendet er sich zu den Dramen von Etienne, Piaten, Grabbe,
Benedix, Hopfen, Kotzebue, sodann zu den Opern, Ballets und Jugendschriften, in
denen zumeist Perraults Einfluss zu spüren ist. — Angeregt durch seinen Lehrer
Voretzsch, untersucht Class2) in einer tüchtigen Doktorarbeit, wie weit die
Schilderung der Tiercharaktere im altfranzösischen Epos 'Renart' mit der Natur
übereinstimmt, und kommt zu dem Ergebnis, dass, obwohl der Dichter wie schon
seine Quelle, die mündlich überlieferten Tiermärchen, manches ins Unwahrschein-
liche, ja ins Phantastische steigert, doch der Grundcharakter des Fuchses, des
Bären, der Haustiere, der Vögel, insbesondere der Meise, von ihm mit einer oft
verblüffenden Naturtreue wiedergegeben wird. Wenn dagegen der Wolf, seinem
wirklichen Wesen zuwider, zu einem dummen, tölpelhaften Tiere gestempelt wird,
so liegt das an der Absicht des Dichters, einen Gegenspieler zu dem listigen und
gewandten Fuchse zu gewinnen. Vielleicht ist der Wolf erst nachträglich unter
dem Einfluss der antiken Fabel an Stelle des zum Gegenspieler des Fuchses
besser geeigneten Bären getreten, wie schon Krohn vermutet hat. Zum Schlüsse
sucht C. durch Vergleichung des Ysengrimus, der Fabeln der Marie de France
und paralleler Märchen die Urform von 12 Abenteuern im Renart (der Fischfang
mit dem Schwänze, Fischdiebstahl des Fuchses, Fuchs und Wolf, Pilgerfahrt der
Tiere, Fuchs und Hahn usw.) zu ermitteln, indem er gleich Krohn einen selb-
ständigen europäischen Fuchsmärchenzyklus voraussetzt. — Keinen Gewinn für
uns bedeutet eine Schrift über Perraults Märchen von Tesdorpf3), da dieser
bunten Reihe von allerlei bibliographischen, literarhistorischen und biographischen
Notizen das rechte Augenmass und die Kenntnis der neueren Märchenforschung
abgeht. — Weitaus eingehender und gehaltvoller ist die Würdigung ausgefallen,
die Fräulein Sperber4), vermutlich eine Schülerin S. Singers, der vortrefflichen
lothringischen Märchensammlung von Cosquin angedeihen lässt. Umsichtig, wenn
auch etwas ungleichmässig prüft sie die Güte der Überlieferung, den ethischen
und den ästhetischen Gehalt dieser sämtlich aus dem Munde eines einzigen jungen
Mädchens herstammenden Erzählungen, indem sie die vom Herausgeber so bequem
bereitgelegten Varianten zur Vergleichung heranzieht. 25 von den 75 Nummern
zeigen Lücken und Störungen, sind also unvollkommen überliefert. Die Legenden
und Schwanke, die für den ethischen Charakter vor allem in Betracht kommen,
werden namentlich auf ihr Verhältnis zum Christentum und zum Aberglauben, auf
die Freude an der Scherzlüge, an Betrug und List, auf die Abneigung gegen
1) 0. Bleich, Das Märchen vom Aschenbrödel, vornehmlich in der deutschen Volks-
und Kunstdichtung (Zs. f. vergl. Literaturgeschichte 18, 55—102).
2) H. Class, Auffassung und Darstellung der Tierwelt im französischen Roman de
Renart. Diss. Tübingen, Schnürlen 1910. XIV, 133 S.
3) P. Tesdorpf, Beiträge zur Würdigung Charles Perraults und seiner Märchen.
Stuttgart, Kohlhammer 1910. 86 S. 2 Mk.
4) Alice Sperber, Charakteristik der Lothringer Märchensammlung von E. Cosquin.
B< raer Diss. Wien 1908. X, 98 S.
Berichte und Büclieranzeigen. IST
Geistliche und Gutsherrn, auf die Bestrafung des Hochmuts hin ausführlich durch-
genommen und bisweilen auch die Entwicklung eines Stoffes nach diesen Gesichts-
punkten skizziert. Kürzer fällt die ästhetische Charakteristik aus, da die gerade
hierfür in Betracht kommenden Wundermärchen nicht gut erzählt sind, die Dar-
stellung überhaupt knapp gehalten und die formelhaften Wendungen nicht besonders
zahlreich sind. Für die Erforschung der Märchen der verschiedenen Volksstämme
Siebenbürgens entwirft Schullerus1) ein Programm: was haben die einzelnen
Stämme für nationales Sondergut mitgebracht, was haben sie gemeinsam von aussen
empfangen, was haben sie in Siebenbürgen selbst hervorgebracht? - Das Thema
der den Mörder ihres Gatten tötenden Frau verfolgt Anderson2) in einer Er-
zählung des Apuleius (Charite), Plutarch (Kamma), sowie in vier kaukasischen
Märchen, ohne sich für die gemeinsame Abstammung zu entscheiden; vom
Nibelungenliede unterscheiden sich jene Erzählungen dadurch, dass der Mord aus
leidenschaftlicher Liebe zu der Gattin des Erschlagenen geschieht.
Für die Geschichte der Schwankstoffe wird sich Lees3) Werk über
Boccaccios Decameron nützlich erweisen. Fleissig hat der Vf. die von andern
Gelehrten nachgewiesenen Bearbeitungen der darin enthaltenen Novellen zusammen-
getragen, ohne jedoch dabei Boccaccios Verhältnis zu seinen Quellen oder das
Verfahren der verschiedenen Nachahmer näher zu untersuchen. Einiges, wie
Goetzes Veröffentlichung von Hans Sachsens Schwänken, ist ihm entgangen. —
Für den Schwank von der neuen Sündflut und der Rache des Schmiedes an seinem
Nebenbuhler, zeigt Barnouw4) drei Entwicklungsstufen auf: 1. eine noch unedierte
nid. Boerde des 14. Jahrh. von Heile van Bersele, 2. V. Schumanns Nachtbüch-
lein 1559 Nr. 2, 3. Chaucers Milleres tale und eine lateinische Dichtung von
Cropacius (1581). Die Vorlagen aller drei Versionen sucht B. in verlorenen
französischen Fabliaux. — Zu den 1901 von Pillet verfolgten Bearbeitungen des
Fablels von den drei Buckligen trägt Galos5) vier ungarische Fassungen nach:
eine 1573 gedruckte Übersetzung der Historia septem sapientum, eine um 1820
von A. Madass verfasste Bearbeitung Gueulettes und zwei Volksmärchen. —
01iverr) mustert sorgfältig alle bekannten Versionen der beiden in der fran-
zösischen Farce vom Maitre Pathelin vereinigten Schwanke und fügt auch weitere
dänische, jüdische und indische Erzählungen von dem Beklagten hinzu, der vor
Gericht nur ein Blöken, einen Pfiff oder eine Ableugnung hören lässt und nach
seiner Freisprechung auch den Bezahlung heischenden Advokaten ebenso äfft.
Vgl. dazu noch oben 16, 34 1. — Eine öfter erzählte Anekdote von König Friedrich
Wilhelm I., der eine lange Dienstmagd mit einem langen Grenadier kopulieren
1) A. Schullerus, Siebenbürger Märchen; zur Methodik der Märchenforschung
(Mitt. des Verb, dtsch. V. f. Volkskunde Nr. 10, 8-11).
2) W. Anderson, Zu Apuleius' Novelle vom Tode der Charite (Philologus 68, .">;;7
bis :>49.)
3) A. C. Lee, The Decameron, its sources and analogues. London, ü. Nutt L909.
XVI, 3G3 S. 8". — Völlig unzulänglich ist das Büchlein von Miss F. N. Jones, Boccaccio
and his imitators in german, english, french, spanish and italian literature. Chicago,
University press 1910. IV, IG S.
4) A. J. Barnouw, The milleres tale van Chaucer. 15 S. (aus Handelingcn van het 6.
nederlandsche Philologencongres 191'» .
•"») R. Gälos, Ungarische Varianten der Geschichte von den drei Buckligen und ver-
wandter Erzählungen (Zs. f. vergl. Literaturgeschichte 18, 103 — 114).
<j) Th. E. Oliver, Some analogues of Maistre Pierre Pathelin (Journal of american
folk-lore 22, 395—430). — L. Jordan, Zwei Beiträge zur Geschichte und Würdigung des
Schwankes vom Advokaten Pathelin (Archiv f. n. Sprachen 123, 342—352).
188 Holte:
lassen will und sie mit einem Brief zum Kommandanten von Potsdam schickt,
dann aber hören muss, dass an ihrer Stelle eine kleine alte Frau mit jenem
getraut worden ist, wird von Damköhler1) als unhistorisch erwiesen; denn die-
selbe Geschichte begegnet schon 1713 — 1714 in der Römischen Octavia des
Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig 5, 63.
Unter den Textsammlungen, denen wir uns nunmehr zuwenden, haben
wir auf deutschem Gebiete zunächst der neuen, nahezu unveränderten Auflage von
Dähnhardts2) Märchenbuch zu gedenken, das durch eine Auslese aus Haltrich,
Kuhn, Müllenhofr, Pröhle, Simrock, Zingerle u. a. die Grimmsche Sammlung vor-
trefflich ergänzt. Eine willkommene Überraschung für viele Leser werden die
aus dem Nachlasse des Dichters und Malers Wilhelm Busch3) herausgegebenen
Märchen. Sagen und Lieder aus seinem Heimatsdorfe Wiedensahl im Hannoverschen
bilden. Hier erhalten wir wertvolle, echte Volksüberlieferungen, teils in der
Mundart, teils in hochdeutscher Fassung, die vor etwa 60 Jahren aufgezeichnet
wurden, aber erst 190O in einzelnen Proben im Niederdeutschen Korrespondenz-
blatt zur Veröffentlichung gelangten. Auf die Lieder soll später eingegangen
werden; hier notiere ich von den 41 Märchen: Nr. 1 De Häister un de willen
Duben (Wossidlo, Mecklenburg. Volksüberlieferungen 2, 47); 2 Die schwarze
Prinzessin (R. Köhler, Kl. Schriften 1, 320); 6 Das harte Gelübde (Wossidlo
1, 222) ; 7 Die böse Stiefmutter (Grimm, KHM. nr. 24); 9 Königin Isabelle (Grimm 94):
10 Die bestrafte Hexe (Grimm 11. 135); 12 Kükeweih (Grimm 27); 14 Bauer
Pihwitt (Grimm 61); 15 Muschetier, Grenadier und Pumpedier (Köhler 1, 543);
16 Der dumme Hans (Grimm 143. Frey, Gartengesellschaft Nr. 1); 17 Der kluge
Bauer (Grimm 7); 18 Des Totengräbers Sohn (oben 20, 273 — 278): 19 Rettungs-
rätsel (Wossidlo 1, 216); 20 Die launische Ziege (Grimm 36); 22 Der Königssohn
mit der goldenen Kette (Köhler 1, 5 — 39); 23 Der Königssohn Johannes (Köhler
1, 161. 279); 24 Das verwünschte Schloss (Grimm 93); 25 Drei Königskinder
(Grimm 96); 26 Der kluge Knecht (H. Sachs, Fabeln und Schwanke 5, 181 nr. 717);
27 Die alte Slüksche (Boccaccio, Decameron 7, 8. v. d. Hagen, Gesamtabenteuer
nr. 43); 28 Die zwei Brüder (Grimm 60); 29 Der Schmied und der Pfaffe (Grimm
64. U. Jahn, Vm. aus Pommern 1, 239); 30 De Rabe un de Pogge (Wossidlo
2, 57); 31 Der harte Winter (Euphorion 4, 29); 32 Der Soldat und das Feuer-
zeug (Grimm 116): 33 Der Bettler aus dem Paradies (Frey nr. 61); 34 Der ver-
wunschene Prinz (Grimm 1): 35 Das Hemd des Zufriedenen (R. Köhler, Aufsätze
1894 S. 118); 36 Der Herrgott als Pate (Köhler 1, 537); 37 Aschenpüeling (Grimm 21);
3S Friedrich Goldhaar (Köhler 1, 330. 388); 39 Der Schweinejunge und die
Prinzessin (Köhler 1, 428. 464); 40 Der Mordgraf (Grimm 40); 41 Hans Hinrich
Hildebrand und der Pfaffe (Grimm 95). Auch einige Zeichnungen Buschs. die
Märchenstoffe zum Gegenstande haben, werden reproduziert. — In einer Gedenk-
schrift zur 100. Wiederkehr von Reuters Geburtstag geht Wossidlo4) dem sich in
Redensarten und Schwänken äussernden mecklenburgischen Volkshumor nach; er
steigt zu den Quellen hinab, aus denen der grosse niederdeutsche Humorist
1) E. Damköhler, Anekdotenübertragung (Zs. f. d. dtsch. Unterricht 22, 595—599).
2) 0. Dähnhardt, Deutsches Märchenbuch, 1. Bändchen. 2. Auflage. Leipzig,
Teubner 1910. V, L53 S. — Zuerst L903 erschienen.
3) W. Busch, Ut üler Welt. Volksmärchen, Sagen, Volkslieder und Reime, ge-
sammelt. München, L. Joachim 1910. 170 S. 3,50 Mk.
I ß. Wossidlo, Aus dem Lande Fritz Reuters. Humor in Sprache und Volkstum
Mecklenburgs. Mit einer Einleitung über das Sammeln volkstümlicher Überlieferungen.
Leipzig, 0. Wigan.l 1910. IV. 211 S. L',K»Mk.
Berichte uud Bücheranzeigen. 1S1I
schöpfte, und die kein anderer so gut kennt als gerade Wossidlo. Zur Einleitung
dient die Schilderung, die er unsern Lesern oben 10, 1 von seiner eigenen Sammel-
tätigkeit entworfen hat und hier mit Kürzungen und Zusätzen wieder abdruckt:
dann folgen 12 Kapitel vom Tanzen, vom Jungenleben, von Schlägereien, Ernte-
arbeit, ländlichem Hofhalt, Schäfern und andern Gewerken, Tiermärchen, Redens-
arten beim Kartenspiel, Schildbürgerstreichen und andern Schwänken, alle ungemein
reichhaltig und voll echten Volksgutes. Nicht um dem kundigen Autor etwas
Neues zu bringen, sondern um die Schwankthemata zu charakterisieren, gebe ich
einige Nachweise: S. 90 Die drei Muhmen (Grimm, KHM 14), 91 Das Fieber in
der Jagdtasche (oben 15, 105), 92 Die faule Bauerntochter (oben 18. 53), 93 Der
schlaue Bauer (Simrock, Märchen S. 248), 94 Verkauf der Kuh (R. Köhler 1, 99),
96 Der Tod als Huhn (Montanus S. 57!»), 97 Peter Ott (Frey S. 284), 98 Die
lispelnden Schwestern (oben 3, 58. 7, 320. Böhm, Lett. Schwanke nr. 12), 9!» Die
Scharfsichtige (Busch S. 12). 101 Wahrheit findet keine Herberge (Pauli, Schimpf
und Ernst 3), 1<>4 Der Advokat (Montanus S. 609), 134 Der Schäfer (oben 7, 97),
136 Das Aufgebot (oben 1(5, 292), 139 Der Schneider in Ängsten (H. Sachs,
Fabeln 2, 472. 5, 74), 141 Wie die Schmiede das Schweissen lernten (oben 16,
28<s), 144 Der Bauer in der Apotheke (Bl. f. pomm. Volksk. 7, 40), 145 Das Gelübde
des Schiffers (Wickrain, Werke 3, 361), 154 Warum die Schweine in der Erde
wühlen (oben 17. 133), 156 Fuchs und Eichhörnchen (Grimm 75), 157 Fuchs und
Holztaube (Kirchhof, Wendunmut 3, 128), Fuchs und Wolf (Grimm 2), 161 Mäuschen
und Mettwürstchen (oben 15, 344), 191 Der Zornbraten (R. Köhler 3, 43. Bl. f.
pomm. Vk. 6, 6. 8, 101). 198 Vom Bauernjungen, der studieren soll (Montanus
S. 594), 200 Adam und Eva (Köhler 3, 13), 203 Der Geldfund (zur Schule gehen:
oben 18. 457. 19, 94. Speckregen: Köhler 1, 342), 206 Lügenmärchen (Köhler
1, 322), 207 Döshans (Montanus S. (i02), 208 Peterleewing (Montanus S. 591). —
In Holstein ist Wisser1) seit 1894 eifrig beschäftigt, den im Landvolke lebenden
Märchenschatz, der in Müllenhoffs berühmter Sagensammlung (1845) und seinen
hinterlassenen hsl. Materialien bei weitem nicht ausgeschöpft wurde, zu bergen
und hat ausser den drei Bändchen 'Wat Grotmoder verteilt' viele einzelne Nummern
in Zeitschriften veröffentlicht. Jetzt erstattet er Bericht über seine Erzähler und
Erzählerinnen, unter denen sich einzelne auch freie Erfindungen erlaubten, und
über deren Vortragsweise (Exposition im Perfekt. Erzählung im Präsens), sowie
über die Retouchen, die er selber an einzelnen Stücken vor der Publikation vor-
genommen hat. In der von ihm geplanten wissenschaftlichen Ausgabe sollen je
1 bis 2 unter den 10 bis 20 Fassungen eines Märchens wörtlich treu wiedergegeben
werden und von den übrigen ein Auszug. — Wenig ist diesmal aus dem mittel-
und oberdeutschen Sprachgebiete zu berichten. Ausser einigen schlesischen Sagen
und Märchen von Drechsler2) und sächsischen Lügenerzählungen und Liedern
von Curt Müller'5) erschien eine populäre Zusammenstellung deutschböhmischer
1) W. Wisser, Die Entstehung meiner Märchensammlung (Eckart .">, 168 — 182). —
De twee Bröder (Niedersachsen 15, 28 — 32). — Hansel und Gretel (Die Heimat, Kiel 20,
112—115). — Meine Märchenwanderungen auf der Insel Fehmarn (Fehmarnsches Wochen-
blatt 1909, Nr. 131-133). - Der weisse Wolf (ebd. 1910, Nr. 66). — De witt Wulf. De
"1 Fritz un de Bessenbinner. Vun Gnideln un Fidein (Gemeinnütziger Kalender, Eutin
1911). — Wie das Volk erzählt (Quickborn I. 34—44. Hamburg 1911). — G. Fock,
Märchen von der Elbinsel Finkenwärdcr (Quickborn I. 11—47).
2) P. Drechsler, Märchen und Sagen aus Oberschlesicn (Mitt. der Schles. Ges. f.
Volkskunde 11, 94—98).
3) Curt Müller, Lügenmärchen aus sächsischem Volksmunde (Mitt. d. V. f. sächs.
Volkskunde 5, 121-127. 145-151. 189—193).
15)0 Boltc:
Überlieferungen von Parsche1) aus gedruckten Quellen wie Musäus, Grimm,
Grohmann, in die aber fast nur Rübezahlgeschichten und andere örtliche und
historische Sagen aufgenommen sind und eigentliche Märchen fehlen. Aus der
Schweiz ist F. Heinemanns vortreffliche Bibliographie der Sagen und Märchen
(oben 20, 331) und Niderbergers2) uns nicht zu Gesicht gekommene Unterwaldener
Sammlung anzuführen.
In Holland teilte Boekenoogen3) zum Doktor Allwissend und zur klugen
Else Aufzeichnungen aus Schwankbüchern des 17. Jahrhunderts und aus neuerer
Zeit sagenhafte Erzählungen mit. Aus Schweden erwähne ich eine kleine Sammlung
von Langer4), aus Wales zwei Bücher von Trevelyan und von Brusot5),
aus dem französischen Teile Belgiens mehrere Artikel der Wallonia6), darunter
eine von Leforgeur mitgeteilte Verbindung der dankbaren Tiere und der wunder-
baren Gefährten mit dem Märchen von dem als Diener verkleideten und von der
verliebten Königin verleumdeten Mädchen.
In Frankreich hat Sebillot7) seinen grossen Verdiensten um die Volks-
überlieferungen seiner bretonischen Heimat ein neues hinzugefügt, indem er uns
eine allerliebste Lese 'lustiger Geschichten', die dort umlaufen, vorlegt. Er sucht
damit auch die seit Chateaubriand verbreitete Vorstellung von der stets düstren
und finsteren Gemütsstimmung der Bretonen zu widerlegen. Die 97 Nummern
enthalten verbreitete Schildbürgerstreiche, die den Jaguens, d. h. den Einwohnern
von Saint-Jacut, nachgesagt werden, Schwanke, Tiermärchen, Fabliaux und komische
Predigten. Ich führe einige Beispiele davon an: S. 26 L'äne qui devient moine
(R. Köhler 1, 507), 50 L'epreuve (oben 19, 92: Sich tot stellen), 67 Le marchand
de cuilleres en bois (Bauer als Priester: Wolf, Hausmärchen S. 430. Pröhle, Feld-
garben 1859 S. 369. Jahn, Schwanke und Schnurren S. 67. Bl. f. porara. Volks-
kunde 4, 104. Schneller, M. aus Wälschtirol Nr. 60, 3. Revue des trad. pop.
23, 240. Archiv f. siebenbg. Landeskunde 33, 543. Kristensen, Fra Bindestue
1, 85. Berntsen, Folke-Aeventyr 1, 48), 73 Le pere Bernard (Köhler 1, ßö. 3, 104),
77 Les trois bossus (Frey, Gartengesellschaft 1897 S. 281 zu Schumann Nr. 19),
91 L'epi de ble (Cosquin Nr. 62), 105 Grand vent (Grimm Nr. 36), 112 Celui qui
vient du paradis, 117 Le soldat de Paris (Wickram, Werke 3, 391. 8, 315),
114 Doktor Allwissend (Grimm Nr. 98), 135 Poil fin, 138 Le meunier et son
1) J. Parsche, Märchen und Sagen aus Deutschböhmen, für Volk und Jugend aus-
gewählt. Prag, A. Haase [1909]. 131 S. 3 Kr.
2) F. Niderberger, Sagen, Märchen und Gebräuche aus Unterwaiden 1—2. Sarnen,
Selbstverlag 1909-1910. 172, VI. 173, VHS. (vgl. Schweizer. Archiv 14, 90. 312 .
3) G. J. Boekenoogen, Nederlandsche Sprookjes uit de 17. en het begin der
18. eeuw 10—11 (Volkskunde 21, 7 — 21). — Nederlandsche Sprookjes en Vertelsels 129
bis 134 (Volkskunde 21, 76-78. 221-22.")).
4) Th. L. Langer, Dalsländska folksägner samlade och utgifna. Uddevulla,
T. Malmgrcn 1908. 40 S. 1 Kr.
5) Marie Trevelyan, Folklore and l'olk-stories of Wales, with an introduction by
E. S. Hartland. London, Elliot Stock 1909. XIV, 350 S. (vgl. Folkdore 21, 117). —
M. Brusot, Keltische Volkserzählungen. Halle, O.Hendel [1909]. VI, 57 S. 0,25 Mk.
(ohne Quellenangaben).
(')) O. Colson, Pourquoi Fevricr n'a que 29 jours Pourquoi les hommes ont de la
barbe. Mariye et Janquet (Wallonia 18, 16— 21). — H. Leforgeur, La lille du roi de
France (ebd. 18,47 — 51). — A. Moitier, Pourquoi les charretiers vont tous en paradis etc.
(ebd. 18, 52 54). — J. Lemoine, Contes du Hainaut (ebd. 18, 76-78).
7) P. Sebillot, Les joyeuses histoires de Bretagne. Paris, E. Fasquelle 1910. VIII,
318 S. 3,50 Fr.
Berichte und Bücheranzeigen. ]<)1
seigneur (Köhler 1, 233), 142 Celui qui mourut au troisieme pet de l'äne
(Köhler 1, 486), 145 Jean et Jeanne (Köhler 1, 341), 148. 152. 108 L'innocent
(Frey Nr. 1), 154 Le sot seigneur et ses fils sots (Montanus, Schwankbücher
S. 628. Grimm Nr. 120), 174 Le seigneur Sans-souci (Grimm Nr. 152), 176 Le
berger qui devint roi (Köhler 1, 322), 195 La femme obstinee (Montanus S. 622),
199 Les quatre souhaits (Grimm Nr. 87), 205 Moitie de coq (oben 20, 100. Roche
p. 117. Böhm, Lettische Schwanke Nr. 52), 214 L'origine des puces (Dähnhardt,
Natursagen 2, 111), 216 La chevre et les sept gars (Grimm Nr. 36), 224 Les petits
biquets (Grimm Nr. 5), 227 Le coq et le renard (Montanus S. 596), 242 Les moines
et le bonhomme (oben 6, 171 zu Gonzenbach 82. Trubert ed. Ulrich 1904), 248 Le
testament de la chienne (Pauli Nr. 72), 259 Le recteur vole (Wickram 3, 369),
260 La chevre qui fait sonner les cloches (Köhler 1, 255), 263 La creation de la
femme (Dähnhardt 1, 115), 265 Le meunier en paradis (Grimm Nr. 82), 276 Le
gros cierge (Wickram 3, 361), 277 Le vieux saint (H. Sachs, Fabeln 1, 224. 2, 413.
3, 289), 291 La bonne femme qui pleure au sermon (Wickram 3, 380)- — Die
15 Erzählungen aus dem Limousin, die Roche1) in der Mundart und in Über-
setzung mitteilt, sind knapp, aber lebendig dargestellt und verschmelzen bisweilen
mehrere verschiedene Themen. S. 31 Quatorze (Grimm Nr. 90), 42 Jean de Tours
(Köhler 1, 543), 5S Le sorcier (Grimm Nr. 68), 66 Le metayer l'Espiegle (kein
Eulenspiegel, sondern das Bürle mit eingeschalteten Streichen des Meisterdiebs.
Grimm Nr. i>1 und 192), 83 Le petit joueur (Grimm 110 und 81 nebst dem Pervonto-
Märchen, Köhler 1, 558), 99 Le joueur (Grimm 82), 106 Le carnaval des quatre
petites betes (Grimm 27), 117 Le conte du coq (oben 20, 100), 135 Grosse-ßotte
et La Ramee (Grimm 16. G.Paris oben 13, 1), 150 Le gamin et les voleurs (oben
zu Sebillot p. 242), 157 Les enfants qui se rendaient ä Saint-Jacques (Hackman,
Polyphem 1904), 169 La faineante (Grimm 14). Beachtenswert sind mehrere
Schlussformeln, die sich den von Petsch 1900 gesammelten Beispielen gut ein-
reihen lassen. — Aus verschiedenen Gegenden von Frankreich stammen die in der
Revue des traditions populaires*) gedruckten Märchen; z. B. 24, 137 Le mouton
noir (Wickram 3, 378), 141 Mon Jean (Frey S. 215), 143 L'agneau Martin (Mon-
tanus S. 591), 345 Le petit sorcier gris (Grimm 192), 442 Comment Jean trouva
la peur (Grimm 4); 25, 466 La reconnaissance du diable (vgl. Hein-Müller, Mehri-
Texte S. 136. Boccaccio, Decameron 3, 9: Giletta von Narbonne). — Italienische
Stücke aus der Romagna gab Fabbri3): L'innamorato che getta gli occhi delle
pecore alla amante (Frey Nr. 1), Le tre montagne d'oro e l'albero del sole
(R. Köhler 1, 166), La fontana di Babilonia (ebd. 1, 562), I du' barocciai (ebd.
1, 281), II capo assassino (Grimm Nr. 46). — Griechische Rätsel aus Kythera und
sechs von Polites trefflich kommentierte Rätselmärchen verdanken wir Stathes*);
in Atolien und Epirus sammelten Lukopulos und Evangelides.
1) D. Roche, Contes limousins, recueillis dans l'arroudissement de Rochechouart,
texte patois et texte fran(,ais. Paris, Nouvelle librairie nationale [1909]. 179 ö. 2 Fr.
2) E. Quintin u. a., Contes et legendes de la Basse-Bretagne (Revue des trad. pop.
24, 70. 136. 290. 439-445. 487-489. 25, 185 f. 271-274. 372-375. 410-415). - Contes
et legendes de la Haute-Bretagne (24, 146. 202. 249. 372. 25, 422). — L. Desaivre, Le
mouton noir (24, 137). — F. Petigny, Contes de la Beauce et du Perche (24, 275—280).
— J. Filippi, Contes de Pile de Corse (25, 466-468)
3) P. Fabbri, Novelle popolari raecolte sui monti della Roir.agna Toscana (Archivio
delle trad. pop. 24, 153-161). - Favole (ebd. 21, 162-170).
4) S. E. Stathes, KvOrjoa'ixa alviy/iatixä rraoa/tv&ia. (Laographia 2, 360—370). —
N. G. Polites, IJariazi/orjoei; sig tu alviyftanxä TtaQa/iv&ta (ebd. 2, -!71 — 384). —
192 Bolte:
Über die Leistungen auf dem Gebiete der slawischen Märchenforschung
muss ich auf die Berichte der Herren Brückner und Polivka verweisen und führe
neben zwei eingehenden Inhaltsangaben Polivkas1) über eine neue grossrussische
und eine ruthenische Sammlung nur die willkommene Fortsetzung der Ver-
deutschung an, die Fräulein Anna Meyer2) 1906 (oben 16, 454) von der be-
rühmten grossen russischen Märchensammlung Afanassjews begonnen hat. Enthielt
der erste Band hauptsächlich Tiermärchen, so setzt der zweite uns 20 Wunder-
märchen vor, in denen die Volksphantasie aus fremdem Gut und eigenen Er-
findungen reizvolle Gebilde gestaltet hat. So beginnt das erste S. 1 'der Traum"
mit dem oben 20, 74 erwähnten Motiv des verschwiegenen Traumes, knüpft daran
die den streitenden Erben abgenommenen Zaubergaben und schliesst mit einer an
Grimms Nr. 133 gemahnenden Belauschung der nachts ausfliegenden Mädchen
und der Gewinnung der Rätselprinzess. S. 56 'der ZauberspiegeF ist eine von
Böklen (oben S. 185) übersehene Variante des Sneewittchen- Kreises. Zu S. 12
(Das Federchen vom hellen Falken Finist) vgl. Grimm 88 'Löweneckerchen'; zu
104 (Die Zarewna löst Rätsel) R. Köhler, Kl. Schriften 1, 218. 321; zu 108
(Schwesterchen und Brüderchen) Grimm 11; zu 114 (Die weisse Ente) Grimm 13:
zu 128 (Elend) R. Köhler, Aufsätze 1*94 S. 110; zu 136 (Wassili Zarewitsch und
Elena die Wunderschöne) die Wette um Frauentreue: R. Köhler, Kl. Sehr. 1, 581
und Romania 32, 481; zu 145 (Schemjaks Richtsprüche) Benfey, Pantschatantra
1, 398 und Chamissos Gedicht v. J. 1832 'Das Urteil des Schemjäka'; zu 149
(Der Töpfer) den von Wisser im Eutiner Kalender 1911 mitgeteilten holsteinischen
Schwank 'De ol Fritz un de Bessenbinner'; zu 158 (Die versprochenen Kinder)
R. Köhler 1, 197. 2, 602; zu 163 (Blendwerk) Köhler 2, 210 und Chauvin,
Bibliogr. arabe 7, 100; zu 171 (Der Geizhals) oben 20, 325. Leider fehlt jeder
Hinweis auf die Nummern des russischen Originals. — Eine sehr erfreuliche Gabe
sind die von Böhm3) aus dem grossen Sammelwerke von Lerchis-Puschkaitis ver-
deutschten lettischen Schwanke, 54 an der Zahl, deren Alter und Verbreitung uns
ausführliche yergleichende Anmerkungen darlegen. Gerade von lettischer Volks-
literatur ist, abgesehen von den in Dähnhardts Natursagen verwerteten Stücken,
in Westeuropa sehr wenig bekannt. Hier erscheint z. B. das mittelalterliche
Märchen vom Unibos (Nr. 19), das Fablel von Prinzess und Dümmling im Rede-
kampfe (Nr. 26), der oben zu Wossidlo S. 98 erwähnte Schwank von den drei
lispelnden Schwestern (Nr. 12) oder das zu Sebillot p. 205 zitierte Märchen vom
Halbhähnchen. Hoffentlich gelingt es dem Vf. bald, die im Vorworte verheissene
grössere Sammlung lettischer Märchen herauszugeben. Aus Ungarn haben wir
eine aus dem Volksmunde geschöpfte Märchensammlung von H orger (oben 20, 338)
und eine neue Folge der von Frau Rona-Sklarek ausgewählten und ver-
deutschten Märchen (oben 20, 432) zu verzeichnen, welche im Text und den aus-
führlichen Anmerkungen wissenschaftlichen Sinn und feinen Geschmack offenbart.
I). Lukopulos, Tgla .-rcwa/nrOta ahwXixa (ebd. 2, 385—398). — D. Evangelides,
Hjibiqodtixov .-T<i.n<inrihov (ebd. 2, 175 — -477).
1) G. Polivka, Oncukovs nordgrossrussische Märchen (Archiv f. slav. Phil. 31, 259
bis 286). — Hnatjuks ruthenisches ethnographisches Material ans Ungarn (ebd. 31,
594-603).
•2} A. N. Afanassjew, Russische Volksmärchen, neue Folge, deutsch von Anna
Meyer. Wien, R. Ludwig 1910. III, 174 S.
3) M. Böhm, Lettische Schwanke und verwandte Volksüberliei'erungen, aus dem
Lettischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen. Reval, F. Kluge 1911. XI, 12.") S. —
A. Dido, Contes estoniens 7 (Revue des trad. pop. 24, 236—241). — H. Bourgeois,
La legende de Suur-Töll. lc geant d'Oesel (ebd. 25, 154—172).
Berichte und Bücherauzeigen. 193
Asien. Interessante armenische Märchen teilten Fräulein C. Daniel (oben
20, 74—78. 323 — 326) und Wingate1), ein chaldäisches Märchen von dem Feen-
lande, wo man nicht stirbt (R. Köhler, Kl. Schriften 2, 406), und ein andres von
dem jüngsten Sohne, der drei Nächte an seines Vaters Grab wacht und endlich
Gatte einer Königstochter wird (R.Köhler 1,551), Macler2) mit. Unter mehreren
indischen, chinesischen und nordasiatischen Sammlungen hebe ich ausser den Er-
hebungen von Shakespear3) in dem zwischen Bengalen und Birma gelegenen
Lushai-Lande besonders Ramstedts kalmückische Märchen hervor. Diese 18 Stücke,
denen eine deutsche Übersetzung beigegeben ist, tragen zwar das Gepräge des
Nomadenlebens auf der weiten Steppe und mischen Züge der lamaistischen Religion
ein, enthalten jedoch fast lauter internationale Märchenthemen. Zu Nr. 1 (Narren-
streiche des Dümmlings) vgl. Frey, Gartengesellschaft Nr. 1; zu 3 (Dieb stiehlt
Ochsen durch Hinlegen von Schuhen) R. Köhler 1, 210; (stiehlt die Eier aus dem
Vogelneste und die Hosen des Diebs) Jean Bedels Fablel Barat et Haimet (Bedier,
Les fabliaux 1895 p. 448) und Lidzbarski, Geschichten aus neuaramäischen Hss.
1896 S. 241, auch Rhodokanakis, Dialekt im Dofär S. 21; zu 4 (Gefährten mit
wunderbaren Eigenschaften) Grimm 71; zu 6 (Vertrag zwischen Herr und Diener
wegen des Ärgers) R. Köhler 1, 262. 326; zu 9 (Gewinn bringender Tausch) Cos-
quin, Contes pop. de Lorraine 2, 205; zu 10 (Glücksvogel von zwei Brüdern ver-
zehrt, die drei Wunschdinge gewinnen) R. Köhler 1, 409; zu 11 (der jüngste
Bruder verfolgt das Ungeheuer, befreit drei Mädchen; treulose Brüder) R. Köhler
1, 292. 543; zu 13 (Doktor Allwissend) ebd. 1, 39 und (Ritt gegen das feindliche
Heer) ebd. 1, 510; zu 14 (Däumling) Grimm 37 und 45; zu 15 (der dankbare Tote
mit Zügen aus dem Buche Tobit: Hund und Galle der Katze) R.Köhler 1,5; der
Schluss ähnlich dem treuen Johannes (Grimm 6), doch folgt der Held seinem Er-
retter in die Unterwelt und holt ihn ins Leben zurück. Zu 16 (zwei Brüder und
treulose Schwester) vgl. R. Köhler 1, 304; zu 17 (Züge aus der verbrannten Haut
des Tierbräutigams und aus den belauerten Schwanenjungfrauen) ebd. 1, 315 und
444. — Arabische Erzählungen aus der älteren Literatur führt uns Basset4) zu,
darunter (Revue 24, 192) Abulfedas Version der Rügenglocke (Oesterley zu Gesta
1) J. S. Wingate, Armenian folk-tales 1—3 (Folk-lore 21, 21 7 -±22. 365— ."»77).
2) F. Macler, Contes chaldeens 3—4 (Revue des trad. pop. 24, 24-32. 25,20—31).
3) D. Bodding & C. H. Bompas, Folk-tales and legends of the Santal Parganas.
London, D. Nütt 1909. 483 S. 12/6. (vgl. Folk-lore 21, 124). — J. Shakespear, Folk-
tales of the Lushais and their neighbours (Folk-lore 20, 388— 420). — Y. T. Woo, Chinese
inerry tales, translated into english. Shangai, Presbyterian mission press 1909. IV, 58 S. —
Mary Hayes Davis & Chow-Leung, Chinese fables and folk stories. New York,
American book co. 1909. 214 S. (vgl. Folk-lore 20, 517). — G. J. Ramstedt, Kalmückische
Sprachproben gesammelt und hsg. 1. Teil: Kalmückische Märchen 1 (Memoires de la soc.
üuno-ongrienne 27, 1—154). — .1. Nippgen, Contes mogols (Revue des trad. pop. 24,93.
181. 341. 458). — Contes kalmouks (nach Ramstedt. ebd. 25, 324f.). Contes des Ten'a
(nach Jesse. Ebd. 25, 88-100. 174-184. 219—227. 2S0f.).
4) R. Basset, Contes et legendes arabes 749— 7S3 (Revue des trad. pop. 24, 1 — 20.
loT-115. 189-200. 257-261. 353-359. 25, 209-215. 458;. — R. Gragger, Eine ara-
bische Gestalt der Bürgschaftssage (Zs. 1*. vgl. Literaturgesch. 18, 123 — 126j. — N. Rho-
dokanakis, Der vulgärarabische Dialekt im Dofär (Zfär) 1: Prosaische und poetische
Texte, Übersetzung und Indices. Wien, A. Holder 1908. X, 144 S. fol. (Südarabische
Expedition Bd. 8). — W. Hein, Mehri- und Hadrami-Texte gesammelt im Jahre 1902 in
Gischin, bearbeitet und hsg. von D.H. .Müller. Wien, Holder 1909. XXVIII, 200 S. fol.
(Südarabische Expedition Bd. 9).
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1911. Heft 2. l:;
L94 Bolt,-:
Romanoram 105. Lidzbarski 1896 S. 153); eine aus einem neueren türkischen
Buche stammende Abwandlung der 'Bürgschaft' (Gesta Rom. 108. Lidzbarski
S. 163) in mohammedanische Weltanschauung gibt Gragger; sie findet sich aber
bereits in der 1001 Nacht (Chauvin, Bibliogr. arabe 5, 216 Nr. 125). Von dem
gross angelegten Bericht über die von der Wiener Akademie der Wissenschaften
unternommene südarabische Expedition, dessen wir schon mehrfach (oben 16,458.
17, 339) rühmend zu gedenken hatten, sind zwei weitere Bände erschienen, die
ausser den sprachlichen Ergebnissen auch der Märchenforschung Gewinn bringen.
Rhodokanakis hat 1904 aus dem Munde eines in Wien weilenden Beduinen
Mhammed eine grosse Zahl von Liedern und 17 Prosaerzählungen in der Mundart
von Dofär am persischen Meerbusen aufgezeichnet, die er nebst einer Verdeutschung
und erläuternden Anmerkungen veröffentlicht. Einige der Erzählungen schildern
Kämpfe und Abenteuer, andere tragen märchenhaften Charakter. So enthält S. 1
(Die Stiefmutter) die oben 16, 340 zu S. 52 nachgewiesenen Elemente des Brüder-
märchens, des Fortunat-Romans und den bei Benjamin versteckten Becher; ebenso
Hein-Müller, Mehri-Texte S. 91. S. 5 (bü Zed) die Befreiung einer der Schlange
geopferten Jungfrau. S. 21 (Die drei diebischen Brüder) die Streiche des Eier-
diebes (oben zu Ramstedt Nr. 3), des Eseldiebes (R. Köhler 1, 507) und des
Räubers von Rhampsinits Schatz (Köhler 1, 208 f.). S. 26 (Der fliegende Kasten)
die Entführung einer Prinzessin mit Hilfe eines treuen Gefährten und eines
fliegenden Kollers (Chauvin, Bibliogr. arabe 5, 232); zur Erprobung des Gefährten
vgl. Hein-Müller, Mehri-Texte S. 50. S. 34 (El mimrit) ein Gottesurteil mit heissem
Eisen (Grimm, Rechtsaltertümer3 S. 913). S. 36 (Die Tochter des Sonnenaufgangs)
die Trennung eines fliehenden Liebespaares und ihres Kindes durch einen Wunder-
vogel, doch anders als im Mageionenroman und in der Placiduslegende (Warbeck,
Magelone ed. Bolte 1894 S. XVI1. Basset, Contes herberes 2, 244). S. 42 (Be-
nuwäs) erscheint der listige Abu Nuwäs bald als Fuchs, der die Hyäne um ihr
Mahl betrügt und sich von ihr tragen lässt (wie in den Tiermärchen bei Krohn,
Bär und Fuchs 1889 S. 75 und 55), den Leuten einen Silberschmuck tragenden
Baum und eine Tote erweckende Katze verkauft (vgl. Unibos bei R. Köhler 1, 233),
die Aufgabe, nicht geritten, nicht gegangen zu kommen, löst (Köhler 1, 447), und
andre, auch dem Nasreddin Chodja zugeschriebene Streiche. S. 48 (Sibeyr) die
zweideutige Frage der vom Knecht getäuschten Mädchen (Köhler 1, 150f. 291.
Chauvin 6, 180. F. Hahn, Kols 1906 S. 21). S. 56 (Des Knaben List) der hab-
gierige Käufer wird durch die Forderung einer Dose Schnakenfett überwunden
wie in 1001 Nacht durch die Forderung eines Scheffels Flöhe. — Der andere
Band enthält die 1902 von dem seither verstorbenen Wiener Orientalisten und
Ethnologen Hein, einem geschätzten Mitarbeiter unserer Zeitschrift, in Gischin an
der südarabischen Küste aufgezeichneten Materialien zur vulgärarabischen Dialekt-
kunde und Volksliteratur, Erzählungen, Lieder, Rätsel, Sprüche und Spiele, die
sein Lehrer Prof. D. H. Müller mit aller Sorgfalt bearbeitet hat. Auch hier kann
nur auf einige der 58 Erzählungen hingewiesen werden, die nicht immer gute und
vollständige Fassungen enthalten. S. 3 (Abu Nuwäs Hirsekorn) ist das oben 16,
339 und 21, 193 zu Ramstedt Nr. 9 erwähnte gewinnbringende Tauschgeschäft.
S. 10 Der Fuchs betrügt die Hyäne und entrinnt ihrer Gefangenschaft. S. 15 (Die
sieben Brüder) und 139 (Die Milch der Wildziege) Brandmarkung der hoch-
mütigen Schwäger wie oben 6. 164 und Wetzel, Söhne Giaffers 1895 S. 215; vgl.
Frobenius, Dekameron S. 76. S. 19 (Hirtin und Werwolf). S. 20 (Der Töchter-
ieind) oben 16, 459 und 17, 340 zu Müller 2, 57 und 3, 102. S. 31 (Der Kern
im Schlünde) und 138 (Der Knochen im Schlund) ein Häufungsmärchen, s. R. Köhler
Berichte und Bücheranzeigen. 15)5
3, 355. S. 32 (Zwei Diebe) und 58 (Die beiden Diebe) ist Rhampsinits Schatzhaus
(oben zu Rhodokanakis S. 21). S. 37 (Die drei Töchter) die verleumdete und
vom Vater zur Tötung bestimmte Jungfrau und der von den neidischen Schwestern
verwundete Gatte. S. 43 (Die Tochter der Abessynierin) gehört ebenfalls zum
Kreise der verfolgten Frau; das von der Stiefmutter verstossene Mädchen wird im
Walde von einem Prinzen gefunden und geheiratet; später verleumdet ein ab-
gewiesener Buhler sie und tötet ihre drei Kinder. S. 54 und 111 (Die drei
Schwäger) ist das Märchen von den Tierschwägern, s. R. Köhler 1, 418. 551.
5. »iü (Die Töchterfeindin) zwei Mädchen entrinnen einer Menschenfresserin. S. 62
(Die drei "Wunderdinge) entspricht Grimms Nr. 3G 'Tischchendeckdich'; vgl. Aarnes
oben S. 1*4 angeführte Monographie. S. 80 (Die Wildziege) gehört zu den oben
6, 170 erwähnten Erzählungen von den drei Lehren, deren vornehmste lautet:
Vertraue keiner Frau ein Geheimnis an! und nähert sich den Proben der Frauen-
verschwiegenheit in den Gesta Romanorum 124, Cosquin Nr. 77 u. a. S. 84 (Der
schlaue Kadi) vgl. Wickram, Werke 3, 386 Nr. 79 'Von einem Pfaffen, der Köpf
könnt machen'. S. 91 (Die zwei Waisen) s. oben zu Rhodokanakis S. 1. S. 9t)
(Die zwei Kinder) stimmt zu Grimm Nr. 1 1 'Brüderchen und Schwesterchen'.
S. 116 (Die Portia von Gischin) ist die oben 17, 339 zu Müller 3, 23. 73 be-
sprochene Geschichte vom Fleischpfande S. 126 (Mahaynni und Leylenot) schliesst
mit den aus den Gräbern der Liebenden aufwachsenden Bäumen. S. 131 (Der
närrische Mann) enthält die rätselhaften Antworten bei R. Köhler 1, 197. 2, 601
und Basset, Contes herberes 2, 147. 350. S. 133 (Der Spiegel und der Spinn-
rocken) vgl. Wetzel, Söhne Giaffers S. 203 über Zauberspiegel. S. 136 (Das Siegel
und der Männergürtel) erinnert auffällig an das oben S. 191 angeführte korsische
Märchen in der Revue des trad. pop. 25, 466.
Afrika1). In Algier sammelte Desparmet 26 recht ausführlich erzählte
Kindermärchen, die sämtlich von den Ghuls handeln. Dies sind menschenfressende
Dämonen, die ein grosses Reich mit eigener Verfassung bilden, sich in Tiere,
Pflanzen, Winde verwandeln, doch auch menschliche Gestalt annehmen können
und dann nur nachts gleich den Werwölfen und Vampyren ihrer schauerlichen
1) J. Desparmet, Contes populaires sur les ogres, recueillis ä Blida, tome 1. Paris,
Leroux 1V)09. 449 S. (Collection de contes et chansons populaires 35). — R. Basset, Le
reve du tresor sur le pont, version kabyle (Revue des trad. pop. 25, 86—88). — Y. Artin
Pacha, Contes populaires du Soudan egyptien, recueillies en 1908 sur le Nil blanc et le
Nil bleu. Paris, Leroux 1909. 57 S. (Collection de contes 34). — L. Frobenius, Der
schwarze Dekameron, Belege und Aktenstücke über Liebe, Witz und Heldentum in Inner-
afrika gesammelt. Mit Zeichnungen von F. Nansen und photographischen Aufnahmen.
Berlin-Ch., Vita [1910]. 389 S. 8 Mk. — E. Dayrell, Folk stories from Southern Nigeria,
West Africa, with au introduction by A. Lang. London, Longmans, Green & co. 1910.
XVI, 15«.) S. 4/6. — A. J. N. Tremearne, Fifty Hausa folk-tales 1—18 (Folklore 21,
199—215. 351—365). — H. G. Harris, Hausa stories and riddles. Weston-super-Mare,
Mendip 1908. XV, 111, 33 S. (vgl. Folk4ore 20, :)74f.). - A. Joseph, Contes de la
Cote-d'ivoire (Revue des trad. pop. 25, 3141'. 4391'.). — K. Weule, Negerleben in Ost-
afrika. Leipzig, Brockhaus 1908. XII, 524 S. geb. 10 Mk. — G. Lademann, Tierfabeln
und andere Erzählungen in Suaheli, übersetzt von L. Kausch und A. Reuss. Berlin,
G. Reimer 1910. 120 S. 2,25 .Alk. (Archiv f. d. Studium deutscher Kolonialsprachen 12). —
A. Werner, The Bantu dement in Swahili folk-lore (Folk-lore 20, 432- 156). —
E. Jacottet, The treasury of Ba-suto lorc, being original Se-suto texts, with a literal
english Translation and notes, vol. 1. London, Kegan, Paul, Trench, Trubner & co. 1908.
XXVIII, 287 S.
13*
1«),, Bolte:
Neigung nachgehen. Sie zu Tertiigen, gibt es nur ein Radikalmittel, das Ver-
brennen; wer von ihrem Blute bespritzt wird, verwandelt sich selber in einen
Ghul. Wenn die Ghuls öfter als Neger geschildert werden, so hat wohl die
Kunde von Menschenfressern in Innerafrika mitgewirkt. Hilfe gegen jene Feinde
gewähren den Menschen die guten Genien (Djan), die öfter ihre Töchter mit
diesen vermählen. In den Märchen sind viele bekannte Züge eingewebt, so das
ausserhalb des Leibes aufbewahrte Leben, die Liebe durch Traum, die Brüder
mit wunderbaren Eigenschaften, der an Stelle der Entflohenen antwortende Speichel,
die Sicherung des Helden durch Saugen an der Brust der Dämonin u. a.; aber
auch die Hauptthemen entsprechen häufig verbreiteten Erzählungen: S. 1'27 (L'enfant
allaite par une Ghoule) entspricht unserer Frau Holle (Grimm 24. Cosquin 2, 120).
S. 140 (Bent Essaq et son frere) die treulose Schwester des Drachentöters mit den
drei Hundeu (R. Köhler, Kl. Schriften 1, 303). S. 183 (La caverne des Ghouls)
Ali Baba und die vierzig Räuber (Chauvin 5, 79. Grimm 142). S. 343 (La femme
qui se sauva de chez un Ghoul) stimmt im Eingange zu Grimm 12 'Rapunzel"
und in der Fortsetzung zu Grimm 3 'Marienkind'; der Raub der neugeborenen
Kinder und die Verdächtigung der Frau als Menschenfresserin begegnet auch p. 233.
S. 397 (Le Ghoul du puits) die nächtliche Wache am Baum, der verfolgte Unhold
und die aus dem Brunnen befreiten Jungfrauen (R. Köhler 1, 292. 543). S. 407
(Le Ghoul blesse en maraude) die Aufgabe, das Flohfell zu erraten (R. Köhler
1, 389) und die Räuberbraut (Grimm 40. 46). — Eine kabylische Erzählung vom
Traum vom Schatz auf der Brücke veröffentlicht Basset mit Hinweis auf unsere
Zeitschrift 19, 289. — Neunzehn kurze Märchen verschiedener Völkerschaften am
oberen Nil gibt Artin Pascha heraus, dem wir schon eine 1895 erschienene
ägyptische Lese verdanken. Erwähnung verdient Nr. 4 (Le renard et le corbeau)
der Friede unter den Tieren (Kirchhof, Wendunmut 3, 128), Nr. 7 (Le marchand
et les singes) der Schwank, wie ein von den Affen bestohlener Kaufmann diese
die Mützen aufsetzen und dann wegwerfen lehrt, Nr. 14 (Le feu) und 15 (Ne bats
pas ton chien) die Entdeckung des Feuers, Nr. 18 (Inegalite dans la vie) die Ent-
stehung der schwarzen und der weissen Rasse. Weitere Kreise sucht der
Afrikaforscher Frobenius für die Volksliteratur der Neger zu interessieren, deren
Wert er durch den Titel 'Dekameron' und die selbstbewusste Widmung an Meister
Boccaccio (Drehen Sie sich, bitte, im Grabe ein wenig um und blättern Sie in
diesem Büchlein! Ich hoffe, Sie werden nicht zu enttäuscht sein) anzudeuten
strebt. Am eigenartigsten wirken die im ersten Teile 'Von Rittertum und Minne1
vereinigten Heldenlieder, die zu einer primitiven Gitarre gesungen, ein vom mittel-
alterlichen Europa oder späteren Serbien nicht allzusehr abweichendes Bild ent-
rollen: kleine Adelssitze, deren unabhängige Herren gern auf Abenteuer ausziehen,
oft nur von einem Knappen und einem Sänger geleitet, männlicher Tatendurst
und rasches Minnewerben, die rohe Kraft durch Ehrgefühl beherrscht. Näher
schildert diese entschwundene Heroenzeit Frobenius in Petermanns Geogr. Mit-
teilungen, 166. Ergänzungsheft. Die beiden andern Teile sind betitelt 'Reineke
und Cie im Busch' und 'Charaktertypen', d. h., nüchterner ausgedrückt. Tiermärchen
und arabische Novellen. Offenbar gibt F. keine wörtliche Übersetzung, sondern
eine Nacherzählung der von ihm selber in Innerafrika gesammelten Stücke, wie
w auch sein Buch als eine Erholung von gelehrter Arbeit bezeichnet. Trotzdem
wird auch die vergleichende Märchenforschung dankbar das reiche hier dargebotene
Material in Empfang nehmen, zumal der Vf. mit seinen bekannten mythologischen.
Ansichten zurückhält. An Einzelheiten notiere ich S. 76 (Der Rassenreine) Be-
schämung der hoffärtigen Schwäger, oben zu Hein-Müller. Mehri S. 15. — S. 154
Berichte und Bücheranzeigen. 107
(Die kluge Hatumata) Zeichenbotschaft, vgl. oben 18, 69 *•; der Mörder bestellt
die ihn verratende rätselhafte Botschaft, oben 6, 59 zu Gonzenbach 1. — S. 181
und 198 (Kuh angeblich bis auf den Schwanz in den Sumpf versunken) R. Köhler,
Kl. Schriften 1, 150. 327 f. — S. 188. 208. 287 (Der Hund verspottet den Schakal,
er habe eine Wurzel statt seines Pusses gepackt) Krohn, Bär und Fuchs 1895
S. 62. — S. 19;; (drei Wahrheiten sagen) R. Köhler 1, 554. S. 2(52 (Tischlein
deck dich) Grimm Nr. 36 und Hein-Müller, Mehri S. 62. — S. 310 (Der Lügen-
künstler) R. Köhler 1, 230. — S. 331 (Ein Bastard) Wetzel, Söhne Giaffers 1896
S. 198. S. 342 (Der Listige) R, Köhler 1, 65. 190. 3, 164. S. 364 (drei
Haare erraten) Monteil, Contes soudanais 1905 p. 148. S. 368 (Liebesprobe)
Unland, Der Wirtin Töchterlein. — S. 380 (Hurenrache) Frey, Gartengesellschaft
S. 286 zu V. Schumann Nr. 47. — Auch die 40 Erzählungen, die Dayrell im
britischen Nigeria bei Calabar aufgenommen hat, sind frei wiedergegeben und
schliessen öfter mit einer humoristischen Nutzanwendung, die eher europäisch als
afrikanisch klingt, enthalten aber manche wertvolle Aufschlüsse über Anschauungen
und Gebräuche. Fast die Hälfte davon sind naturdeutende Tiermärchen. Auf Be-
rührungen mit europäischen Märchen haben Andrew Lang in seinem Vorworte
und A. R. Wright (Folk-Iore 21, 260) bereits hingewiesen; doch möchte ich
gleichfalls einige Parallelen anführen: Nr. 3 (The woman with two skins) vgl.
R. Köhler 1, 319 und Maynadier, The wife of Bath's tale 1901. Nr. 4 (The
king's magic drum) scheint aus dem Tischleindeckdich entstellt; s. Probenius
S, 262. Nr. 6 (The pretty stranger) Judith und Holofernes. Nr. 8 (The disobedient
daughter who married a skull) und 28 (The king and the juju tree) vergleicht sich
der zu Despar met 1, 407 zitierten Räuberbraut; nur ist der Bräutigam ein Schädel,
der sich von seinen Freunden im Geisterlande die übrigen Gliedmassen geborgt
hat; dem Mädchen gelingt es, aus dem Lande der Toten zu entrinnen. Nr. 22
(The hippopotamus and the tortoise) das Erraten des Namens, doch unter andern
Umständen als oben 6, 172 (zu Gonzenbach 84). Nr. 24 (The fat woman who
melted away) die Wiederbelebung der allein übrig gebliebenen Zehe erinnert an
R. Köhler 1, 275 und Montanus, Schwankbücher S. 591 f. Nr. 28 (The slave girl
who tried to kill her mistress) entspricht Grimm 11, nur dass anstatt des in ein
Reh verwandelten Brüderchens eine misshandelte kleine Schwester der Heldin
tritt. In Ostafrika hat Lademann hundert kurze Erzählungen in Suaheli ge-
sammelt und ediert, denen zugleich eine deutsche Übertragung beigegeben ist.
Neben einigen Tiermärchen, in denen der schlaue Hase eine besondere Rolle
spielt, finden wir manche bekannten, im Orient wie in Europa umlaufenden
Schwanke, bisweilen allerdings in entstellter Form: Nr. 5 (Seliman bin Daud) ist
das Märchen von der Tiersprache; R. Köhler, Kl. Schriften 2, 610. — Nr. 12 (Die
Fliege holt das Feuer) Dähnhardt, Natursagen 3, 106. — Nr. 19 (Kibwana und
die sieben Diebe). Der Dumme wirft sein Schaf weg, weil andre es Ratte nennen;
vgl. Benfey, Pantschatantra 1, 355 und Oesterley zu Pauli, Schimpf und Ernst
c. 632. — Nr. 23 (Der Dumme und der Schlaue) ist Ser Giovannis Novelle vom
Unterricht in der Liebeskunst; s. H. Sachs, Fabeln ed. Goetze-Drescher 3, 291
nr. 142. - Nr. 30 (Die Bettlerin und ihr Sohn) drei Wunschdinge den streitenden
Erben abgenommen; R. Köhler 1, 312. Nr. 31 (Der Löwe und die Schlange)
und 50 (Der Fallensteller) Schlange lösen; oben 6, 166 und R. Köhler 1, 581. -
Nr. 34 (Sultan Mnganya) die Aufgabe, Leopard, Ziege und Blätter über einen
Fluss zu bringen; oben 13, 95. 311. — Nr. 35 (Der Sohn der Ehebrecherin stellt
sich blind) oben 10, 74. Montanus, Schwankbücher S. 611. Nr. liö (Fragen
aufgetragen) R. Köhler 1, 46f>. — Nr 69 (Dank der aus der Grube gezogenen
jii,s Bolte, Brückner:
Tiere und des Menschen) Benfey 1, 192. Oesterley zu Gesta Romanorum c. 119. —
Nr. 71 (Der dankbare Tote) R. Köhler 1, 5. — Miss Werner mustert die Abenteuer
des Hasen, die in den Suaheli-Erzählungen hauptsächlich das afrikanische Element
repräsentieren, doch auch durch die arabischen Schwanke von Abu Nuwasi
beeinflusst worden sind.
Auf die neuerdings in Amerika1) und Australien2) aufgezeichneten Märchen
der Eingeborenen einzugehen, würde uns hier, wo wir nur die in Europa ver-
breiteten Stoffe verfolgen wollen, zu weit führen.
Berlin, Johannes Holte.
Neuere Arbeiten zur slawischen Volkskunde.
I. Böhmisch und Polnisch.
Wir stellen diesmal das Böhmische voran, denn gegenüber der Reichhaltigkeit
und Fülle seiner volkskundlichen Literatur tritt die polnische erheblich zurück.
Unter den Böhmen selbst geht, wie bisher immer, der unermüdliche Cenek Zibrt
voran, stets Neues sinnend, um seinem geliebten Gebiete Verständnis und Interesse
in den weitesten Kreisen zu sichern. Diesmal schlug er einen originellen Weg
ein; unter dem Gesamttitel 'Vesele chvile v zivote lidu ceskeho' (Kurzweil im
böhmischen Volksleben), gab er in sieben reich illustrierten Heften eine Art
böhmischen Festkalenders heraus; des ersten Heftes war schon im vorigen Bericht
(oben 20, 219) gedacht, das Bilder von den einstigen Spinnabenden brachte; das
zweite 'Masopust drzime' (Wir halten Fastnacht), 146 S., behandelt die Zeit von
Neujahr bis zum Donnerstag nach Fastnacht, wo die letzten Fastnachtsreste 'aus-
o-ebeutelt' werden; gar ausführlich werden die Dreikönigsumzüge mit der Perchta
(Peruchta, Sperechta usw., in Südböhmen eine Pferdemaske darstellend; in Nord-
böhmen und Mähren vermummte Frauen mit schrecklichen Larven) geschildert.
In einem besonderen Werkchen 'Masopust z Koblihovic a Bachus souzen a pocho-
v;in' (Urteil und Begräbnis der Krapfenfastnacht und des Bacchus) werden die
städtischen Fastnachtbräuche dargestellt, namentlich der Streit zwischen Fastnacht
und Fasten und ihr zu Grabe tragen, S. 60 (im ersten Teile Abdruck mehrerer
1) Harriet Maxwell Converse, Myths and legends of the New York state Iroquois,
ed. by A. C. Parker. Albany, N. Y. 1908. 195 S. (New York state Museum bulletin 125.
Vgl. Folklore 21, 12G). — C. H. Merriam, The dawn of the world, myths and weird tales
told by the Mewan Indians of California. Cleveland, A. H. Clark 1910. 273 S. —
F. A. Golder, Eskimo and Aleut stories from Alaska (Journal of american folk-lore 22,
10-24). — H. Hüll St. Clair, Traditions of the Coos Indians of Oregon (ebd. 22, 25—11).
Shoshone and Comanche tales (ebd. 22, 265-282). — J. Curtin, Achoinawi myths (ebd.
22, 283—287). — P. Radin, Winnebago tales (ebd. 22, 2SS-313). — R. B. Dixon,
Shasta myths (ebd. 23, 8—37). — F. Stähelin. Tiermärchen der Buschneger in Surinam
(Hess. Bl. f. Volkskunde 8, 173—1*1
2) A. A. Grace, Folktales of the Maori. Wellington, N. Z., Gordon & Gotsch 1909.
■_'57 S. (vgl. Folk-lore 21, 128). — M. Archambault, Contes et legendes de la Nouvelle
Calödonie (Revue des trad. pop. 24, 117—127). — R. H. Mathews, Australian folk-tales
(Folk-lore 20, 485f.). — The Wallarco and the willy-wagtail (ebd. 20, 214-216). —
Jos. Meier, Mythen und Erzählungen der Küstenbewohner der Gazelle-Halbinsel (Neu-
Pommern;, im Urtext aufgezeichnet und ins Deutsche übertragen. Münster. Aschendorü
L909. XII, 291 S. SMk. (vgl. DLz. 1910, 1525 f.).
Berichte und Bücheranzeigen. . 199
Fastnachtspiele; im zweiten Auszug aus dem Buch des Rvaeovsky 'Masopust',
Fastnacht, vom Jahr 1580). Das 3. Heft, 142 S. 'Smrt nesem ze vsi' (Wir tragen
den Tod aus dem Dorfe), behandelt Bräuche und Feste vom Blasientage an, das
Dorotheenspiel, den Gregorstag in der Schule, den Totensonntag (Judica, nicht
Lätare, wie anderswo; seit dem 16. Jahrh. wird fälschlich das Todaustragen als
aus Polen eingeführt betrachtet, bei dessen Christianisierung man an einem be-
stimmten Tage im ganzen Lande die Götzen ins Wasser geworfen hätte); Palm-
sonntag, Osterrute, die Spiele mit den Ostereiern. Heft 4 (04 S.) 'Krälov«' a kra-
lovnieky' (Könige und Königinnen), bringt die Pfingstspiele, Pfingstritt (bei den
Slowaken in Mähren, Schlesien usw.) und das Vogelschiessen. Heft 5 'Obzinky'
(Erntefestlichkeiten); Heft 6 'Den se kräti, noc se dlouzT (Die Tage werden
kürzer, die Nächte länger), 76 S., bringt die Bräuche vom Martins-, Andreas- und
Nikolaustag, sowie von der h. Lucie, die die faulen Spinnerinnen straft, ausserdem
ein Barbaraspiel. Das letzte (7.) Helt, 59 S. 'Hoj, ty stedry ve^ere' (O du
Weihnacht), behandelt die Tage vom 24. Dezember bis Neujahr, bringt eine Aus-
lese von Weihnachtsliedern, druckt des Kozmanek Weihnachtsspiel (2. Hälfte des
17. Jahrh.), ab. Ich kenne keinen Versuch, die Volksüberlieferung durch Wort
und Bild besser auszunutzen, als es Zibrt tut: er verfolgt zwar in dieser Publikation
weniger wissenschaftliche Zwecke, noch hat er es auf Vollständigkeit abgesehen
(erwähnt nicht einmal des Holesovsky^ Weihnachtstraktat aus dem Ende des
14. Jahrh.), aber die Fülle von Material aus alter und neuer Zeit, die Menge
Bilder von alten Holzschnitten an bis zur Photographie, der warme Ton, in dem
der Text gehalten ist, die Anregungen, die nach allen Seiten ausgehen (es wird
z. B. Dilettanten geradezu Stoff für Aufführungen geliefert), die gründlichste Sach-
kenntnis, gestalten das Ganze zu einem wahren Volksbuche, so populär und so
instruktiv zugleich, so systematisch und doch so unterhaltend, dass ich es geradezu
als Muster hinstellen möchte, wie man das Gold der Tradition auszumünzen hat.
Gleichzeitig nahmen die zahlreichen anderen Publikationen des Verf. ihren
ungestörten Fortgang. Von kleineren sei genannt 'Staroeesky rukohled a novoceskv
rukozpyt' (Altböhmische Chiromantie und neuböhmische Handforschung), Nr. 819
bis 821 der Prager Svetovä knihovna (Weltbibliothek), 222 S. kl. 8°, wo mit
reichhaltigen Einleitungen eine altböhmische Chiromantia Philonis (15. Jahrh.) und
ein moderner handschriftlicher Traktat (des Fr. Hekel von 1895), abgedruckt,
sowie nachgewiesen wird, dass der böhmische Physiologe Purkyn^ der Erfinder
der Daktyloskopie ist. In der 'Pestra knihovna zäbavy a kultury' (Bunte
Bibliothek für Unterhaltung und Kultur), nr. IM — 14, gab Zibrt Skizzen unter dem
Titel heraus 'Panna, Zenitba, Zena' (Jungfrau, Heirat, Frau), eine Sammlung alt-
böhmischer Aphorismen und gereimter wie prosaischer Traktate über das Weib,
im 2. Teil die böhmische Überarbeitung eines polnischen Dialoges des Nik. Rej
(um 1540) über Mädchen und Frauen: das böhmische Unikum ersetzt das verloren
gegangene polnische Original (102 S.). Unter seiner Redaktion erschien auch eine
interessante, hübsch ausgestattete Gelegenheitsschrift aus Anlass der Vereinigung
von Podskali (dem alten Flösserort) mit Prag 'Praha se louci s Podskalim' (1910,
04 S.), mit historischen (archivalischen) und ethnographischen Skizzen aus Ver-
gangenheit und Gegenwart der eigenartigen Bevölkerung. Besonders umfangreich
ist die Sammlung 'Pivo v pisnich lidovych a znarodneKch', das Bier im Volks-
und volkstümlichen Liede (Prag 1910, 402 S.), das sich anschliesst dem im vor-
jährigen Bericht angezeigten Buch von den Trinkerzünften und -Sitten; 678 Lieder
sind es, die alles, was mit Schenke, Trinken, Festen zusammenhängt, zum Gegen-
stande haben, auch aus älterer Zeit.
-_>00 Brückner:
Aus dem reichen Inhalt des 'Cesky Lid1 (Bd. 19, Heft 5— 10 und Bd. 20,
Heft 1 — 3), seien zuerst genannt die Fortsetzungen der Denkwürdigkeiten eines
kleinen Prager Sängers und Handwerkers, Fr. Haiss, die anheimelnd das Leben
aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, seine Last und Mühen schildern. Beendigt
ist die Studie von Dr. Jos. Volf über die Rosenkreuzer in Böhmen und ihre
Weissagung für das Jahr 1G22 (jetzt auch im Separatabdruck erschienen, 72 S.);
der Verf. zieht in immer weiteren Kreisen die Geschichte der böhmischen
Protestanten und Exulanten herein, hierher gehört auch seine in den Sitzungsber.
der böhm. Ges. d. Wiss. 1910 (histor. Kl., Abh. 8, 55 S.) erschienene Studie
'Beitrag zum Streite über die böhmische Konfession in Sachsen in den Jahren
16:;i — 1G:;7', wo die Memoriale eines Stransky und Regius in ihrem Glaubens-
prozess vor dem lutheranischen Konsistorium abgedruckt und erläutert werden.
Weiter bringt der Lid die Studie von Dr. J. Branberger über das weltliche
böhmische Volkslied des 16. Jahrh., speziell seine Melodien, und über den Einfluss
der slowakischen Musiker; Ho molka gibt lehrreichen Aufschluss über Verbreitung
von Kunstliedern unter dem Volke. Abdruck alter Texte (z B. des Spieles von
Tob. Moufenin vom Frevelhaften Sohn von 1604, Zutrinken den Brautjungfern von
1775, des Schäfers Jif. Volnv Bearbeitung des Schwankes von den drei Frauen,
welche am besten ihren Mann zum Narren hält, aus den Frantove Präva, um
1730 usw.); dann eine Menge Material jeglicher Art, des Gewohnheitsrechtes (wie
man den neuen Nachbar aufnimmt u. dgl.), des Volksglaubens (Beschwörungen
u. dgl.), Lieder, Tänze, Märchen, Sagen, aus alten, urkundlichen, und neuen
Aufzeichnungen, Proben der Volkskunst (z. B. die Leisten und Initialen der ge-
schriebenen Gesangsbücher), Trachten, Bräuche (beim Dreschen, Taufe usw.),
alles reich illustriert (besonders die Aufsätze Ztbrts selbst, z. B. über einen Ausflug
unter die mährischen Slowaken u. a.), sowie eine reichhaltige Bibliographie machen
den bunten Inhalt der einzelnen Hefte aus, die Sinn und Liebe für alles Volks-
tümliche wecken und wahren sollen.
Von Casopis Musea Kralovstvi Öeskeho unter Zibrts Redaktion, ist der 84. Bd.
abgeschlossen (480 S.) und der 85. begonnen. Die Hefte (vier jährlich), bringen Bei-
träge zu Comenius (z. B. über die älteste deutsche Übersetzung der Perle der
älteren böhmischen Literatur, des Weltlabyrinthes und Herzensparadieses, Leipzig
1788; über seinen Namen; den Abschied seines Schwiegervaters von der Welt,
ein Lissaer Lied); zur Geschichte der Glaubensbewegungen in Böhmen im
18. Jahrh. (von Dr. J. Volf); zur Geschichte des Husitismus (ein trefflicher Artikel
von J. Volf, der des Convertiten Hilarius von Leitmeritz angeblich verloren ge-
gangenen Traktat Arcus gehennalis, gegen Rokycana und die Utraquisten, nach-
weist) u. a.; der ausführlichste Artikel, von Zibrt selbst, Bd. 85, 91—159, be-
handelt auf Grund des literarischen Nachlasses von Dr. Engel die Geschichte der
literarischen Gesellschaften der 60er Jahre, die, heute vergessen, den Grund
gelegt haben zum Erstarken und Aufblühen der neueren Literatur. Die Auszüge
aus der Korrespondenz des grossen Slawisten Safah'k (vgl. vorigen Bericht), sind
beendigt; die Tätigkeit und die Ideen des patriotisch gesinnten Grafen Joh.
Harrach, werden erörtert. Unter bibliographischen Angaben verdient Erwähnung
der Bericht Ezers über Reste böhmischer Volkslieder und alter religiöser Lieder,
in den Pisne modlitebni (Gebetlieder), des M. Morävek Melnicky von 1610, aus
der Druckerei des H. von Waldstejn auf dessen Schloss in Dobrovice, ein Unikum
der Zittauer Stadtbibliothek.
Von der Bibliografie Öeske historie ist Bd. 5, Heft 1 erschienen, S. 1—320,
Nr. 11 82 1 — 1 7 254, die Jahre 1628— 1669 umfassend. Von welcher Bedeutung
Berichte und Bücheranzeigen. 201
diese Bibliographie ist, nicht nur für einen böhmischen Geschichtsforscher, mag
man z. B. aus dem Artikel über 'Wallenstein' ersehen; er umfasst beinahe
2000 Nummern, hauptsächlich in deutscher und lateinischer Sprache, nicht nur
Drucke, sondern auch Handschriften, Artikel in historischen Zeitschriften und
Publikationen jeglicher Art; dabei ist die Belletristik, zumal das Drama, aus-
geschlossen geblieben, denn Prof. Arn. Kraus wird in der Fortsetzung seines be-
kannten Buches über Bearbeitung böhmischer Stoffe in der deutschen Literatur,
besonders darüber handeln und Zibrt selbst die ausserdeutsche dramatische Literatur
anderswo verzeichnen; so blieb nur der Artikel 'Lieder, Epitaphien und Satiren
vom Waldsteiner', nr. 13 523— 13 G04; die einzelnen Nummern bringen mitunter
erschöpfende bibliographische Abhandlungen, z. B. nr. 13538 die Geschichte des
Liedes 'Historie etc.' von 1638. Nr. 13 605 — 13 766 beziehen sich auf den Wald-
steiner in der Kunst (Münzen, Gemälde usw.), Nr. 13 767—13 814 Waldstein als
Herr und im Kreise seiner Familie, die Nationalitätenfrage, wobei Feuilletone in
Tageszeitungen genannt werden usw. Aber mit ebensolcher Ausführlichkeit wird
z. B. der Böhme W. Hollar, der berühmte Kupferstecher, behandelt, Nr. 14 626
bis 14 736, wo sogar die Landtagsrede Dr. Riegrs über den Ankauf von Stichen
des Hollar ausführlich genannt wird. Diese Stichproben mögen die überwältigende
Fülle des Riesenwerkes verbildlichen, auf seinen Nutzen und Bedeutung hinweisen;
es bleibt ein einziges in seiner Art.
Neben dem Lid besteht in Ehren der Närodopisny Vestnik ceskoslovansky,
herausgegeben von Prof. J. Polivka, "240 S. und 72 S. Beilage. Er bringt wie
immer wenige, aber erschöpfende Abhandlungen volkskundlicher Art, eine genaue
Übersicht aller ethnographischen Unternehmungen (Ausstellungen, Museen usw.)
in allen slawischen Ländern, sowie eine ausgewählte Bibliographie, wissenschaft-
liche Rezensionen; es sei z. B. nur erwähnt die eingehende und in Einzelheiten
stark abweichende Anzeige Poli'vkas von Gordon Hall Gerould, The grateful dead ;
oder die Anzeige über Panzers Beowulf-Deutung und das Versagen von Panzers
Methode bei der Frage nach dem eigentlichen Ursprung des Epos selbst u. dgl. m.
In der Beilage wird von Polivka die Glatzer Märchensammlung des Jos. Kubin
weiter herausgegeben und erläutert, vgl. vorigen Bericht; Polivkas oft seitenlange
Ausführungen sind direkt vergleichende Märchen- oder Sagen- (auch Schwank-) künde,
so namentlich die Ausführungen zum Schwank vom Messias- Schuster und dem
Judenmädchen, S. 15—20, wo die deutschen und mittelalterlichen Varianten des
Boccaccio, der Prediger usw. bis zum Pancatantra, zu Olympias und Nectanebus,
Cimon in Troja usw., zurückverfolgt werden. Ich vermisse nur polnische
Varianten, die den Glatzer Schwank unmittelbar berühren, z. B. Ciszewski,
Krakowiacy nr. 221: Kollataj in seinem Stan oswiecenia w Polsce erzählt von einem
Jesuiten und einer polnischen Edelfrau ähnliches. Von den Abhandlungen sei eine
Würdigung des 19. Januar 1910 verstorbenen Prof. 0. Hostinsky und seiner Ver-
dienste um die Pflege der böhmischen Volksmelodien und Lieder sowie des
böhmischen ethnographischen Museums genannt; dann eine Studie über die Marionetten
und das Puppentheater in Böhmen (mit zahlreichen Abbildungen, auch der Theater-
zettel der wandernden Schausteller, in deren Familien, Kopecky u. a., diese Kunst
sich traditionell vererbt); dann der kritische Bericht über die wichtige Sammlung
mährischer Volkstrachten in dem Buche von Hörn, Mährens ausgezeichnete Volks-
trachten 1837; ausserdem Buseks Studien über Leben und Treiben in der Gemeinde
Bilov, wo besonders ausführlich die Vermummungen am Faschingsdienstag ge-
schildert sind und zugleich hervorgehoben wird, wie alle diese alten Bräuche
entschieden im Aussterben begriffen sind.
202 Brückner:
Die Sprichwörtersammlung (Ceska Pfislovf) von Prof. Dr. V. Flajshans (vgl.
vorigen Bericht) schreitet rüstig vorwärts; sie ist bereits bis Heft 7 (Mele,
Spalte 896) gediehen; freilich berührt sie sich öfters mit einer Phrasensammlung,
enthält sie doch nicht ausschliesslich Sprichwörter, sondern alle übertragenen
Wendungen, Schimpfwörter, Beinamen u. dgl. Die Auslegung des einzelnen, die
Parallelen und Nachweise sind von erstaunlicher Fülle und Genauigkeit: der an-
gekündigte Umfang wird allerdings nicht innegehalten, das Werk wird den ur-
sprünglichen Rahmen weit überschreiten, doch wird mit dieser Leistung die
böhmische Literatur wieder um ein wahrhaft monumentales Werk (in würdigster
Austattung zugleich) bereichert; für ältere Volkskunde, Bräuche, Anschauungen,
für das Wandern von Motiven und Worten, bleibt das Werk eine unerschöpfliche
Fundgrube, und die hingebende Mühe, mit der jede Einzelheit, vom Sinn bis zum
Wortlaute gesichtet wird, kann nicht genug gerühmt werden.
Das Werk von Prof. C. Ho las über böhmische Volkslieder und Tänze (vgl.
vorigen Bericht) ist mit Teil 4—6 (Prag 1909 — 1910) abgeschlossen; es enthält
etwa 2000 Lieder (nur aus Böhmen, nicht aus Mähren usw.), von denen etwa 1/3
neu sein dürften, den "Rest bilden Varianten zu bereits bekannten, vgl. den ein-
gehenden Bericht im Närodopisny Vestnfk 1910, S. 114—119. Hier hebt der Rez.
(Horak) besonders die 'Balladen' hervor und hält sich über den Widerhall alter
religiöser Bewegungen in dem sektenreichen östlichen Böhmen auf; in der Tat
wird einmal Zizka aufgerufen, dass er endlich mit den Mönchen aufräumen möchte;
in einem andern Liede (im Bänkelsängerton) hat Bocek von Kunstat, als die
Geistlichkeit seinen Richter nicht beerdigen wollte, mit dem Fleische des Ver-
storbenen die Eingeladenen bewirtet: so wird doch mein Richter mit euch auf
einer Stätte liegen, unter ehrbaren Leuten. Die Klagen über das vollständige
Schwinden des Volksliedes erscheinen nach Ausweis der Sammlung übertrieben.
Einen prächtigen Beitrag zur böhmischen Kulturgeschichte lieferte Professor
Jos. Pekar in seiner 'Kniha o Kosti, kus ceske historie' (Buch vom Schlosse Kost,
im oberen Egerlande; ein Stück böhmischer Geschichte; erster Teil. Prag 1910,
202 S.), mit einer Fülle von Kunstbeilagen (Ansichten des imposanten Schlosses,
Faksimile von Urkunden und Briefen u. dgl.). Ein Stück böhmischen Gut- und
Bauernlebens aus der alten Zeit, zumal aus dem Dreissigjährigen Kriege, so flott
erzählt, dass es sich wie ein fesselnder Roman liest, die Menschen und Zeiten
wie lebend vor uns erstehen, die langwierigen archivalischen Vorstudien des Verf.
wie vergessen scheinen: die Liebe zu dieser Vergangenheit, zu diesen Heimats-
gegenden, hat dem Buch den warmen Ton geliehen; besonders lebhaft geschildert
ist das Aufeinanderstossen zweier entgegengesetzter Kulturen, der heimischen,
protestantischen, und der fremden, italienisch-katholischen, mit ihren energischen,
zielbewussten, selbstsüchtigen Vertretern. Kürzer erwähnt seien andere Orts- und
Provinzialgeschichten auf breitem kulturhistorischen Hintergrund: F. A. Slavik,
Moravske Slovensko od XVI 1 stoleti (1. Teil 1903; 2, 1909; Geschichte der
mährischen Slowakei, mit besonders zahlreichen statistischen Nachweisen); Jindr.
Baar und Fr. Teply gaben die Monographie des Städtchens Klenci 1 909, 221 S.) u. a.
Die immer zahlreicheren und reicheren städtischen historischen Museen statten
ihre Jahresberichte mit Abhandlungen zur lokalen Kulturgeschichte aus, z. B. der
Vestnik des Klatauer Museums (1909) bringt Aufsätze über die Klatauer Glocken-
und Kannengiesser und zur alten Topographie der Stadt; der Sbornik des Pilsener
Museums bringt neben einer trefflichen Topographie der Stadt vor den Hussiten-
kiimpfen, Berichte über Ausgrabungen u. dgl., auch Beiträge zur Lebensgeschichte
des Pilsener Arztes Franta, der an den Frantove prava, jenem durch Zibrt und
Berichte und Bücheranzeigen. 203
Spina bekannten Nürnberger Schelmenbuch beteiligt ist. Alle ähnliche Publikationen
übertrifft weit an Umfang und Fülle Jos. Teiges 'Zaklady stärebo mi'stopisu
Prazskeho 1437— 1620' (Grundlagen der alten Prager Topographie, Bd. 1, 830 S. 4"),
eine Fortführung des Werkes, das Prags Geschichtsschreiber, Tomek, bis 1417
abgeschlossen hatte, nur auf breiterer Grundlage; es ist dies die Geschichte jeder
Prager 'Realität' auf Grund der Akten, Testamente, Chroniken usw., mit aus-
führlichen Einzelheiten, Instruktionen, Beschreibungen der festlichen Aufzüge
(z. B. bei der Einholung König Ferdinands 1558, in zwei Sprachen), Kirchen usw.,
für den Kulturhistoriker eine Fundgrube von höchster Bedeutung.
Von den Publikationen der Prager Akademie der Wissenschaften sei zuerst
genannt das Verzeichnis der Handschriften der überreichen Prager Bibliothek des
Domkapitels (Soupis rukopisti etc.) von A. Patera und Ant. Podlaha: der erste
Teil umfasst 846 Handschriften; namentlich reich wird der Gewinn für die Literatur
des 15. Jahrh., für die verschiedenen hussitischen Traktate eines Ph'bram u. a. der
erste Teil eines böhmischen bibliographischen Lexikons, herausgegeben von Zd.
Tobolka, umfasst die böhmischen Inkunabeln (von 146.S, die Trojanerchronik,
Pilsener Druck, bis 1500, 25 erhaltene und fünf verschollene Druckwerke aus
Pilsen, Prag und Kuttenberg). Von mittelalterlichen Texten sei die Herausgabe
des Petrus Comestor, seines Kommentars zur Bibel, genannt (1. Teil, äusserst
sorgfältig, der Historia scholastica, durch Dr. J. Noväk; 320 S., bis zum Buch der
Richter); ausserdem das Verzeichnis der böhmischen Handschriften der Prager
Universitätsbibliothek durch Jos. Truhlar (Katalog ceskych rukopisu etc., Teil 1).
Der unermüdliche Lexikograph Fr. Kott hat 'Beiträge zum mährischen Dialekt-
wörterbuch des Bartos' (Dodatky k Bartosovu Slovniku etc.), aus neueren Publi-
kationen gesammelt (166 S. gr. «'S0, doppelspaltig). Zu der nationalen Wieder-
geburt im 18. Jahrh. sind zwei Beiträge zu verzeichnen; der Prager Germanist
Arn. Kraus handelt über 'die Prager Zeitschriften 1770 — 1774 und das böhmische
Erwachen' (Prazske Casopisy etc., 89 S., hauptsächlich über Löpers 'Neue Literatur
und die Prager Gelehrten Nachrichten'; wie die drei lebenden Sprachen, deutsch,
böhmisch, französisch, gemeinsam den Angriff gegen das Latein führen); Jos.
Hanns zeichnet das Lebensbild und die literarische Wirksamkeit des Deutsch-
böhmen Nik. Adauct. Voigt, wie er an der nationalen Wiedererweckung als
Historiker beteiligt ist (100 S.), seine Beziehungen zu Dobner, Pelzl u. a. Eine
besondere Rubrik in den Publikationen der Akademie bildeten die Schriften des
Komensky, von denen im Laufe der Jahre sechs Bände erschienen waren, darunter
seine Korrespondenz von dem Dorpater Theologieprofessor Jan Kvacala in drei
Teilen, das Theatrum universitatis rerum usw.; nun hat der Zentralverein der
böhmischen Lehrer Mährens die Gesamtausgabe unter der Redaktion von Kvacala
in die Hände genommen und will sie bis 1923 in 30 Teilen vollenden; erschienen
ist eben der 15. Teil, in dem ein trefflicher Comeniuskenner, Prof. J. Noväk,
sieben böhmische Schriften herausgegeben hat; als Ergänzung der ganzen Aus-
gabe dient das 'Archiv pro badani o zivote a spisech J. A. Komenskcho", dessen
erstes Heft der Herausgeber, Prof. J. Kvacala, fast ausschliesslich mit eigenen
Beiträgen ausgefüllt hat (Bibliographie; Beziehungen des Comenius zu Karl Gustav
von Schweden; Polemik mit Valer. Magni u.a.). Von Publikationen zum 1!>. Jahrb.
sei erwähnt die Herausgabe der bisher ungedruckten satirischen Allegorie des
Vojt. Nejedly 'Bohync' (Göttin, in acht Gesängen, eine Parodie auf die Angrille
von Jungmann und Safarik gegen die akzentuierende böhmische Metrik, vom
Jahre 1819), durch Ferd. Strejcek (187 S.); sowie die Fortsetzung der Korrespondenz
des Fr. Celakovsky (2, 1, 320 S., 1829—1833).
2< »4 Brückner
Der von den Professoren Jar. Goll und Jos. Pekai- herausgegebene Gesky
Casopis historicky (Jahrgang IG, 480 S. und Bibliographie böhmischer Geschichte
für 1909, 78 S.) bringt in seinen Vierteljahrsheften eine ausserordentlich reiche
Chronik, die sich nicht auf böhmische oder slawische Geschichte beschränkt,
obwohl sie ja diese vor allem berücksichtigt, Inhaltsangaben von Zeitschriften u. dgl.
Von den Abhandlungen ist die Xeubaurs über den Hussitenführer Prokop Holy
vollendet; die übrigen fallen aus dem Rahmen unserer Berichte heraus; ich er-
wähne nur noch die Kritik Zd. Wirths über die Herausgabe der Prager Kunst-
denkmäler, die in dem gesamten Soupis pamätek historickych a umeleckych (die
vergleichbar den geplanten Monumenta artis Germaniae, seit 1897 erscheinen,
davon einzelnes auch deutsch herausgegeben wird, z. B. Heft "21 über Schloss
Raudnitz der Rosenberg und Lobkovvitz, böhmisch 1907, deutsch 1910) eine be-
sondere Stellung einnehmen wird. Der Musikhistoriker Zd. Nejedly bringt eine
knappe, aber energische Würdigung des Lebenswerkes von Ott. Hostinsky, der
nicht nur als Musikhistoriker, sondern gerade als Förderer der Volkskunde, Mit-
begründer des Prager ethnographischen Museum, sich bleibende Verdienste er-
worben hat. Auf die eingehende Bücher- und Zeitschriftenschau des Casopis sei
namentlich wegen der reichen lokalgeschichtlichen Forschungen verwiesen, wie sie
in den Pamatky archaeologicke a mi'stopisne (archäologische und topographische
Denkwürdigkeiten, bisher -2o Bände); in den mährischen Zeitschriften (Casopis
matice Moravske, bisher ;>3 Jahrgänge; Casopis moravskeho musea zemskeho,
bisher neun Jahrgänge), im Casopis spolecnosti pratel starozitnosti eeskycti v
Praze (böhm. Altertumsverein, 17 Jahrgänge), im Sbornik historickeho Krouzku
(Sammelschrift der histor. Vereinigung, zehn Jahrgänge), in der Hlidka (Rundschau:
im letzten, 26. Jahrgang, sehr interessante Beiträge zu Hus, Traktate und Briefe
an ihn), u. dgl. m. veröffentlicht werden.
Von polnischen Texten sei zuerst der Lemberger Lud, Kwartalnik etnogra-
iiczny, genannt (Bd. 15, Heft 4; 16, 1 — 3). Ihn eröffnet eine besonders interessante
Arbeit: Bron. Pilsudski hat 15 Jahre auf Sachalin zugebracht und ist zu den dor-
tigen Ainos in nahe Beziehungen getreten; er lernte ihre Sprache, richtete Schulen
für ihre Kleinen ein, und auf Grund so erworbener Kenntnisse spricht er über ihr
Schamanentum. Es scheint, dass dieses bei ihnen nur importiert ist (vom Amur
her;, daher keine überragende Rolle spielt und gegen den alten Ahnenkult nicht
aufzukommen vermag. Es werden einzelne Schamanen (nach Alter, Geschlecht,
Vermögen; nach ihren physischen und psychischen Anlagen sowie nach ihren
Praktiken) vorgeführt, einzelne 'Seancen' eingehend beschrieben, und man gewinnt
einen fesselnden Einblick in diese Mischung von Glauben und Gaukelei; der Ar-
tikel verdiente wohl weitere Verbreitung; in einem folgenden soll das Schamanen-
tum der anderen Eingeborenen, der Ghilaken und Oroken, geschildert werden.
Des Zusammenhanges wegen nenne ich gleich eine andere Arbeit über die Völker
des fernsten Ostens: der Arzt J. Talk o-Hry nee wiez, der unter ihnen viele Jahre
verbracht und gesammelt hat, wird seine Materialien durch die Petersburger Akad.
d. Wiss. herausgeben und hat vorläufig eine erschöpfende Inhaltsangabe bei der
Krakauer Akad. d. Wiss. erscheinen lassen u. d. T. Materialy do etnologii i antro-
pologii ludow Azii srodkowej, Mongolowie, Buriaci i Tungusi (Krakau 1910, 96 S.);
in dieser Skizze wird über Traditionen, Geschichte, den Lamaismus usw. und auf
Grund eigener Forschungen und Messungen über die physischen Merkmale der
Chalchas- und Buriaten-Mongolen wie der Tungusen, gehandelt. Doch kehren wir
zum Lud zurück. Eine andere Zierde seiner letzten Hefte sind die Aufzeichnungen
des Bauern-Künstlers (Bildhauers) W. Brzega aus dem Munde des greisen Tomasz
Belichte und Bücheranzeigen. 205
Gadeja in Zakopane (dem bekannten Höhenkurort in der polnischen Tatra): der
alte Bauer, einst selbst an Raubfahrten beteiligt, erzählt in dem interessanten
Bergdialekt Märchen, Sagen, Geschichten, Lieder, in der kernigen und knorrigen,
leicht humoristisch und satirisch angehauchten "Weise seiner engsten Heimat, ohne
die Reserve, die er sich sonst Fremden gegenüber auferlegen würde: diese Auf-
zeichnungen teilt mit und erläutert (sachlich und sprachlich) Prof. Fr. Krczek. In
anderen Beiträgen handelt Br. Gustawicz über die S. Martinsbräuche (namentlich
auch die deutschen) und schildert eingehend Land und Volk der Szekler (mit
Illustrationen), ihre Lebensart, Sagen u. dgl. Dr. St. Schneider erörtert den
Schlangenkult, speziell den Schlangenkönig, namentlich auch in der klassischen
Welt, sowie Hausgötter, Schwalbe und Hahn (als Göttertiere), mit einzelnen inter-
essanten, aber allzu gewagten Kombinationen. A. Fischer bringt schöne Nach-
träge aus slawischen Quellen zu 0. Dähnhardts Natursagen, ausserdem zu seinem
eigenen, im vorigen Bericht genannten, Aufsatz über das Motiv vom blühenden
Stecken. Bol. Slaski, unter andern Beiträgen, erwähnt das Petruswasser der
deutschen, die Piotrowina der polnischen Flösser (wo das Wasser zurückfliesst,
warum es so heisst). Vieles (Materialien aus alten Hexenprozessen u. dgl.) muss
ich übergehen, doch sei besonders hervorgehoben der Bericht des Musikhistorikers
A. Chybinski über die Ethnographie auf dem •'!. internationalen Musikerkongress
in Wien 1909, wo namentlich die Vorträge von Frau Linev (über neue Methoden
des Folklore in Russland, speziell das Volkslied und dessen musikwissenschaft-
liche Wertung), und des Prof. Hostinsky (s. o. S. 201) Referate über das böhmische
Volkslied sowie über die Vorarbeiten des Komitees für das Volklied in Österreich
(einberufen vom Ministerium d. Unterr.). eingehend gewürdigt werden. Die Artikel
im Lud gewinnen von Jahr zu Jahr an Umfang und Bedeutuag, sie beschränken
sich längst nicht mehr auf polnische Ethnographie allein und können jetzt auf
rohe Stoffsammlungen desto eher verzichten, als in der Warschauer Ziemia 'Land',
einer illustrierten Wochenschrift, die unter der Redaktion von Kaz. Kulwiec in den
zweiten Jahrgang eingetreten ist. ein Organ geschaffen ist, das in erster Reihe, an
den Prager Lid erinnernd, das heimische Material aufzunehmen bestimmt ist.
Eine Aufzählung der meist kleineren Skizzen, Feuilletons u. dgl. der Ziemia wäre
unmöglich; das geographisch beschreibende Element, Aufnahmen von Bauten,
Sehenswürdigkeiten jeglicher Art, nimmt breiten Platz ein; doch fehlt es auch nicht
an wissenschaftlichen Beiträgen, z. B. von dem jetzigen Prof. der Ethnologie an
der Univ. Lemberg, St. Ciszewski, über die Quellen des Drachenkampfes in der
Gründungssage von Krakau beim Mgr. Vincencius, wo an eine ähnliche Episode
vom Iskender im Schachnameh erinnert wird, vgl. dazu A. Fischer im Lud 16,
281 — 285 und S. Fränkel, die Sage von der Gründung Krakaus, in den Siebschen
Mitteilungen der schlesischen Ges. usw. 13, 1—4. Vincencius hat auch andere
Züge von Alexander, die bei Pseudokallisthenes fehlen, aus mündlicher orienta-
lischer Tradition? Oder von Z. Gloger, über das Brot und die Bräuche beim Brot-
backen u. a.
Der Tod hat uns Z. Gloger entrissen und eine nicht auszufüllende Lücke in
der Pflege polnischer Volkskunde geschaffen. Seine Sammlertätigkeit, die so vieles
vom Untergange gerettet hat, begann vor einem halben Jahrhundert; die Zahl
der Artikel und Bücher, die er geschrieben, ist Legion (vgl. die kurze Aufzählung
im Lud 16, "243 — 245) und vieles ist unveröffentlicht oder unvollendet gelassen, so
namentlich sein Budownictwo drzewne i wyroby z drzewa w dawnej Polsce Cohce
(poln. alt. Holzbauten), wovon nur die beiden ersten Bände, A — L, erschienen sind
(1907 und 1909); die Artikel sind alphabetisch geordnet und ausserordentlich reich
•_'(ii'. Brückner:
illustriert, die Art. chata (Hütte) und dwor (Hof) allein umfassen je 60 Seiten gr. 8°
und bieten eine ganze Galerie aller möglichen Typen aus dem Gebiete des alten
Polen; namentlich sind für das Werk verwertet worden alte Inventare vom 16.
bis 18. Jahrb., die in chronologischer Folge für jeden einzelnen Artikel aus-
genutzt werden. Es wäre sehr zu bedauern, wenn dieses Wörterbuch unvollendet
bleiben sollte.
Wir gehen zu anderen periodischen Publikationen über. In Litauen ent-
wickelt die Gesellschaft der Freunde der Wiss. rege Tätigkeit. Aus ihren Jahr-
büchern (Rocznik Towarzystwa Przyjaciol Nauk w Wilnie II, Wilno 1908, 145 S.;
111 1909, 152 S.) seien genannt: J. Rur<zewski, Nachricht von den Pfarrschulen
in der Diözese Wilno eine Übersicht des gesamten Volksunterrichtes seit 1397:
des verdienten Archäologen Wand. Szukiewicz Aufwerfen der Frage, wem eigentlich
die litauischen Grabhügel (aus der Eisenzeit) mit ihrem reichen, von Kultur
zeugenden Inventar angehören, da die historischen Litauer von den Chronisten als
ein unsäglich armes und zurückgebliebenes Volk geschildert werden; Dr. Bara-
nowski schildert einen Epigonen des Feudalismus in Litauen (Fürst Sapieha auf
Bychow aus der Mitte des 18. Jahrb.) und sein unumschränktes Walten im Lande;
andere historische und bibliographische Abhandlungen müssen wir übergehen.
Eine Ergänzung finden die Roczniki der Gesellschaft in dem Kwartalnik litewski,
den J. Obst „den Denkmälern der Vergangenheit, der Geschichte, der Topographie
und Ethnographie Litauens, Weissrusslands und Liflands" bestimmt (Petersburg,
jedes Vierteljahrsheft zu 160 S. mit schönem Bilderschmuck); aus dem Vielerlei,
was die bisherigen Hefte brachten, sei genannt: W. Szukiewicz, Die Spuren des
Steinalters im Gouvern. Wilno; des bekannten polnischen Forschers und Kenners
livländischer Vergangenheit, Baron G. Manteuffel. Beschreibung des mächtigen
Felsvorsprunges Stabu rags an der Düna, und der daran geknüpften Überlieferungen ;
einzelne Volkslieder (weissrussische); über Volksarznei und ein Album weiss-
russischer Volkstypen (Bettler, Holzfäller u. a.).
Aus dem 34. und 35. Bande der Roczniki der Posener Gesellschaft der Freunde
der Wissenschaften sei ein mittelalterliches lat.-deutsch-polnisches Glossar (Ende
des 15. Jahrh.) genannt, wegen der Erklärungen (über Form des Backwerkes;
Hütten u.a.), die der Herausgeber, Dr. B. Erzepki, hinzugefügt hat; der Katalog
der Hdschrr. der Gnesener Kapitelsbibliothek enthält einige sehr alte und reich
illustrierte Codices: die Biographie und das Testament des Leibarztes König
Sigismund I., Peter Wedelicius (zubenannt so wegen der Annahme des Wappens
der Herren von Wedell), gest. 1544, enthält für den Kulturhistoriker manches Be-
merkenswerte; ebenso die Beschreibung des Barokbaues der Wallfahrtskirche
in Zdziez bei Borek u. a. Den 'Rocznik' der Thorner Gesellschaft füllt aus die
kritische Geschichte des Tages von Tannenberg-Grunwald durch den aus-
gezeichneten Kenner westpreussischer Geschichte, Pfarrer St. Kujot (Bd. 17, 37s S.,
Thorn 1910); dagegen enthalten die vierteljährlich erscheinenden 'Zapiski' (Me-
moiren) derselben Gesellschaft, von denen der erste Band, 286 S., jetzt ab-
geschlossen ist, allerlei archäologisches, volkskundliches, historisches und genea-
logisches Material sowie Bücherbesprechungen. Die in Behrend (Westpr.) er-
scheinende Monatsschrift 'Gryf, pismo dla spraw kaszubskich', herausgegeben von
Dr. Majkowski, bringt in jedem Hefte kaschubische Märchen, Lieder und Sagen.
Die von der Krakauer Akademie herausgegebene "Biblioteka pisärzow pols-
kich' brachte gerade im Jahre 1910 reichen Ertrag für unsere Zwecke. Zuerst gab
Ign. Chrzanowski in mustergültiger Weise das interessanteste Buch der alt-
polnischen Literatur heraus, den Aesop des Biernat von Lublin, des Begründers
Berichte und Bücheranzeigen. 207
der neueren Literatur (23 und .">14 S. nebst den Holzschnitten des Originals,
Krakau 1910). Das Werk enthält in achtsilbigen Reimpaaren das Leben Aesops
und die Fabeln, vermehrt zu Ende um eine Auswahl aus des Joh. von Capua
Directorium humane vite 1-180 (Aesops Leben nach Steinhövel, die Fabeln, 210 an
der Zahl, nach einem Rimicius und Romulus, wobei jede Fabel im Titel ein pol-
nisches Sprichwort trägt, so dass das Buch zugleich die älteste Sprichwörtersamm-
lung ist); im Anhang wird die gesamte ältere polnische Fabelliteratur, bis auf
Mickiewicz, durch zahlreiche Proben charakterisiert; das Werk des Biernat selbst
zeichnet sich durch grosse Selbständigkeit aus, durch das Einflechten stark de-
mokratischer und antigeistlicher Züge. Von den folgenden Nummern (der älteste
poln., halb lutherische Katechismus von 1543 u. a.) seien besonders Nr. 58 und 59
genannt, beide von K. Badecki herausgegeben: Pisma Jana Dzwonowskiego (118 S.)
sind ein Muster poln. Eulenspiegelliteratur, d. i. einer Literatur aus kleinbürger-
lichen Kreisen, die Sitten und Treiben der Zeitgenossen, in der Stadt und auf
dem Lande, durchhechelt; sie enthalten 'Häusliche Constitutionen' (satirische An-
weisungen für Familie und Diener), 'Statut' (nach Art der böhmischen Frantove
prava, wonach alle Tagediebe usw. abgeurteilt würden), 'Gänsekrieg7 (des unbot-
mässigen Adelsaufgebotes, das dem Lande schädlicher ist als dem Feinde), 'Kozak
Plachta' (eine komische Schilderung eines Kosaken, wie sie in Schlesien 1620
grassierten, mit einem Liede, das als Perle kleinrussischer Balladendichtung von
Kleinrussen, Dr. Franko u. a. herausgegeben und bearbeitet wurde, zugleich älteste
Probe eines kleinruss. Volksliedes, gedruckt 1G25, in Wirklichkeit von dem Polen
Dzwonovvski — ein fingierter Name, wie bei allen diesen Eulenspiegeleien, nach
kleinruss. Mustern verfasst). Die zweite Nummer (49 S.) 'Walna wyprawa do
Woloch ministrow na wojne' von 1617 (Kriegszug der Prädikanten in die Moldau)
ist eine andere Eulenspiegelei auf konfessionellem Hintergrunde; 1590 waren zwei
Intermedien erschienen, die in volkstümlicher Weise die Ausrüstung und die Heim-
kehr des Dorfküsters vom Kriege schilderten; 1617 wurde dasselbe auf einen
Prädikantensohn übertragen und merkwürdigerweise lebt heute noch diese Ge-
schichte im Munde des oberschlesischen Volkes.
Von der von K. Badecki herausgegebenen Sammlung 'Biale Kruki' (Weisse
Raben, d. i. bibliographische Seltenheiten) ist nach dem ersten Hefte, das eine
Bearbeitung der 'ungleichen Kinder Evas' enthielt, Nr. 2 erschienen 'Przygana
wymyslnym strojom bialoglowskim' (Tadel weiblicher Putzsucht, des P. Zbylitowski
von 1600), das das Faksimile der satirischen Broschüre und den Abdruck enthält,
mit eingehenden bibliographischen, lexikalischen u. a. Notizen.
Zur Geschichte des Handwerkes in Polen, der Zünfte und Bräuche, ist die
umfassendste und wichtigste Quellenpublikation vollendet; es erschien nämlich in
den Krakauer Acta historica der Akademie nr. XII das Schlussheft, S. XXIII,
1107 — 150'.», worauf die sorgfältigen Indices (S. 1511 — 1625, lex. 8° doppelspaltig)
zum ganzen Bande folgen. Es sind dies die Privilegien, Rechte und Statuten
Krakaus von 15S7 — 16!»6 in poln. und lat. Sprache; da das Handwerk von Deutschen
hauptsächlich, nach Krakau eingeführt war, ja es hier noch im 17. Jahrh. deutsche
Handwerker gab, so ist vor allem die Terminologie deutsch und sind die poln.
Ausdrücke erst aus deutschen zu erklären. So sind z. B. die Kupferschmiede ver-
pflichtet, ihren Gesellen zu S.Michael einen ligesz (!) zu geben, worauf diese
von S. Michael bis zu den Fasten oder bis zum Gründonnerstag bei Lichte ar-
beiten müssen (im Jahre 1672); das erklärt sich aus dem lat. Statut der deutschen
Kupferschmiede in Krakau vom Jahre 1669, wo es heisst an derselben Stelle:
magister socio obligatur ad unam coenam vulgo lichtkanz (es ist somit die
•_)Qg Brückner, Feist:
Lichtgans gemeint, poln. li(ch)g§£); aber in einer späteren poln. Redaktion vom
Jahre 1689 wird diese coena burkat genannt, ein deutsches Wort, das ich jedoch
nicht zu deuten weiss. So ist das verdienstvolle Werk nach dem Tode des Her-
ausgebers (Prof. Piekosinski) zu Ende geführt.
Auf den Inhalt der zahlreichen historischen Publikationen und zweier historischer
Zeitschriften (Kwartalnik historyczny in Lemberg, 24. Jahrg., 7.34 S.: Przeglad
historyczny in Warschau, 11. Bd., noch unvollendet), kann nicht näher eingegangen
werden: genannt sei jedoch die Abhandlung von Prof. 0. Balzer in Kwartalnik,
S. 359 — 406, die Chronologie der ältesten Typen des slawischen und polnischen
Dorfes: der aus Deutschland (in der Altmark usw.) wohl bekannte 'Rundling' wird
als eine nachweislich spätere, nicht urslawische Spezialität und die Entstehung des
Strassendorfes aus ältesten Einzelhöfen (nach der Angabe des Procop im 6. Jahrh.)
erwiesen. Zur Geschiebte der deutschen Juden, namentlich seit wann sie Aschkenaz
heissen, brachte einen Beitrag Dr. Th. Modelski ('Der König Gebalim im Briefe
des Chasdaj\ eines spanischen Juden, an den Chazarenchan Joseph von'.1")."). 122 S.,
Lemberg 1910), der nachwies, dass der in diesem Briefe genannte König der Slawen
Otto der Grosse ist, der auch König der Berge, d. i. der Alpen genannt wird.
Auf den Inhalt der literarhistorischen und der Revuen gemischten Inhaltes (Biblio-
teka Warzawska usw.) kann ebensowenig eingegangen werden, wie auf Publikationen
alter Dichter, obwohl in beiden mancherlei volkskundliche Beiträge zu linden sind.
Der 4. Band der 'Materialy i prace' der linguistischen Kommission der Krakauer
Akademie enthält eine eingehende Charakteristik der schlesischen Dialekte von
Kar. Nitsch (S. 85—356, mit einer Dialektmappe); derselbe Verfasser hat in den
Krakauer philologischen Abhandlungen (Bd. 46, 1910) den Versuch einer Gruppierung
sämtlicher poln. Dialekte unternommen; für das Material, d. i. für die Eintragung
mehr oder minder zuverlässiger Isoglossen auf der Karte, sind wir ihm sehr zu
Danke verpflichtet; die ethnischen u. a. Kombinationen jedoch, die er auf diesen
Isoglossen aufbaut, sind entweder verfehlt (wie z. B. die über den Zetacismus der
Polen) oder zum mindesten verfrüht; zudem hebt eine Einteilung die andere auf.
Von zahlreichen Publikationen, die nur grammatikalisches und lexikalisches
Interesse bieten (z. B. die neue Zeitschrift, Rocznik Slawistyczny, Bd. 1—3 u. dgl.
ra.), sehen wir gänzlich ab; die Warschauer 'Prace filologiczne' (6 Bände) bringen
wenigstens reichhaltiges dialektologisches Material.
Berlin. Alexander Brückner.
Hans Hahne, Das vorgeschichtliche Europa. Kulturen und Völker.
(Monographien zur Weltgeschichte, 30. Band). Bielefeld und Leipzig,
Velhagen und Klasiug 1910. 130 S. Mit 151 Abbildungen; gr. 8°. 4 Mk.
Richtung und Tendenz des vorliegenden Werkes werden durch das Titelbild
charakterisiert. Es .stellt eine angebliche Germanenbüste etwa aus dem zweiten
nachchristlichen Jahrhundert dar, dieselbe, die auch als Titelvignette der Zeitschrift
'Mannus' dient. Der Verfasser segelt also im Fahrwasser Kossinnascher A'or-
geschichtsklitterung. Er ist Privatdozent für Prähistorie an der technischen Hoch-
schule zu Hannover und hat sich durch Grabungen in Mittel- und Xordwest-
deutschland und die literarische Darstellung ihrer Ergebnisse verdient gemacht.
Seine Darlegungen in dem hier zu besprechenden Buche beginnen mit der
palaoüthischen Zeit, deren Werkzeuge, Skelettreste, Höhlenmalereien und glyptische
Berichte und Bücheranzeigen. 200
Leistungen uns zunächst in Wort und Bild vorgeführt werden. Es folgen die
Kulturstufen der sogenannten Ancyluszeit und der Muschelhaufen (Kjökkenmöd-
dinger) in der Litorinazeit (beide Benennungen stammen von charakteristischen
Muscheln der Ostsee). Nach einem Ausblick auf die vorgeschichtliche Kultur
des Orients wendet sich der Verfasser der mitteleuropäischen Bandkeramik und
nordischen Megalith- und Schnurkeramik zu und wirft auch einen Blick auf die
mächtigen Grabbauten des Nordens. Es folgt eine Darstellung der Rassen-
verteilung im steinzeitlichen Europa, gegen die sich nichts einwenden lässt; nur
weiss ich nicht, weshalb Verf. mit apodiktischer Gewissheit die nord- und mittel-
europäischen Rassen aus Frankreich kommen lässt. Das kann man bei dem bis
jetzt vorliegenden dürftigen Material doch kaum als Tatsache hinstellen. Überhaupt
die Auswanderungen! Sie spielen eine grosse Rolle in Hahnes Werk sowohl in
der Schilderung des Endes der Steinzeit wie der auf sie folgenden Bronzezeit. Die
Aunjetitzer Auswanderung z. B. (nach einem Fundort in Böhmen benannt) in der
ersten Periode der Bronzezeit soll aus Mittel- und Süddeutschland nach Süd-
osten erfolgt sein, weil in der zweiten bronzezeitlichen Periode jene Gebiete
fundarm werden und die Skelette der Aunjetitzer liegenden langschädligen Hocker
sich dem nordischen Typus nähern. Aber neue Funde, die sich tagtäglich ein-
stellen, können diese ganze Siedelungstheorien doch über den Haufen werfen.
Auf S. 54 tauchen endlich (hurra!) als Krone aller bisherigen Erörterungen die
Indogermanen auf, und nun kann man versuchen „mit den Mitteln der Vor-
geschichtsforschung das indogermanische Rätsel zu lösen und die Spuren zu finden,
die uns sicherer als rein sprachliche Untersuchungen in die Heimat der Indo-
germanen führen." Nach Kossinnas neuester Theorie werden die 'Ostseevölker
als die Westindogermanen, die mitteleuropäischen Bandkeramiker als die Ost-
indogermanen hingestellt, ohne dass irgend ein zwingender Grund für diese
Gleichstellung angegeben wird, ausser Kossinnas Dogma von der nordischen Rasse
und der europäischen Urheimat der Indogermanen. Ehe aber ihre weiteren Schick-
sale verfolgt werden, wendet sich Hahne der Betrachtung der Kultur des Mittel-
meerkreises zu, wohin er jene um 1600 v. Chr. gelangen lässt. Auch nach dem
Orient verfolgt er sie, wir hören von den Medern, Baktrern, Persern und Indern,
die aus Europa nach Asien gewandert seien. Neu sind dabei die Behauptungen,
Zoroasters Religion gehe auf den indogermanischen Götterglauben zurück, das
Sanskrit sei die heilige Buchstabenschrift der Inder, und ihre Dichtungen muteten
uns an, „als seien sie griechischen oder altdeutschen Ursprungs". Die Lieder
der Veden also, die doch etwa bis 1000 v. Chr. zurückreichen, werden mit den
mindestens 1800 Jahre jüngeren althochdeutschen Dichtungen auf eine Stufe gestellt!
Auch durch den ganzen übrigen Rest des Buches zieht sich wie ein roter Faden
die fortwährende Verquickung prähistorischer Funde mit sprachlichen Begriffen.
So heisst es auf S. 79: „Seit etwa 1200 v. Chr. beginnt das Germanenfundgebiet
sich nach allen Seiten auszudehnen." Mit welchem Recht benennt Hahn jene
bronzezeitliche Kulturstufe als germanisch? Aber noch mehr: auch ost- und west-
germanische Funde werden unterschieden! Man bedenke: mehr als 1000 Jahre
vor Christus, während wir sprachlich die beiden Gruppen erst viele Jahrhunderte
nach Christus kennen! Ebenso unsinnig ist es, die sogenannten Gesichtsurnen als
ostgermanisch, die Hausurnen als westgermanisch zu bezeichen. Eine derartige
willkürliche Verwendung sprachgeschichtlicher Termini muss doch ganz falsche
Vorstellungen erwecken. Wo sich der Verfasser auf seine Domäne, das archäo-
logische Gebiet, beschränkt, sind seine Darlegungen zuverlässig; sowie er auf das
geschichtliche und sprachliche Gebiet übergreift, muss Vorsicht gegenüber seinen
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1911. Heft 2. ^4
•_>!() Feist, Samter:
Behauptungen empfohlen werden. Es kann uns nach dem oben Gesagten nicht
überraschen, dass das Buch in einen Panegyrikus des germanischen Wesens und
der germanischen Rasse ausklingt. Diese ist natürlich auch die indogermanische
Rasse, blond und blauäugig sind die Edlen aller Völker indogermanischer Zunge,
langschädlig müssen sie der Theorie zu Liebe auch sein usw., ganz nach Chamberlain,
Woltmann, Penka, Wilser. Das Beste an dem in etwas schwülstiger, prätentiöser
Sprache geschriebenen Buche sind entschieden die Abbildungen, deren Auswahl
als geschickt bezeichnet werden muss. Auch die Ausstattung ist zu loben; freilich
ermüdet das Lesen auf dem spiegelnden Kunstdruckpapier die Augen. Doch das
ist ein Fehler fast aller modernen Illustrationswerke.
Berlin. Sigmund Feist.
Die Anthropologie und die Klassiker. Sechs Vorlesungen, gehalten vor
der Universität Oxford von Arthur J. Evans, Andrew Lang, Gilbert
Murray, F. B. Jevons, J. L. Myres, W. Warde Powler. hrsg. von
R. R. Mar ett. Übersetzt von Johann Hoops. Heidelberg, Carl Winter,
1910. 226 S. 8°. 5 Mk.
Das Komitee für Anthropologie in Oxford, „das vom Beginn seiner Laufbahn
an stetig das Bedürfnis im Auge behalten hat, klassische Gelehrte zu bewegen,
die niedrigere Kultur zu studieren, da sie für die höhere von Bedeutung ist,"
forderte im Jahre 1908 sechs hervorragende Gelehrte, deren Interessen und Ar-
beiten sich in gleicher Weise auf die klassische Philologie wie auf die Anthropo-
logie erstrecken, dazu auf, an der Universität Oxford eine Reihe von Vorträgen
über 'Anthropologie und die Klassiker' zu halten. Der englischen Ausgabe dieser
Vorlesungen ist jetzt eine deutsche Übersetzung gefolgt.
Evans eröffnet den Zyklus mit einem Vortrage 'Die europäische Verbreitung
der Schriftmalerei und ihre Bedeutung für den Ursprung der Schreibschrift.' Von
den Zeichnungen der Höhlenbewohner der spät-paläolithischen Perioden führt er,
unterstützt durch 21 Abbildungen, zu der Schriftmalerei der kretischen Funde. „Die
konventionalisierte Schriftmalerei Kretas, wenn sie uns auch nicht den wirklichen
Ursprung der späteren phönizischen Buchstaben gibt, bietet uns wenigstens die beste
Erklärung der Elemente dar, woraus sie sich entwickelt hat. Und man wird aus
dem bereits Gesagten erkennen, dass das ursprüngliche Feld der Schriftmalerei, aus
dem dieses konventionalisierte kretensische System hervorging, selbst nur ein
Zweig einer weit verbreiteten europäischen Familie der Bilderschrift ist, deren
Urkunden von Lappland bis zu der Strasse von Gibraltar und vom Atlantischen
Ozean bis zu dem Ägäischen Meer verfolgt werden können, und die wieder ihre
Fortsetzung auf der afrikanischen und der asiatischen Seite findet." Andrew
Lang gibt in der zweiten Vorlesung 'Homer und die Anthropologie' eine
Schilderung der homerischen Zustände. Er betont, Homer sei keine reiche Quelle
für den Anthropologen, weil er die Überreste des Barbarischen und Rohen, die
sicher auch zu seiner Zeit existierten, ignoriert aus Rücksicht auf das aristokratische
Publikum, für das die homerischen Gedichte bestimmt sind. — Murray in der
dritten Vorlesung über 'Die Anthropologie in der griechischen epischen Tradition
ausser Homer' hebt hervor, dass bei seinem Thema die entgegengesetzte Schwierig-
keit bestehe wie bei dem vorhergehenden, da hier ein überreiches Material zur
Verfügung stehe. Hauptsächlich handelt er von der göttlichen Kraft der Könige,
Berichte und Bücheranzeigen. 211
die Regen machen und dg]., wobei er Vorstellungen der Naturvölker mit alt-
griechischen Überlieferungen in Parallele stellt. Diese 'Medizin-Könige', wie
Murray sie nennt, werden häufig von ihren Nachfolgern verdrängt und getötet.
Einen Nachklang dieser Tatsache findet M. in der Erzählung Hesiods von dem
Verdrängen des Uranos durch Kronos und des Kronos durch Zeus. Wenn Kronos
statt des Zeus einen Stein verschluckt und später wieder ausspeit, so sieht Murray
die Vorstellung durchschimmern, dass Zeus der Stein ist, — als Analogie stellt
er andere als Gottheiten geltende Steine zusammen. Diese 'Medizinhäuptlinge'
oder Gott-Könige identifiziert M. mit den vorhellenischen Göttern. Wenn Herodot
von den namenlosen Göttern der Pelasger im Gegensatz zu den Olympiern spricht,
so fasst Murray diesen Gegensatz als den zwischen Medizinhäuptlingen und den
homerischen Göttern auf und vermutet, dass dieser Gegensatz einer der Haupt-
unterschiede der hellenischen und vorhellenischen Religion sei. Vorsichtigerweise
schliesst er jedoch mit der Bemerkung: „Ein klareres Beweismaterial wird ohne
Zweifel von einem besser ausgerüsteten Anthropologen beigebracht werden," woran
man bis auf weiteres wohl noch zweifeln darf. — Jevons geht in seinem Vor-
trage 'Die gräco-italische Magie' von australischen und an der Torres-Strasse ge-
übten Zauberriten aus, in denen jemandem durch 'Singen' ein Unheil zugefügt wird,
und zeigt, dass solcher Zauber durch Singen auch Griechen und Römern vertraut
war, ebenso auch das in Australien und an der Torres-Strasse im Zauber übliche
Zeigen mit einem Stocke, — Jevons führt hierauf den Stab zurück, mit dem
Kirke, Hermes, Athene zaubern. Weiter weist er auf die Verwendung von Bildern
und Namen im Zauber hin, die man statt des betreffenden Menschen selbst ver-
wundet, festnagelt usw., - ein Brauch, der sich ebenso in Amerika, Australien,
Afrika, wie bei den Indern, Griechen und Römern findet. Ganz dieselben magischen
Riten, durch die man Schaden über eine Person bringt, dienen auch zum Liebes-
und Heilzauber, — auch hier herrscht völlige Übereinstimmung zwischen den
Eingeborenen an der Torres-Strasse und den Griechen und Römern. Ebenso wie
erstere oder Indianer oder Australneger ihre Magie ausführen, ohne einen Gott zu
Hilfe zu rufen, so konnte dies auch der Grieche und Römer. Zwei Drittel der
attischen Verwünschungstafeln und ebenso auch zahlreiche der römischen Bleitafeln
dieser Art enthalten keine Bezugnahme auf eine Gottheit; entgegen der Auffassung,
dass man auch da, wo keine Götter genannt werden, voraussetzen müsse, irgend-
welche Götter würden gebeten, die bösen Wünsche des Schreibers zu erfüllen,
nimmt Jevons an, dass die Verwünschung ursprünglich rein magisch war und dass
erst später dem Zauber eine Anrufung der Götter hinzugefügt wurde, bis schliess-
lich in den attischen Täfelchen der Zauber fast verschwindet und die Anrufung
der Gottheit das Wesentliche wird, während im römischen Reiche in den späteren
Inschriften das magische Element sich steigert, bis es das religiöse gänzlich verdrängt:
alle Arten von Gottheiten werden angerufen, aber nur, um von dem die Magie Übenden
Aufträge zu erhalten, zu deren Ausführung sie gezwungen werden sollen.
Myres behandelt indem fünften Vortrag nach einer Einleitung über die griechischen
anthropologischen Theorien der vorangehenden Zeit die anthropologischen An-
schauungen Herodots. Den Schluss des Buchs bildet Fowlers Vorlesung über
die 'Lustration'. F. bemerkt, es gebe im Lateinischen Ausdrücke für Reinigung,
die älter sind als lustrare und lustratio und einer 'praeanimistischen Periode' an-
gehören, nämlich februum, februare, februatio. Februum ist ein körperlicher
Gegenstand mit einer magisch reinigenden Kraft, eine Art Zaubermittel derselben
Kategorie wie die bulla der Kinder, der apex des Flamen, — ein Überbleibsel aus
einer älteren Periode religiösen Denkens, wo magische Vorgänge die Regel und
1!
-2\2 Samter, Heusler:
religiöse Vorgänge die Ausnahme bildeten, aus einem Zeitalter, wo man von einer
körperlichen Verunreinigung, z. B. durch Leichen oder durch Blut, mit magischen
Mitteln gereinigt werden konnte. Lustratio dagegen gehört einem Zeitalter an, wo
die zu vertreibende Sache in dem Einlluss feindseliger Geister besteht. Das Wort
bezeichnet eine feierliche Prozession, wie sie ursprünglich der italische Bauer voll-
führte, um die bösen Geister, die in der Waldung rings um ihn wohnten, zu hindern,
die Grenzen seiner Lichtung zu überschreiten.
Wie diese Inhaltsübersicht zeigt, enthält das Buch mancherlei Interessantes.
Nach dem Titel freilich, der eine allgemeinere Einführung in die Bedeutung
der Anthropologie für die Erforschung des griechisch-römischen Altertums zu ver-
sprechen schien, und nach den Namen der Verfasser hatte ich grössere Erwartungen
auf das Buch gesetzt; es steht an Bedeutung sehr weit hinter manch anderem
englischen Buche aus diesem Gebiete zurück, das einer Übersetzung ins Deutsche
nicht teilhaftig geworden ist (z. B. Andrew Längs 'Custom and myth' und 'Myth,
ritual and religion' und besonders Prazers Schriften). Recht störend ist vielfach
das mangelhafte Deutsch der Übersetzung.
Berlin. Ernst Samter.
Sophus Bugge, Der Runenstein von Rök in Östergötland, Schweden.
Nach dem Tode des Verfassers hsg. von der k. Akademie der schönen
Wissenschaften, Geschichte und Altertumskunde durch Magnus Olsen,
unter Mitwirkung und mit Beiträgen von Axel Olrik und Erik Brate.
Stockholm, Ivar Hseggströms Boktryckeri A. B., 1910. VIII u. 314 S.
8° nebst 4 Tafeln.
Drei Anläufe hat Sophus Bugge genommen, um der grössten der nordischen
Runeninschriften Herr zu werden. Der erste Versuch war einer der glänzendsten
Lntdeckerzüge, die die germanische Altertumswissenschaft erlebt hat. Den dritten
legt uns hier der verständnisvolle Schüler und Mitarbeiter vor. Das Bild Bugges,
des vielseitigen Meisters, stellt sich dem Verehrer in diesem Werke einseitig be-
leuchtet dar: Bugge ist hier, so entschieden wie in keinem andern seiner umfäng-
licheren Werke, der Rätselrater. Wo die Runen nur noch sinnlose Lautreihen
darbieten oder wo Geheimschriften verschiedener Gattung hundert Möglichkeiten
eröffnen, da wendet und dreht er das Gegebene und rastet nicht, die Lösung muss
sich linden, koste es, was es wolle. Und auf der schmalen Basis dieser paar
Dutzend Zeilen führt er dann eine Pagode auf, immer höher; mag es merkbar
wackeln, immer noch einmal wird ein Stockwerk aufgesetzt. Dieser Baumeister
Solness hat bis zuletzt den Schwindel nicht gelernt. Eine andere Frage ist die
nach der Haltbarkeit des Turmes.
Unser Buch bringt einerseits neue Lesungen der verzweifelt schwierigen
Stellen. Ich hebe folgendes hervor. Wo man bisher zu lesen pflegte: ynd göänar
hosli ('unter dem Haselgebüsch der Erde' oder ähnlich), da verficht jetzt B. die
Worte: ynd kvänar hüss lini, und die sollen heissen: 'unter dem Leinen der
Gattin des Hauses', nämlich wurde ein Sohn geboren. Dem widersetzt sich:
1. die Wortstellung: der abhängige Gen. hüss als Keil getrieben zwischen die eng
zusammengehörigen kvänar und lini (das, worauf sich S. 131 beruft, ist kein Gegen-
stück): 2. kvän = uxor, kona = femina, daher ist eine Verbindung hüskona mög-
lich, eine Verbindung hüss kvän nicht; kvän hat neben sich den genitivus mariti:
Berichte und Bücheranzeigen. 213
3. das Leinen der Braut, woran B. denkt, war ein Kopfputz; 'unter' dem bräut-
lichen Leinen kann aus doppeltem Grunde kein Sohn zur Welt kommen! An das
Leintuch des Ehebettes zu denken, hindern sachliche und sprachliche Gründe. -
Eine sehr entfernte Möglichkeit oder nicht einmal das (Brate S. 296f.) ist der Gott
Thor, den B. als Vorfahren konstruiert, und es ist innigst zu wünschen, dass
nicht etwa die künftigen Mythologen, unter Berufung auf den Rökstein, mit einem
Thor als Stammvater schwedischer Gemeinfreien aufwarten. Auch von der Wieder-
geburt Theoderichs d. Gr. in dem Gauten WamoO' gilt im günstigsten Falle, dass
sie ebensowenig widerlegt wie bewiesen werden kann.
Zweitens gibt es die sprachlich klaren Stellen, deren Inhalt einer Aufhellung
bedürfte. Hier erwähne ich den langen Auslauf zu den seltsamen zwanzig Königen
auf Seeland. B. wagt die kühne Folgerung: das nom. pr. RäO'-ulf meint den
Krieger, der die neben ihm Genannten beherrscht, den Oberkönig. Diese lose
Vermutung wird das Schwungbrett zu einem Flug in die Wolken hinauf. B. ist
alsbald bei Jordanes und seinem König Rodulf, bei den Schlachten der Lango-
barden mit den Herulern, der Hadebarden mit den Dänen. Und hier verliert nun
der kühne Flieger die alte tragbare Erde vollkommen aus dem Auge. Ein- über
das anderemal heisst es, die Röker Inschrift erzähle davon, wie der norwegische
Oberkönig RaOulf auszog und auf Seeland fiel. Aber nicht nur, dass die Inschrift
den RaO'ulf als blossen Namen kennt: ihre Rechnerei schliesst es kategorisch aus,
dass RaiVulf an diesem Zuge teilnahm; denn dann wären es nicht 20 Könige,
sondern "21! Und weiter wird dann jeder einräumen: zwischen einem Kriege,
worin ein Hröpulf fiel, und einem Kriege, den ein RäcVulf nicht mitmachte,
ist keine sehr schlagende Ähnlichkeit.
Dass Bugge mit diesem 'Rök III' die früheren Erkenntnisse um sichere ver-
mehrt habe, kann man nicht behaupten. Schon der von Brate beigesteuerte An-
hang bringt eine lange Reihe von Zweifeln vor. Ein eigentümliches Verfahren,
dass so im Rahmen eines Buches zuerst der tote Autor, dann der lebende Gegner
das Wort ergreift! Der Negation Brätes kann ich meistens zustimmen. Seine
eignen Aufstellungen scheinen mir ebenso gewagt und oft künstlich, ausgenommen
die Befürwortung von Birnar statt des so unglaubhaften Airnar S. 271 f. Man lese
den zusammenhängenden Text der Inschrift S. 301 f.: lässt er nicht alle die logischen
Unverdaulichkeiten bestehen, die dieser gautische Runensonderling Bjari der Nach-
welt vermacht hat?
Zwischen den beiden spannebreiten Felsgräten, die wir an Bugges und Brätes
Hand ängstlich überklettern, liegt ein kleiner grüner Wiesengrund: das sind die
fünf Seiten Olriks über die Könige auf Seeland. Mit wohltuendem Gefühl für
das, was ein solches Denkmal überhaupt hergeben kann, verzichtet Olrik darauf,
unsichere x mit denkbaren y und möglichen z zu potenzieren, und begnügt sich,
mit leiser Hand den allgemeinen Horizont zu umreissen, der zu dieser Namen-
gebung hinzuzudenken ist. Es ist nicht Heldensage, sondern Wikingstil, 8./!». Jahr-
hundert, nicht Völkerwanderungszeit; es ist halbe Geschichte, aber zu fiktiven
Formeln ausgestaltet; viel Genaueres lässt sich nicht sagen. Möchte von dem
hier betätigten Wirklichkeitssinne und der Zurückhaltung schon in der
Stellung der Fragen recht viel auf die Spezialisten der Runenforschung über-
gehen !
Noch ein paar Worte zu der Dietrichstrophe! Ihre erste Hälfte lautet:
Raip piaurikr, stillir ilutna,
hinn purmupi, strantu Hraipmarar.
OJ4 Heusler, Beucke:
Bugge will jetzt das Beiwort in V. 2 nicht mehr als 'der Wagemutige' fassen,
sondern als 'der wie Thor Zornige'. Aber das nachgestellte schwache Adjektiv mit
dem Artikel weist doch auf ein ruhendes epitheton ornans, und hierzu eignet sich
der gelegentliche Jähzorn nicht — gleichviel ob man in V. 1. 4 die Anspielung auf
eine bestimmte Sagen Situation erblickt. B. allerdings neigt dazu, das raip 'ritt' in
ein rep 'herrschte' zu emendieren. Aber kann man in einer altgermanischen Mund-
art sagen, ein König habe über einen 'Strand' geherrscht? Der 'Strand' ist ein
(sandiger) Küstengürtel; unter Umständen, wie in einigen isländischen Ortsnamen,
wird das Wort auf Küstenstriche von massiger Tiefe ausgedehnt. Aber dass man
die am Meere gelegenen Lande eines grossen Königs 'strond' nennen konnte, be-
zweifle ich. (Die metaphorische Verwendung bei jungen Skalden, strond = regio,
terra, kommt hier nicht in Betracht, da ja strantu mit dem Genitiv des Meeres
verbunden, also in seiner echten Bedeutung verstanden ist.) Es bleibt daher bei
dem überlieferten 'er ritt ... auf dem Strande'. Dann aber darf man fragen, ob
nicht eine bestimmte epische Sachlage vorschwebt. Der uns aus den spätma.
Quellen bekannte Dietrichskreis böte eine solche Lage dar: die Verfolgung Wi-
teges an den Meeressaum (Rabenschlacht 921— 9G8, vgl. Thidr. s. c. 336): es ist
einer der heroischen Augenblicke des sagenhaften Dietrich, ein Höhepunkt der
einen der Dietrichsfabeln, der Sage von den Etzelsöhnen. Da man den Kern
dieser Sage als uralt nehmen darf, braucht es nicht zu befremden, wenn das ein-
zelne Motiv für das 9. Jahrhundert bezeugt wird. Es ergibt sich dann auch eine
logische Beziehung zwischen den beiden Halbstrophen: der Ausgangspunkt für den
Dichter war die zweite Hälfte, das Aachener Reiterstandbild. Dieser gegossene
Dietrich zu Pferd erinnerte den Sagenkundigen an den Augenblick, da der lebende
Dietrich einen dichtunggefeierten Ritt vollführte. Mag sein, dass im Bewusstsein
des Dichters ein Gegensatz mitklang zwischen dem Einst und dem Jetzt: der wilde
Verfolgungsritt und das ruhige Sitzen auf dem Gotenrosse, 'den Schild im Gehäng-
riemen'. Zugleich braucht man dann für die Angabe in V. 1—4 keine geschicht-
lichen Kenntnisse von Theoderich und seinem Reiche am Mittelmeer anzustrengen,
Kenntnisse, die nur aus gelehrter Vermittlung fliessen könnten. Es würde sich
alles aus der schriftlosen Sage erklären. Bugge betont freilich zu den Namen
Hraipmarr und Maringar (S. 45. 55), unsere Inschrift bewahre historische Er-
innerungen an Theoderich, im Gegensatz zu den Sagenzeugnissen des 12./13. Jahr-
hunderts. Allein die beiden Namen sind ja den Geschichtswerken des Mittelalters
unbekannt, sie wurden gewiss nur in der Sagendichtung vererbt. Der Unterschied
zwischen dem Röksteine und den jungen Dietrichsquellen beruht also nicht darauf,
dass dort geschichtliche, hier heldensagliche Tradition fortlebt, sondern darauf,
dass dort noch ältere Sagennamen zutage treten — dieselben wie in der ungefähr
gleichzeitigen altenglischen Sagenpoesie. Schucks Bemerkung, für den Ritzer unserer
Inschrift sei piaurikr der sagenhafte Dietrich gewesen (S. 55), besteht zu Recht.
13 e r 1 i n. Andreas Heusler.
Landeskunde der Provinz Brandenburg, unter Mitwirkung hervorragender
Fachleute herausgegeben von Ernst Friedel und Robert Mielke.
Band 2: Die Geschichte von Gustav Albrecht, Theodor Meinerich,
.1. G. Gebauer, Friedrich Holtze, Spatz, Carl Brinkmann, Max Fiebel-
korn, Conrad Matschoss und August Foerster. Berlin, Dietrich Reimer
(Ernst Vohsen) 1910. XII, 496 S., mit 71 Abbildungen im Text, zwei
Tabellen und fünf Karten. 4 Mk., geb. 5 Mk.
Berichte und Bücheranzcigen. 215
Dem ersten Bande der „Landeskunde der Provinz Brandenburg" ist binnen
Jahresfrist der zweite gefolgt. Er umfasst die Geschichte und behandelt in seinen
Unterabteilungen die Landesentwicklung, die Bevölkerung, die Religions-, Rechts-,
Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte. Eine reichliche Beigabe von Abbildungen
schmückt auch diesen zweiten Band. Seinem kurzen Abriss der Landesentwicklung
der Mark gibt Dr. Gustav Albrecht zwei farbige Karten mit, von denen die erste
die allmähliche Gebietserweiterung unter den Askaniern, die andere die Er-
werbungen der Hohenzollernschen Herrscher veranschaulicht. Gleichfalls zwei
farbige Karten (über 'Wachstum' und 'Dichtigkeit') erläutern neben zahlreichen
Tabellen den Text des zweiten Abschnittes, in welchem Dr. Theodor Meinerich
die Variation der Bevölkerung nach Dichtigkeit und Zunahme, nach Geschlecht,
Alter und Familienstand, nach Herkunft, Bekenntnis, Sprache und Beruf bespricht.
Hier sehen wir überall den überwiegenden Einüuss hervortreten, den die Ent-
wicklung Berlins in den letzten 100 Jahren auf alle Bevölkerungsverhältnisse der
Mark ausgeübt hat. Die Religionsgescbichte von Dr. J. Gebauer weist zunächst
die Spuren vorwendischer und wendischer Gottesverehrung in der Mark nach,
führt den Leser weiter zu den Zeiten germanischer Kolonisation und Mission,
insbesondere zu den Kulturtaten der Zisterzienser, schildert die Ausbildung der
kirchlichen Seelsorge und verweilt bei dem Heiligendienste und den geistlichen
Brüderschaften. Ausführlicher wird die Einführung der Reformation und die
Organisation der lutherischen Kirche besprochen. Ein kurzer Überblick des kirch-
lichen Lebens der letzten Jahrhunderte beschliesst den Abschnitt. Das mannig-
faltige Gebiet der Rechtsgeschichte behandelt Kammergerichtsrat Dr. Friedrich
Holtze. Von den Ursprüngen des märkischen Rechts ausgehend grenzt er den
Umfang landesherrlicher, städtischer, ständischer und patrimonialer Gerichtsbarkeit
gegeneinander ab, verzeichnet die Versuche einer Kodifizierung des gesamten
Rechts und schildert die Bestrebungen nach Vereinfachung und Verallgemeinerung
der Gerichtsverfassung und im weiteren Verfolg das allmähliche Zurücktreten des
märkischen Rechtes hinter dem allgemeinen Landrechte. Mit der Rechtsgeschichte
wird uns zugleich ein gutes Stück Kulturgeschichte gegeben. Das gilt nicht
minder von dem nächsten Teile, der 'Verwaltungsgeschichte' von Dr. Spatz. Der
Gegensatz zwischen der Entwicklung der Städte und der dörflichen Gemeinden
ist es, der im Vordergrunde steht; dort Aufsteigen zu hoher Blüte und Selb-
ständigkeit, gleichzeitig hier Herabsinken des Bauern zu niedriger wirtschaftlicher
und rechtlicher Stellung. Es folgt die Periode der erstarkenden Fürstenmacht,
die die Städte zu Ohnmacht und Abhängigkeit verurteilt, bis das 19. Jahrhundert
den städtischen und schliesslich auch den ländlichen Gemeinwesen die Selbst-
verwaltung bringt. Die ersten drei Abschnitte der nun folgenden Wirtschafts-
geschichte von Dr. Carl Brinkmann beschäftigen sich mit der landwirtschaftlichen
Bevölkerung, mit der Geschichte des Acker-, Garten- und Weinbaus, der Vieh-
zucht, des Forst-, Jagd- und Fischereiwesens, ferner mit der Entwicklung des
Handels, des Post-, Schiffs- und Eisenbahnverkehrs und des Gewerbes in der
Mark, insbesondere mit dem Aufschwünge des Gewerbfleisses in Berlin. Den
Schluss des Bandes bilden einige kleinere Aufsätze über die Hauptindustrien der
Provinz. Rüdersdorfer Kalk, Zehdenicker Ziegeln, Veltener Öfen, Cottbusser und
Forster Tuche und manche andere Spezialität der Mark finden hier ihre Würdigung.
Eine Karte zeigt das Vorkommen der Braunkohle und die Hauptzentren der Ziegel-
industrie.
Zehlendorf. Karl Beucke.
216 Andree-Eysn, Hirsch:
Ernst von Frisch, Kulturgeschichtliche Bilder vom Abersee. Ein Beitrag
zur Salzburgischen Landeskunde. Mit neun Abbildungen und einer
Karte. Wien und Leipzig, Alfred Holder, 1910. VIII, 113 S. 8°. 3,40 Mk.
Der Aber- oder St. Wolfgangsee liegt in herrlicher Alpenlandschaft an der
oberösterreichisch-salzburgischen Grenze. Es ist ein historisch stiller Winkel,
dessen lokale Geschichte in den letzten Jahrhunderten zum grossen Teil durch
Grenzstreitigkeiten ausgefüllt wird. Sie erscheinen uns aber kulturgeschichtlich
von Belang, da der Verfasser es versteht, uns durch sie ein treffliches Bild ver-
gangener Zeiten vor Augen zu führen. In eingehender Weise berichtet er in
diesem kleinen Buche über die damaligen Wirtschaftsverhältnisse. Zölle, Gerichts-
und Forstwesen, Jagd und Schiffahrt und namentlich werden die kirchlichen Ver-
hältnisse und was damit zusammenhängt, erörtert.
Reich ist die Literatur angezogen, nur flüchtig die vorgeschichtlichen Be-
ziehungen. Vielleicht hätten die Urkunden, die so mannigfachen Stoir geboten,
auch für die Volkskunde Ausbeute geliefert.
Wer aber seine Sommerfrische an den Ufern des Wolfgangsees verbringen
oder wie Ott Heinrich, Pfaltzgraf by Rhein, zu dem Aberseer Gotteshaus pilgern
will, und wer mit der hoch über dem See gelegenen Bahn von Norden her den
See erreicht und tief unten das liebliche Brunnwinkl erblickt, wird Interesse für
die Vergangenheit dieser Stätte empfinden, und dem sei dies kleine Buch wärmstens
empfohlen.
München. Marie Andree-Evsn.
Theodor Birt, Aus der Provence. Reiseskizzen. (Deutsche Bücherei 112/113.)
Berlin, Otto Koobs. o. J. 166 S. Kl. 8°. 1 Mk.
Man könnte das Büchlein, die Frucht eines fünfwöchentlichen Aufenthaltes
in der Provence, als harmlose Reisebeschreibung passieren lassen, schlüge es nicht
zuweilen einen wissenschaftlichen Ton an, der den Leser Wertvolles erwarten
lässt. Bald werden die 'Jahreshefte des österreichischen Instituts", bald Mommsens
'Römische Geschichte', bald ein Werk über die Verwendung des Feuers in antiken
Seeschlachten zitiert. Historische Reminiszenzen machen sich überall in auf-
dringlicher Weise breit (S. 38 ff., 47 f., 58 ff., 117 ff. usw.). Sie würden weniger
stören, stünden nicht dazwischen Bemerkungen, wie sie der Durchschnittsreisende
zwar macht, bei einiger Bescheidenheit auch in sein Tagebuch notiert, aber doch
niemals veröffentlicht. Triviale Ausrufe („Wie schön ist es doch, in fremden
Gassen müssig zu schlendern!" S. 18, „Römertum, Römertum. ich hatte es ganz
vergessen!" S. 24) wechseln ab mit humoristischen Gedichten etwa folgender Art:
„Wer anhebt die Provence zu preisen, der darf nicht schweigen von den Speisen"
(S. 134) oder „Auf Bergen hoch wohnt die Bellevue, Sie aufzusuchen kostet Müh"
(S. 18).
Für die Volkskunde fällt bei dieser Art der Reisebeschreibung natürlich nicht
viel ab. In Lyon hat Birt das Interessanteste leider nicht gesehen: das Museum
für Erzeugnisse der Seidenindustrie, das für den Erforscher des Volksgeschmacks
und der Volkstrachten eine unerschöpfliche Fundgrube ist. Über den S. 54 er-
wähnten Farandole-Tanz auf der Brücke in Avignon hätte man gern näheres
gehört. Auch von Bräuchen bei der Weinernte hat B. wenig gesehen. Dabei
Berichte und Bücheranzeigen. — Notizen. 217
kann selbst der schnell Reisende hier leicht Beobachtungen machen: denn der
provenzalische Bauer ist nicht verschlossen und kennt vor allem nicht die Scheu
vor dem Deutschen, die dem nordfranzösischen eigen ist. Ganz anschaulich ge-
schildert ist ein Stiergefecht in Nimes (S. 72 f.). Das Buch schliesst mit den —
natürlich scherzhaft gemeinten — , aber doch etwas unvorsichtigen Worten:
_,Dem Nebenmenschen ist Unheil widerfahren, der nun gar diese Erinnerungen
lesen soll."
Berlin. Julian Hirsch.
Notizen.
Die Evangelien vanden Spinrocke, metter glosen bescreven ter eercn vanden
vrouwen. Antwerpen, M. Hillen van Hoochstraten e. 1520. (Neudruck von G. J. Boeken-
oogen). 's-Graveuhage, M. Nijhoff. [1910.] 20 Bl. + 14 S. 4Ü. 2,75 11. — Die in Nord-
frankreich oder Flandern entstandenen 'Evangiles des quenouilles', die zuerst um 1480 zu
Brügge und zuletzt 1855 in Paris im Druck erschienen, liefern uns ein trotz der satirischen
Absicht des Vf. recht wertvolles Verzeichnis abergläubischer Meinungen des 15. Jahrh. und
sind, wie eine bei Wynkyn de Worde erschienene englische, eine 1537 u. ö. gedruckte
deutsche (vgl. oben 13, 457 f.) und die hier vortrefflich reproduzierte niederländische Über-
setzung erweisen, auch ausserhalb des französischen Sprachgebietes fleissig gelesen worden.
In seinem Nachworte zeigt Boekenoogen, dass die um 1520 gedruckte Antwerpener Auf-
gabe des niederländischen Textes auf einem verlorenen älteren Drucke beruht, dass aber
die drei späteren Drucke (zuletzt Amsterdam 1GG2) aus ihr geflossen sind und nur ein
paar Satiren auf die Frauen hinzufügen. Abgesehen von einigen Kürzungen und Miss-
verständnissen schliesst der nid. Übersetzer sich genau an das französische Original an.
Ob auch das jedem der sechs Abschnitte voraufgehende charakteristische Bild der sechs
Frauen, von denen vier spinnen und die fünfte der sechsten ihr Evangelium diktiert, schon
auf ein französisches Vorbild zurückgeht, wird leider nicht gesagt.
V. Junk, Tannhäuser in Sage und Dichtung. München, C. 11. Beck 11)11. 51 S. Kl. 8°.
1 Mk. - - Der Vf. weist im Anfang der kleinen Schrift auf die vielverbreiteten Sagen von
der 'Bergentrückung' hin und bringt, wie andere vor ihm, die Tannhäusersage damit in
Verbindung. Er scheint sich aber selbst in einer Art 'Bergentrückung' befunden zu haben,
als er dies Büchlein schrieb und herausgab, denn die gesamte Tannhäuserliteratur der
letzten Jahrzehute ist ihm unbekannt geblieben. Obendrein kann dieser Quidam (übrigens
ein österreichischer Universitätsdozent) nicht einmal sagen, er sei weit davon entfernt, dass
er von Toten was gelernt: beruft er sich doch mit Vorliebe auf den alten Grässe und
ähnliche längst verstorbene oder niemals lebendig gewesene Leute!
G. L. Kittredge, Notes on witchcraft (Proceedings of the American Antiquarian
Society vol. 18.) Worcester, Mass. 1907. Gl S. — Auch Amerika hat Hexenverfolgungen
gehabt; 1692 — 1<">93 wurden zu Salem in Massachusetts 22 Personen unter diesem Ver-
dachte getötet. K. zeigt, dass diese Bewegung keineswegs aus der puritanischen Welt-
anschauung floss, sondern aus den von England mitgebrachten Ansichten über Magie zu
erklären ist, wo viele angesehene Gelehrte des 17. Jahrhunderts den Hexenwahn verteidigten
und noch 1712 eine Hexe zum Tode verurteilt wurde.
C. A. Kortums Lebensgeschichte, von ihm selbst erzählt, hrsg. von K. Deicke.
Dortmund, F. W. Ruhfus 1910. VIII, 82 S. Kl. 8°. 1,50 Mk. — Seiner 1893 erschienenen
Darstellung des Lebens und der Schriften des Jobsiadendichters Carl Arnold Kortum
hat Deicke kürzlich als Ergänzung diese Selbstbiographie folgen lassen, die er durch einen
Zufall entdeckt hat. Das der Hauptsache nach vollständig abgedruckte Schriftchen berührt
uns angenehm durch den schlichten Ton der Erzählung: es beginnt mit einigen Nach-
richten von dem alten Geschlechte der Kortume und führt bis zur Geburt von Kortunis
ersten Enkelkindern. Aus dem Inhalt interessieren vor allem die Mitteilungen aus der
Schulzeit und Studentenzeit, die einen Einblick in den Betrieb an den höheren Lein-
2 1 8 Notizen.
anstalten und in der medizinischen Fakultät sowie in die Zeremonien der Doktorpromotion
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gestatten. Für die Volkskunde ist der Ertrag
des Rüchleins, trotz Kortums vielseitigen Interessen, gering. Hierher gehört etwa, dass er
aus eigenem Trieb das Jüdisch-deutsche sehr gut lesen lernte. Wesentlicher ist seine
Stellung zur Alchemie, die er in einem besonderen, 360 Seiten starken Buch verteidigt
hai (Duisburg 1789), und eine ganz eigentlich volkskundliche Schrift ist seine 1804 ver-
t'asste 'Beschreibung einer neuentdeckten alten germanischen Grabstätte nebst Erklärung
der darin gefundenen Altertümer: zugleich etwas zur Charakteristik alter römischer und
germanischer Leichengebräuche und Gräber.' (R. Böhme.)
li. Kühn au, Schlesische Sagen 2: Eiben-, Dämonen- und Teufelssageu. Leipzig,
I ibner 1911. XXXII, 745 S. 10 Mk. (Schlesiens volkstümliche Überlieferungen hsg. von
Th. Siebs 1 -.. — Kühnaus sehr dankenswerte Sammlung und Sichtung des schlesischen
Sagenmaterials aus gedruckter und mündlicher Überlieferung lässt den Seelensagen des
ersten Bandes (oben 20, 330) rasch die Traditionen über die Naturgeister folgen. Aus-
führlich werden uns in sachlicher, z. T. auch örtlicher Anordnung alle erreichbaren
Varianten vorgeführt, die über die Eiben d. h. Haus-, Erd-, Wald- und Wassergeister, die
Dämonen d. h. Schlangen, Berggeister, Winde, Biesen, Tod und andere halbgöttliche
Wesen, endlich über den Teufel v*ien Feind der Menschen, den vom Christentum über-
wundenen, den betrogenen, den Helfer der Unterdrückten) handeln, im ganzen 691
Nummern. Die allermeisten Stoffe sind durch ganz Deutschland verbreitet; polnischen
Charakter tragen viele Sagen vom Wassermaun und von dämonischen Wesen wie Zywie,
Dziewanna, Zmora; auf Böhmen weist wohl das Motiv des Speisens vom eisernen Tisch
zurück: in katholischen Kreisen ist die Erzählung von Luthers Abstammung entstanden;
ziemlich modern klingt es, wenn die Erfindung des schlesischen Streuselkuchens den
Zwergen zugeschrieben wird oder ein Wassergeist einen Wandrer um Feuer für seine
Zigarre bittet. Neu ist die Bezeichnung des heulenden Windes als Melusine, während in
einer wirklichen Melusinensage (S. 228) der Name der Heldin vergessen ist. Bei der Ge-
schichte vom Herrn von Rechenberg (S. 669) hätte der Herausgeber aus den von ihm
zitierten, aber nicht nachgeschlagenen Sprichwörtern Agricolas das Datum 1520 gewinnen
können. Ein Übelstand, der hoffentlich später durch ein ausführliches Sachregister aus-
geglichen wird, besteht darin, dass derselbe Stoff, z. B. Kind und Schlange (Grimm,
KHM. 105) oder Nix und Bär (R. Köhler, Kl. Schriften 1, 72), an fünf und mehr Stellen
im Bande verstreut auftritt. Sollte die Sammlung auch auf Märchen (Gevatter Tod,
Schmied von Jüterbog, die vergessene Braut) und Balladen (Wassermanns Braut, die vom
Schmied beschlagene Pfaffenköchin) ausgedehnt werden, was ich nicht ganz konsequent
finde, so hätte auch die Literatur darüber herangezogen werden sollen; im Liederhort
von Erk-Böhme Nr. 1 und 219 stehen noch andere schlesische Fassungen dieser Balladen
verzeichnet. Doch gegenüber der Reichhaltigkeit und Zuverlässigkeit des Ganzen fallen
solche kleine Ausstellungen nicht ins Gewicht.
Fr. Ranke, Der Erlöser in der Wiege, ein Beitrag zur deutschen Volkssagen-
forschuDi;. München, C. H. Beck 1911. 3 Bl., 78 S. 2,80 Mk. — Viele Geistersagen
schliessen mit der Klage der nicht erlösten Jungfrau, nun müsse sie warten, bis aus einem
künftigen Baume eine Wiege gezimmert und der darin ruhende Knabe zum Priester
geweiht sei. Dies Motiv wollte schon Weinhold (oben 1, 2. 4, 453) im Gegensatze zu
mythologischen Erklärungen aus der in der Kreuzholzlegende gegebenen Weissagung von
Adams Erlösung aus der Hölle ableiten. Jetzt erbringt R. den Beweis für die Richtigkeit
dieser Ansicht, indem er ausführlich die Legende mit der Sage vergleicht und als Zwischen-
stufe .ine bereits im 13. Jahrh. vorhandene Erzählung von einer im Fegfeuer über die gleiche
Aussicht Jauchzeoden Seele anführt. Zugleich mahnt die umsichtig und klar geführte
Untersuchung zur Vorsicht gegenüber dem oft gerühmten hohen Alter unserer Volkssagen:
sie zeigt, dass sich bisweilen der ursprüngliche Sinn eines Motivs völlig umkehren kann,
und lehrt von neuem, dass der 'Deutung' einer Sage die Erforschung ihrer Entwicklung
voraut'i,rr!i>>n muss.
Beruhard Kahle f. — Brunner: Protokolle. 219
Bernhard Kahle f.
Am 9. Dezember 1!>1U starb in Heidelberg nach kurzer Krankheit unser Mitglied, der
ao. Professor an der dortigen Universität Dr. Beruhard Kahle. Er war in Berlin am
25. August 1861 geboren und hatte auch dort seine Studien abgeschlossen. Sie bewegten
sich von Anfang an vornehmlich auf dem Gebiete der nordischen Sprachen und Literaturen,
weshalb er denn auch einen Sommer auf Island zubrachte. Er hat diesen Aufenthalt in
einer besonderen Schrift geschildert, hat in unserer Zeitschrift auch über Reisen nach den
nördlichen Ländern im 17. und angehenden 18. Jahrhundert und über verschiedene Sitten
des Nordens gehandelt (vgl. oben 20, 467). Denn nach und nach hatte er auch das Gebiet
der Volkskunde betreten, wovon neben unserer Zeitschrift auch die Hessischen Blätter für
Volkskunde und die Arbeiten Zeugnis ablegen, die er dem badischen Volkstum widmete
und die dazu führten, dass ihm als einzigem Universitätsprofessor in Deutschland ein
Lehrauftrag für Volkskunde erteilt wurde. Der Verband volkskundlicher Vereine hatte
ihn betraut, an der Sammlung der Zaubersprüche und Segen mitzuwirken. Allzufrüh ist
seinem Wirken ein Ende gesetzt worden.
nv
Berlin. Max Roediger.
Aus den
Sitznngs- Protokollen des Vereins für Volkskunde.
Freitag, den 20. Januar 1911. Der Vorsitzende, Hr. Geheirnrat Roediger,
begrüsste die zur Feier des 20jährigen Bestehens des Vereins Versammelten und
hielt folgende Ansprache, die wir im Wortlaut wiedergeben:
„Wir treten heut an ungewohntem Orte zusammen. Äussere Gründe sind
daran schuld; aber ich bedaure, dass nicht wie sonst das Bild des Mannes auf
uns herabblickt, der der Begründer unseres Vereins und sein Patron ist, zu dem
wir in Ehrfurcht und Dankbarkeit aufschauen, Karl "Weinhold. Freilich, als am
2G. Januar 1901 das zehnjährige Bestehen des Vereins gefeiert wurde, war ihm
auch nicht vergönnt, dieses Fest zu leiten, und musste ich den Erkrankten ver-
treten. Er hat uns dann nicht mehr lange angehört: am 15. August desselben
Jahres verschied er in Nauheim. In ihm war der Stifter des ersten volkskund-
lichen Vereins in Deutschland dahingegangen, und man darf sagen: zugleich der
Begründer der wissenschaftlichen A'olkskunde, der ihren Begriff und Umfang zuerst
fest abgegrenzt und die ihr nötige Methode der Forschung klar bestimmt hat.
Auch die Männer, die mit ihm den ersten Vorstand des Vereins bildeten, sind
bis auf einen uns entrissen. Zuerst schied Wilhelm Schwartz, dann der jüngste
unter ihnen, von dem der Gedanke der Vereinsgründung ausgegangen war, Ulrich
Jahn, darauf Virchow, Alexander Meyer Cohn, Meitzen. Erhalten geblieben ist
dem Vorstand einzig Dr. Georg Minden, vom Ausschuss die Herren Friedel und
Erich Schmidt, ersterer der alljährlich einstimmig wiedergewählte Obmann des
Ausschusses. Grösser ist erfreulicherweise die Zahl der uns gebliebenen Urmit-
glieder, und ein paar uns werte Namen zeigt unsere Liste in der zweiten Generation:
Bartels, Treichel.
Der Verein konstituierte sich am 23. Januar 18'Jl in der Aula des Königlichen
"Wilhelmsgymnasiums mit 143 Mitgliedern, die nach und nach auf ungefähr 20O
persönliche und korporative anstiegen; eine Zahl, um die der Mitgliederbestand
9-JO Brunner:
mit geringen Schwankungen sich seither bewegt, die er jetzt um etwa ein Dutzend
überschritten hat. Den ersten Vortrag hielt August Meitzen, die ersten Vorlagen
erläuterten die Herren Jahn und Friede!. Wir sind dieser Disposition der Sitzungen
treu geblieben: A'orträge, grössere und kleinere Mitteilungen, Erklärung von Vor-
lagen haben wir in allen Sitzungen zu bieten gesucht, ein paarmal wurden auch
Museen - das märkische und die Königl. Sammlung für Volkskunde — besichtigt.
Die Leiter dieser Institute haben uns später bereitwillig Gegenstände daraus für
die so nötige Belehrung durch den Augenschein zur Verfügung gestellt und so dem
öfter eintretenden Mangel an Vorlagen abgeholfen. Nach dieser Seite förderten
uns auch die allmählich aufkommenden Vorträge mit Lichtbildern. Wir haben in
den beiden ersten Jahren je 9, dann je 8 Sitzungen abgehalten, im ganzen also 162.
Darin sind etwa 100 verschiedene Redner zu Worte gekommen, abgesehen von
den nur an den Debatten Beteiligten; die meisten Redner Mitglieder des Vereins,
aber auch Gäste, wie u. a. Prof. Gallee, Gunkel, Finck, Lehmann-Xitsche. Müllen-
hoff, Tiktin, Dr. Andersson, Maler Holleck -AVeithmann. Von den früheren Mit-
gliedern haben am häufigsten vorgetragen — ich ordne nach absteigenden Zahlen —
Weinhold. Max Bartels, Brückner, Jahn, von den jetzigen die Herren Sökeland,
Bolte, Frl. Lemke, die Herren Mielke, Brunner. Friede!,' Roediger (zu meiner
eigenen Verwunderung!), Hahn.
Für die Beteiligung an der Zeitschrift brauche ich nur auf das sorgfältige
Register zu verweisen, das Boltes Fleiss dem 20. Bande beigegeben hat. Es lehrt,
dass die Zahl der Mitarbeiter in den letzten zehn Jahren von 199 auf 365 ge-
stiegen ist und dass die beiden Herausgeber der Zeitschrift, Weinhold und Bolte,
die eifrigsten Beisteurer gewesen sind. Durch Austausch hat uns die Zeitschrift
zu einer reichen Sammlung anderer in- und ausländischer Zeitschriften unseres und
verwandter Gebiete verholfen, und diese Bibliothek ist durch einzelne Gaben und
eine wertvolle, etwa 200 Nummern umfassende Schenkung der Witwe und Tochter
unseres 1903 verstorbenen Mitgliedes Marelle in hochherziger Weise vermehrt
worden.
Als unser Verein begründet wurde, stand er allein. Jetzt gibt es in den
Ländern deutscher Zunge gegen 20 Vereine für Volkskunde, und mehr als 2 >
solcher Vereine, Museen und ähnlicher Anstalten schlössen sich seit 1904, zuerst
durch die Bemühungen des leider schon 190G verstorbenen Adolf Strack, zu einem
Verband zusammen, dessen Vertreter wir 190S hier in Berlin aufnehmen konnten.
Es ist wahr: gemeinsame Leistungen hat der Verband noch nicht aufzuweisen. Er
leidet unter der finanziellen Lage der einzelnen Vereine und des Deutschen Reiches
und seiner Staaten, und nur mit Bangen erwarten wir den Bescheid wegen einer
erbetenen Unterstützung, die es dem Verbände ermöglichen sollte, die Texte und
Melodien der deutschen Volkslieder vom 18. Jahrhundert an durch ganz Deutsch-
land hin zu sammeln, eine notwendige Arbeit, mit der man in Österreich und der
Schweiz schon begonnen hat.
Indes anderes, nach der idealen und realen Seite, auf dem geistigen und sach-
lichen Gebiete zu leisten, ist den der Volkskunde dienenden doch schon gelungen.
Ich will hier nicht einzelne Arbeiten aufzählen, nur die Gewinne im grossen an-
deuten.
Es ist gelungen, dem planlosen Sammeln verstreuter, verbindungsloser
Kuriositäten ein Ende zu machen und den an sich sehr schätzbaren und unent-
behrlichen Sammeleifer in geregelte Bahnen zu leiten. Es ist gelungen, wenigstens
einem Teile der höher Gestellten Interesse einzuflössen für die Denkweise und die
Leistungen der tieferen sozialen Schichten und immer mehr die Erkenntnis zu ver-
breiten, dass man hier nicht nur Rohheit, Albernheit, Aberglauben und Unfug er-
o
Protokolle. 22 1
blicken dürfe, dass man vielmehr dieses Leben zu verstehen und mit jenem Respekt
zu beachten habe, den die höheren Schichten für das ihrige verlangen. Es beginnt
den sogenannten Gebildeten die Erkenntnis aufzuleuchten oder wenigstens zu
dammern, dass auch hier geistige Werte und aus ihnen hervorgehende wertvolle
Schöpfungen vorhanden sind, die sie mit dem abschätzig so genannten Volke ver-
binden, die in ihr eigenes Denken und Wirken hineinreichen, ja dessen Wurzeln
sind. Die Volkskunde ist nicht bloss die Kunde vom niederen Volke, vom vulgus,
sondern von der natio, von einer durch Geburt und Abstammung verbundenen
Gemeinschaft. Dessen soll nicht nur der Liebhaber und Gelehrte, nein auch der
in der Praxis stehende Verwaltungsbeamte, Richter, Geistliche, auch der Dichter
und Künstler gedenken. Er soll das Vorhandene aus dem Vergangenen begreifen
und bewerten.
Aber die Volkskunde soll nicht in den Grenzen eines Volkes eingeschlossen
bleiben: sie soll vom eigenen Volke ausgehen, aber seine Leistungen ver-
gleichen mit denen anderer Völker. Historisch und vergleichend muss sie ver-
fahren. Wie wir längst daran gewöhnt sind, die Sprachen zu vergleichen, wie
man dann begonnen hat, Mythologie und Recht und literarische Erzeugnisse zu
vergleichen, so müssen überhaupt die gesamten Äusserungen der geistigen Anlagen
verschiedener, möglichst aller Völker miteinander verglichen werden. Und die
geistige Anlage eines Volkes äussert sich nicht nur auf literarischem und künst-
lerischem, sondern auch auf sachlichem Gebiete, in Bauten und Geräten und
Trachten, kurz auch in seiner ganzen äusseren Lebensweise. Der seinem Zwecke
nach deutliche Besitz eines Volkes soll den undeutlich gewordenen anderer auf-
klären.
Diese vergleichende volkskundliche Methode hat schnell in allen Wissenschaften
Fuss gefasst. Wer scheut sich heute noch, wenn er die trümmerhaften Über-
lieferungen oder kümmerlichen Reste ältester Zustände sogar der vornehmsten
Nationen in Zusammenhang bringen und erklären will, bei den primitiven Völkern
Umschau zu halten? Oder welchen wissenschaftlich Denkenden beleidigt es, wenn
man zum Verständnis jüdischer und christlicher Kulte, Anschauungen und Lehren
den Blick auf die Heiden des Orients und Griechenlands richtet? Wären Unter-
suchungen klassischer Philologen auf dem Gebiete der Religion, der Sitten und
Bräuche, wie sie, um anderer Forscher zu geschweigen, von unseren hoch-
geschätzten Mitgliedern Diels und Samter ausgegangen sind, ohne den Einfluss der
Volkskunde denkbar?
Aber statt diese Nachweise auf andere Gebiete auszudehnen, will ich lieber
die Frage zu beantworten suchen: was hat denn unser Verein im besondern getan,
um die Wissenschaft der Volkskunde auszubauen, ihr Verbreitung und Anerkennung
zu verschaffen, ihre Aufgaben zu lösen? Hier muss ich in erster Linie auf unsere
Zeitschrift hinweisen. Sie hat jahrelang als einzige volkskundliche durch die Tat
gezeigt, wie man methodisch Probleme der Volkskunde zu behandeln habe, sie ist
auch bis auf den heutigen Tag die umfassendste, inhaltreichste und bedeutendste
ihrer Art, trotz wertvoller Genossinnen, geblieben — das dürfen wir ohne Über-
hebung sagen, weil es allgemein anerkannt wird. Das ist freilich in erster Linie
das Verdienst ihrer Herausgeber Weinhold und Bolte, und derer, die ihre Ar-
beiten der Zeitschrift zum Abdruck überlassen. Aber die materielle Grundlage der
Zeitschrift bilden die Zahlungen der Mitglieder unseres Vereins, die ihren nicht
geringen Jahresbeitrag vornehmlich zu dem ihnen bewussten Zwecke leisten, das
Erscheinen der Zeitschrift zu ermöglichen, und die sich um unsere Wissenschaft wohl-
verdient machen, wenngleich ihre Kraft allein ohne die uns bisher alljährlich bewilligte
und stets neues Dankgefühl erzeugende Beihilfe des zuständigen Ministeriums nicht
222 Brunner:
ausgereicht haben würde, die Zeitschrift aufrechtzuerhalten. Aber auch die Be-
deutung unserer regelmässigen Zusammenkünfte sollen wir nicht gering an-
schlagen. Sie erweitern und vertiefen unsere Kenntnisse und wecken immer aufs
neue bei uns freudige und befriedigende Teilnahme für unser Arbeitsgebiet. Je
mehr wir von Interesse daran erfüllt sind, desto eher werden wir es andern ein-
zuflössen suchen, und das ist auch ein Verdienst, das gewiss jeder unter uns sich
zusprechen darf: Apostel der Volkskunde zu sein.
Haben nun andere Vereine ihren Schwerpunkt nicht in ihre Zeitschriften und
häufige Zusammenkünfte gelegt, sondern ihre Kraft an die Lösung bestimmter Auf-
gaben gesetzt, wie Sammlung von Flurnamen, von Volksliedern. Aufnahmen zur
Hausforschung, Erwerb von volkskundlichen Gegenständen usw., so können wir
uns solcher Unternehmungen nicht rühmen. Das hat seinen Grund zum Teil
darin, dass verwandte Berliner Vereine uns dergleichen Aufgaben abnehmen, haupt-
sächlich aber in dem Sitz unseres Vereins. Alle anderen ruhen auf dem festen
Untergrund provinzieller oder staatlicher Bezirke, die entweder ein im wesent-
lichen einheitliches Volkstum zeigen oder sich doch aus nicht allzu vielen Ein-
heiten zusammensetzen. Berlin hat einen alles Herkömmliche zerstörenden Ein-
lluss, den es weit um sich ausdehnt. Es bietet dem volkskundlichen Forscher, der
zweckmässig vom Gegenwärtigen aus rückwärts schreitet, ein schillerndes, brodeln-
des Gemisch dar, dessen Bestandteile sich fortwährend verändern und das kein
sicheres Füssen ermöglicht. Der Bewohner Berlins muss schon weit pilgern,
wenn er einigermassen von der Grossstadt unberührtes Volksleben finden will. So
können sich in unserem Verein nur die sammeln, welche die allgemeine, land-
schaftlich und völkisch nicht beschränkte Volkskunde lockt, ihrer sind weniger
als die, deren Heimatliebe sie zur Vertiefung in ihre Eigenart treibt, und so
werden wir, fürchte ich, auf eine wesentlich gesteigerte Mitgliederzahl nicht rechnen
dürfen. Trotzdem brauchen wir uns nicht vorzuwerfen, dass wir in diesen zwanzig
Jahren das Unsrige nicht getan hätten. Gewiss wird sich im Betriebe dies und
jenes bessern lassen, und der Vorstand wird dahingehende Vorschläge sorgsam
prüfen. Aber im ganzen will es mir doch scheinen, als sei die Teilnahme am
Verein und das Leben in seinen Sitzungen reger geworden, und gelernt haben wir
ohne Zweifel viel miteinander und voneinander. Wir sind uns alle gegenseitig Dank
schuldig, und den lassen Sie uns betätigen durch Treue gegen unseren Verein und
durch Wirken zu seinem Heil und Gedeihen."
Dann sprach Hr. Robert Mielke über „Die Giftmischerin von Sanspareil, eine
Nachwirkung der Sage von der weissen Frau.t; Die Sage von der Giftmischerin
von Sanspareil führt uns in ein von den hohenzollernschen Markgrafen im Anfang
des 18. Jahrhunderts gegründetes oberfränkisches Schloss. Unter der Burg liegt
der Ort Wonsees. Hier befindet sich ein Grabstein, wahrscheinlich dem Geschlechte
von Aufsess zugehörig, welcher im Volksmunde der Grabstein der Giftmischerin
Zwanziger genannt wird, weil er mit fünf Federn, die an Löffel erinnern, ge-
schmückt ist. Diese Dienstmagd Zwanziger soll ihren Herrn vergiftet haben, und
ihr Prozess fand anfangs des vorigen Jahrhunderts in Turnau statt. Die Sagen-
bildung bemächtigte sich des Stoffes und verband die Elemente der bekannten Sage
von der Gräfin von Orlamünde damit. Das Motiv des Kinderraordes wurde auch
in die Sage von der Giftmischerin von Sanspareil übertragen und damit eine An-
gleichung an die Sage von der weissen Frau vollzogen, deren Urheimat ja in der
dortigen Gegend zu suchen ist. Vor dem Tode des Albrecht Achilles trat die
weisse Frau zuerst in Bayreuth auf. Den eigentlichen Grund dieser Sagenbildungen
des Volkes sucht der Redner in dem schnellen und jähen Absterben blühender
Fürstengeschlechter. So ging das Geschlecht der Beatrice von Orlamünde, die
Protokolle. 223-
1:303 auf der Plassenburg starb, bald nach dem Tode dieser grossen Fürstin unter,
und die letzten Orlamünder schlössen einen Erbvertrag mit den Hohenzollern.
Dieses jähe Erlöschen von Fürstenhäusern macht auf das Volksgemüt einen be-
fremdenden Eindruck, und volkstümliche Erklärung ist dann die Grundlage der
Sagenbildung, wie an mehreren historischen Beispielen nachgewiesen wurde. Die
Volksempfindung bleibt eben immer gleich und wird vermutlich niemals mit der
Sagenbildung aufhören.
Dann hielt Hr. Privatdozent Dr. Ed. Hahn einen Vortrag über „Die Erkenntnis
des heutigen Volkslebens als Aufgabe unserer Wissenschaft", der im nächsten Heft
zum Abdruck kommen wird.
Nach dem anschliessenden gemeinschaftlichen Festmahl im Kaiserkeller gab
Frau Emma Hertrich eine Keihe volkstümlicher Lieder des In- und Auslandes
zum Besten, die sie mit eigener Begleitung meisterhaft vorzutragen wusste. Auch
Frl. Gesa Fried el erfreute durch Darbietung einiger Volkslieder die festliche
Versammlung.
Freitag, den 24. Februar 1911. Der Vorsitzende, Hr. Geheimrat Roediger,
erstattete den Bericht über das Vereinsjahr 1910 und dankte nochmals dem
Herrn Unterrichtsminister für die wiederum dem Verein bewilligte Beihilfe von
000 Mk. Der Schatzmeister Hr. Dr. Fiebelkorn erstattete den Kassen-
bericht, wofür ihm mit Dank Entlastung erteilt wurde. Der Vorsitzende legte dann
einige Neuerscheinungen vor, wie das Buch von Seefried-Gulgowski über die
Kaschuben ('Von einem unbekannten Volke in Deutschland'. Berlin, Deutsche
Landbuchhandlung). Er wies darauf hin, dass in diesem Jahre ein hessisches
Volkstrachtenfest in Kassel stattfinden soll. Eine Tagung des Verbandes deutscher
Vereine für Volkskunde soll am 8. Juni stattfinden. Da der Vorsitzende des Ver-
bandes, Prof. Dr. E. Mogk, sein Amt niederlegt, hält Hr. Roediger es für ratsam,
die Verbandsgeschäfte durch Direktor Dr. Lauffer in Hamburg wahrnehmen zu
lassen. Das Verbandsorgan, die 'Mitteilungen', dürfte eingehen, aber der Verband
selber sollte bestehen bleiben. Hr. Stadtverordneter H. Sökeland erklärt sich,
mit diesen Vorschlägen einverstanden und fügt noch hinzu, der bereits einmal
vertagte Antrag auf Erhöhung der Mitgliederbeiträge für den Verband sei ab-
zulehnen.
Hr. Dr. Brunner legte alsdann einige nordische Runenkalender aus Holz und
Photographien von solchen aus der Kgl. Sammlung für deutsche Volkskunde vor.
Allen diesen Kalendern ist die Verwendung von Runen zur Bezeichnung der
Sonntagsbuchstaben und der Güldenzahlen gemeinsam. Die Runen entstammen
dem jüngeren nordischen Runenalphabet, Futhork gen., sind aber keineswegs auf
allen Kalendern gleichmässig gebraucht, sondern vielfach variiert. Man kann dar-
aus schliessen, dass die Kenntnis der Runen im 17. Jahrhundert keinen festen
Boden mehr im Volke hatte. Die meisten Holzkalender gehören etwa dieser Zeit
oder einer noch späteren an. Der eine vorgelegte Holzkalender in Buchform vom
Jahre 1688 zeigt neben den Runen viele Buchstabeninschriften in dem Festkalender,
der ausserdem wie bei allen übrigen Exemplaren mit vielen symbolischen bild-
lichen Darstellungen versehen ist. Diese waren ursprünglich für Analphabeten be-
rechnet und sind bis in die jüngste Zeit sogar in den Volkskalendern vielfach
erhalten geblieben. Der erwähnte buchförmige Holzkalender zeigt seinen nordischen
Charakter in der Bezeichnung des 23. Dezember als 'Jule dagh' und der des
13: Januar als des 20. Tages der Julfeier mit dem Sinnbilde eines umgekehrten
Trinkhornes. Andrerseits tritt das Protestantentum an ihm in der Bezeichnung
des 10. November mit dem Namen 'Märt luter' hervor. Eigentümlich ist diesem
Stücke ferner die Angabe von .'14 Unglückstagen, verworfenen Tagen, von denen
•'■_' | Brunner: Protokolle.
sieben allein auf den Januar fallen. Man kennt in schwedischen Kalendern sonst
nur 33 Unglückstage. Den !>. Oktober pllegt man sonst nicht dahin zu rechnen.
Vielleicht hatte der Besitzer unseres Kalenders einen persönlichen Grund für seine
Aufnahme unter die Unglückstage. Die Tagewählerei, wie Luther sie nennt, ist
ein alter Volksaberglaube, der bereits im 5. Buch Moses 18, 10 erwähnt ist. Bei
den alten Römern wären die dies religiosi oder vitiosi und im Mittelalter die dies
aegyptiaci zu vergleichen. Der zweite vorgelegte Runenkalender ist einer der ge-
wöhnlichen nordischen Stabkalender. Er enthält nur runische und bildliche Dar-
stellungen, keine Buchstaben. Der dritte endlich war ein solcher der schwedischen
Küstenbewohner in Esthland. Er ist auf 7 Holzplättchen verzeichnet in 13 Reihen
von je '2S Tagen. Er unterscheidet sich wesentlich von den nordschwedischen
Kalendern, indem keine Güldenzahlenreihe vorhanden ist und also die Mondphasen
aus ihm nicht berechnet werden können. Er enthält nur 2 Reihen von Dar-
stellungen. Oben die 7 ersten Runen des Futhork in beständiger regelmässiger
'Wiederholung als Sonntagsbuchstaben und darunter der Pestkalender. Bemerkens-
wert ist an diesem Bauernkalender das Vorkommen der Vigilienzeichen an den
sogen, heiligen Abenden vor grossen Festen.
Alle diese Kalender sind sogen, julianische immerwährende Kalender, in erster
Linie schon in früher Zeit für den kirchlichen Gebrauch hergestellt und später
durch Hinzufügung landwirtschaftlicher Darstellungen besonders im Norden auch
für den praktisch-profanen Zweck erweitert. Eine sehr ausführliche Darstellung
über die Runenkalender hat E. Schnippel im 4. Heft der Berichte über die Tätig-
keit des Oldenburger Landesvereins für Altertumskunde, 1883, gegeben. •
Hr. Archivar Dr. Fritz Behrend sprach alsdann auf Grund neuen handschrift-
lichen Materials über die Meistersinger von Memmingen. In der langen Lebensdauer
des Meistergesangs — etwa 1300 bis 1800 — lassen sich verschiedene Epochen
scheiden, die ihre Wendepunkte ungefähr in den Jahren 1450, 1550 und 1650
haben. Während vornehmlich dank den Forschungen Jakob Grimms und Ludwig
Unlands die Wurzeln dieser Kunstübung und ihre Frühzeit schärfer beleuchtet
worden sind, zeigte der Vortragende, dass auch die späteren Entwicklungs-
stufen, deren mehrere sind, als man bisher annahm, eine Fülle interessanter
Erscheinungen bieten. Gerade die Memminger Schule, die erst um lrJOO sich
zusammenschloss, ist für die späteste Entwicklung aufschlussreich. Es wurde
betont, dass die Memminger ähnlich den Ulmern sich gleich nach dem Dreissig-
jährigen Kriege zu neuer Tätigkeit aufrafften. Die Memminger Tabulatur von
HiCO zeigt patriotischen Sinn, Streben nach reiner deutscher, dialektfreier Sprache
und nach den neuen metrischen Regeln Opitzens. Diese Handwerker der süd-
deutschen Reichsstadt werden so Bundesgenossen der hochgeborenen Herren, die
im nördlichen und mittleren Deutschland die 'Fruchtbringende Gesellschaft' bildeten.
Auch in ihren Theaterübungen suchen sich die Meister alle Fortschritte der
Schauspielkunst zu eigen zu machen. So finden wir sogar im ausgehenden 18. Jahr-
hundert Schillers 'Räuber' in ihrem Repertoire. Ein ominöser, aber bezeichnender
Zufall fügte es, dass eine neue Leichensängerordnung 1874 das schwache Lichtlein
völlig ausblies.
Die während der Sitzung vorgenommene Ausschusswahl ergab folgendes Re-
sultat: Hr. Geheimrat Friedel wurde wiederum zum Obmann des Ausschusses
gewählt, der sich im übrigen aus den Mitgliedern Bartels, A. Behrend,
Hahn, Heusler, Lemke, Ludwig, Maurer, Michel, Samter, Erich
; hmidt und Schulze-Veltrup zusammensetzt.
Berlin. Karl Brunner.
Die Erkenntnis des heutigen Volkslebens als Aufgabe
der Volkskunde.
Vortrag, gehalten am 20. Januar 1911
zur Feier des zwanzigjährigen Bestehens des Vereins für Volkskunde.
Von Eduard Hahn.
Als Adolf Bastian, der grosse Organisator der Ethnologie, am Anfange
der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit der deutschen
Wissenschaft auf die Wichtigkeit des kulturellen Besitzes der Aussen-
völker für die Erkenntnis der Menschheit als Ganzes und im ganzen
hinzulenken versuchte, da stand seinem schliesslich ja grossem Erfolge
anfänglich doch auch eine Opposition entgegen, ganz ähnlich wie sie jetzt
trotz unseres zwanzigjährigen stillen Wirkens auch unserer Gesellschaft
immer noch ento-e^ensteht.
Einmal meinten die sogenannten verständigen Leute: Brauchbares,
sogenanntes Positives käme doch gewiss nicht dabei heraus; auf der
anderen Seite aber meinte man: es sei ja ganz unmöglich und deshalb
auch von Anfang an zwecklos, den ungeheuren Ozean menschlicher Gedanken
einer wissenschaftlichen Analyse und einer systematischen Ordnung unter-
werfen zu wollen.
Bastian selbst hat dann doch noch den Triumph erlebt, dass dies
letzte Argument in einem Umfange widerlegt wurde, der seine eigenen
kühnsten Erwartungen weit übertraf. Sachverständige Ethnologen können
jetzt mit ruhigem Gewissen sagen, dass sie gegen Überraschungen in
ihrer Wissenschaft ebensogut oder auch noch besser gefeit sind als
manche Forscher auf anderem Gebiet. Hat doch gerade unsere Zeit, die
doch durch den ausserordentlichen Aufschwung der Naturwissenschaften
und die damit verbundene ungeheure Entwicklung der Technik am meisten
charakterisiert wird, erfahren müssen, dass gerade bei den sog. realen
Wissenschaften, Chemie und Physik, die scheinbar wichtigsten und grund-
legendsten Sätze und Gesetze, wie die Auffassung der chemischen Atonir
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1911. Heft 3. 15
226 Hahn:
und Elemente und das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, in letzter Zeit
geradezu grundstürzenden Umformungen ausgesetzt gewesen sind.
In der Ethnologie haben wir dergleichen wohl kaum zu fürchten oder
zu erwarten. Wir werden in Zukunft wohl manches besser erkennen und
tiefer auffassen lernen, wir werden manche Gedankenreihen anders an-
einanderknüpfen und einzelnes anders auffassen lernen, aber wir werden
kaum unsern Gedankenbau in seinen Fundamenten erschüttert sehen oder
uns zu plötzlichen grossen Umbauten entschliessen müssen, ausgenommen,
es handele sich — ich komme auf ein besonderes Beispiel noch zurück
etwa um eine Erweiterung unseres Wissensaufbaus oder um eine be-
deutungsvolle Verstärkung und Vertiefung der Fundamente unserer Wissen-
schaft. Vierkandt hat uns in seinem schönen Buche über die 'Stetigkeit
im Kulturwandel' noch kürzlich gelehrt, wie langsam eine Anreicherung
unseres Kulturbesitzes erfolgt und wieviel dazu gehört, ehe alle Vor-
bedingungen eines neuen Gewinns für unsere Kultur sich erfüllt haben.
Ich fürchte übrigens sehr, eine historische Periode, die uns schon recht
bald folgt, wird für unsere Zeit eine nicht kleine Liste unserer Kultur-
verluste aufstellen müssen, die manchen von uns doch nicht wenig; er-
schrecken würde.
Bastians Tätigkeit als Organisator der ethnologischen Forschung stand
nun von Anfang an unter einem beherrschenden Losungswort, das ihm
zuerst nicht immer nur gut gemeinten Spott zuzog, das ihm aber schliesslich
doch zu seinem grossen Erfolge verholfen hat, das war das Wort von
der zwölften Stunde. Er wusste nur zu gut durch seine ungeheuren
Reisen, dass. mit der Ausnahme ausserordentlich beschränkter und ver-
steckter Gebiete — ich nenne die durch alle Schrecken des tropischen
Urwalds und eines verrufenen Klimas geschützten Stellen im Innersten
Brasiliens, Borneos, Neuguineas und dergleichen, daneben aber auch
noch besonders das wohl kaum noch lange durch seine politische Rück-
ständigkeit geschützte Albanien, die grosse Terra incognita unserer Welt
mitten in Europa alle übrigen Gebiete dem Weltverkehr und dem
Welthandel und ihrer Tätigkeit auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sind.
Diese aber schleifen mit unwiderstehlicher Gewalt und mit immer stärker
•'insetzender Ausgleichung alle Sonderformen ab und alle Unterschiede
und Einzelentwickluneren weg.
So hatte sich denn Bastian das hehre Ziel gesetzt, in «1er letzten
Stunde vor dem völligen Verschwinden dieser wichtigen Entwicklungen
und Einzelgestaltungen noch alles zu sammeln, um die unwiederbringlichen
Verluste wenigstens für die Wissenschaft möglichst zu verringern.
Denn er wusste nur zu gut, dass diese allgemeine Absehleifung und
Ausgleichung aller Sonderheiten nicht unter allen Umständen als
eine Kulturb ereich er ung anzusehen sei. Gerade hier zeigen die idealen
Forderungen der Wissenschaft und die Richtung, in die das ungeheure
Die Erkenntnis des heutigen Volkslebens als Aufgabe der Volkskunde. 227
Gewicht unserer Wirtschaft und unserer Technik mit all ihren Macht-
mitteln die Massen der Menschheit im allgemeinen zwingt, nach ganz
verschiedenen Seiten.
Die Geschichte — ich brauche nur an die Tätigkeit Friedrich
von Schillers als Professor in Jena zu erinnern — hatte freilich schon seit
mehr denn hundert Jahren die Darstellung der Entwicklung der Menschheit
als ihre Aufgabe proklamiert, die Naturwissenschaften sind ihr darin ja aber
erst im letzten halben Jahrhundert gefolgt, und Anthropologie und Ethnologie
wüssen nun genau, dass es ihre Aufgabe ist, die durch die Entwicklung
bedingte körperliche und geistige Verschiedenheit der Mensch-
heit zu untersuchen.
Volkskunde aber ist ja nur Ethnologie auf unser eigenes Volk
angewandt, und soll sich nun unsere Wissenschaft von ihrer Schwester,
der Ethnologie, beschämen lassen? Sollten w7ir uns nicht Bastians so
erfolgreiches Feldgeschrei in vollem Umfange und mit zielbewusster
Entschlossenheit aneignen? Ist nicht auch für uns die zwölfte Stunde
gekommen, in der wir für die breitesten Schichten unseres Volkes den
geschichtlichen Zusammenhang und damit zugleich die Möglichkeit der
ungestörten Entwicklung mit aller Macht wieder anstreben müssen? Ist
es nicht die letzte Stunde, in der wir hoffen können, aus unserem Volks-
leben wertvollste Materialien zu retten, die in ganz kurzer Zeit unwieder-
bringlich verloren sein werden, wenn die Reste der zweiten Generation
von uns, die noch lebend unter uns weilen, dahingegangen sind?
Die ungeheuerliche Ausdehnung des Industrialismus mit seiner weder
in den Grossstädten noch in den Industriebezirken irgendwie und irgendwo
wTurzelfesten Bevölkerung, die ungeheure Ausdehnung des städtischen
Lebens, das leider einen überaus bedenklichen Hauptteil der Gesamtzahl
unserer Bevölkerung in Gross- und Kleinstädten, ja selbst in den Industrie-
dörfern in die Mietskasernen und Einzimmerwohnungen mit ihren licht-
losen Höfen einpfercht, ja selbst das ungeheure Anschwellen der Be-
völkerung au sich als unorganisierte Masse, die auch da, wo es ihnen
materiell eigentlich ganz gut geht und wo sie also nach dieser Seite wrohl
gedeihen könnte, doch leider fast ganz ohne volkliches Bewusstsein und
ohne sie befriedigende ideale Ziele ihres Strebens in geistiger Öde ihr
Dasein verbringt, lässt die Zukunft unseres Volkes in allertrübstem Lichte
erscheinen. Die besten geistigen Kräfte in diesen Massen liegen brach,
weil sie nicht wissen, was sie damit anfangen sollen und für wen und
auf welches Ziel hin sie arbeiten sollen. Da kann uns nun auch die Volks-
kunde, d. h. die Kenntnis vom geschichtlichen Charakter unseres Volkes
und von der Geschichte seines Lebens nach den einzelnen Landschaften
und nach den verschiedenen Berufsarten, gründlich und nachhaltig helfen,
und das ist doch wahrlich eine schöne und eine reizvolle Aufgabe mit
grossen Zielen und, wenn wir etwas erreichen, auch mit den wichtigsten
15*
228 Hahn:
Erfolgen für unser ganzes Volk. Denn was ist das Volk, wenn nicht eine
organische, durch die stärksten Bande geschichtlicher Entwicklung zu-
sammengeschweisste und in sich verbundene Masse, das Ergebnis einer
unendlich langen geschichtlichen Entwicklung! Zugleich ist das Volk ja
aber auch eine Masse, d. h., dass sie mit allen ihren vielen Fehlern und
wenigen Vorzügen den Gegenstand einer neuen, in der Zukunft wahr-
scheinlich sehr wichtigen Wissenschaft bildet, der Soziologie, die den
Einfluss und die Einwirkungsmöglichkeit des Einzelnen auf die Masse und
die Rückwirkung der Massen auf Gefühlsleben, Gedankentätigkeit und
Wirksamkeit des Einzelnen mit neuen Gesichtspunkten und neuen Methoden
untersucht.
Festhalten aber müssen wir daneben als ein Ergebnis der Anthropo-
logie, der Ethnologie und der Vorgeschichte, dass, wie Ratzel es immer
wieder betonte, die Tiefe der Menschheit unendlich gross ist; dass
über die in Tausenden von Generationen festgelegten Schwingungen der
Menschenseele uns nur der Gesamtbesitz aller Zeiten und aller Kulturen
ein gewisses Verständnis geben kann, also die Psychologie, die Geschichte
in ihrem weitesten Umfang, auch aus allen Aussengebieten und aus allen
Forschungszweigen, wie Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, und vor allem
endlich die Ethnologie und die Volkskunde.
So muss dafür gesorgt werden, dass das uns bis dahin noch so
ziemlich unbekannte Seelenleben der Massen als solcher für das öffent-
liche Leben der Zukunft nicht mehr wie bisher ein ganz unbekannter
Faktor bleibt, den man für politische und wirtschaftliche Berechnungen
als Zufall einstellen muss, und durch den alle zielbewusste öffentliche
Tätigkeit aufs äusserste gefährdet und in Frage gestellt werden kann.
Zunächst scheint ja diese Aufgabe ungemein schwierig, ja dem Laien
erscheint, wenn er etwas derart hört, die Lösung zuerst völlig unmöglich.
Aber ich brauche ja nur darauf hinzuweisen, dass das, was die Volkskunde
auf einem kleineren Gebiet, freilich mit einem grossen Grenzgebiet und
zahllosen Ausblicken leisten soll, ihre Schwester, die Ethnologie, auf ihrem
ungeheuren Gebiet, unserer Welt, bereits erfüllt hat und sogar in einem
viel grösseren Umfang und in viel kürzerer Zeit, als man je vorher er-
wartet hätte. Freilich geht es, wie mit der Volkskunde, so auch mit der
Ethnologie, dass die Betätigung der Geisteswissenschaft auf praktischem
(iebiet noch sehr zu wünschen übrig lässt. Wie es in anderen
Wissenschaften gegangen ist, so überlassen wir hier viel zu viel der un-
leugbar öfter vorhandenen angeborenen Begabung. Das geht aber zu
einer Zeit nicht, wo alle Urbetriebe der Menschheit der wissenschaftlichen Be-
handlung und Erkenntnis unterworfen werden. Jahrtausende lang haben wir
Brot geltacken und Felle gegerbt z. B., ohne dass wir eine wissenschaftliche
Erkenntnis der schwierigen Bedingungen dieser Verfuhren hatten. Das
geht nicht mehr, jetzt verlangen wir vom Landwirt, vom Bierbrauer, vom
Die Erkenntnis des heutigen Volkslebens als Aufgabe der Volkskunde. 229
Forstmann wissenschaftliche Kenntnisse. Wir werden auch von unseren
Kolonialbeamten dr aussen und von unseren Verwaltungsbeamten im eigenen
Lande verlangen müssen, dass sie das Volk, mit dem sie zu tun haben,
kennen sollen, und dies Verlangen wird uns später als ganz selbst-
verständlich erscheinen. Unnötig viel Missgriffe in der Kolonialgeschichte
wären vermieden und bei uns mancher nicht gerade rühmliche Ver-
waltuna'skonflikt, wenn das schon bekannt und beachtet gewesen wäre.
Es ist ja freilich vergebens, von den früheren Zeiten ein Verständnis zu
fordern, welches ihnen doch noch nicht aufgegangen war. So erscheint
uns der Kampf älterer Behörden gegen die Spinnstuben oder gar gegen
den Tannenbaum ausserordentlich abgeschmackt, aber der immer noch
nicht beendete Kampf mit dem Haberfeld ist im Lichte der Volkskunde
alles andere wie ruhmvoll für die bayerischen Behörden. Ist es doch
nur ein Kampf gegen die im Interesse der Sitte — freilich wie die Leute
sie verstehen — organisierte Jungmannschaft eines geschlossenen grossen
Bezirks.
Andere Zeiten und andere Völker empfinden gegen ihre Vergangenheit
eine gewisse Ehrfurcht; unsere Zeit betrachtet die eigene Vergangenheit
meist nur mit ironischem Lächeln, aber werden nicht spätere Zeiten
allen Grund haben, über uns zu lachen, wenn sie erfahren müssen, dass
die wissenschaftlich gebildeten Stände unserer Zeit, die ihr Beruf auf den
lebendigen Zusammenhang, auf den steten persönlichen Verkehr, auf die
fortwährende Beeinflussung der Massen in dem einen oder anderen Sinne
hinwies, bis in unsere Zeit in bezug auf die Kenntnis ihrer Aufgabe, auf
die Kunde von dem Volk ganz und gar der natürlichen Begabung und
Veranlagung des Einzelnen überlassen wurde; dass von einem wissen-
schaftlichen Rüstzeuge für diese, ihre schwierigste Aufgabe bei Lehrern,
Geistlichen, Richtern, Verwaltungsbeamten und Ärzten nicht die Rede ist,
dass man sich einfach darauf beschränkt, dem Einzelnen seinen Weg und
den Dingen ihren Lauf zu lassen, wie der Zufall es fügt?
Es ist kein Wunder, dass gegenüber dem reichen sachlichen Stoff
unserer Wissenschaft bei den Vertretern der Volkskunde und so auch bei
den Vereinen diese Richtung, ja, wenn ich so sagen kann, das Hauptziel
unserer Wissenschaft bis dahin nur wenig zur Geltung gekommen ist.
Ich bin aber nicht der Meinung, dass das so bleiben soll, ja, ich bin sogar
der Ansicht, dass das gar nicht so bleiben kann, wenn nicht unserem
Volke und unserer Sache ausserordentlich viel und grosser Schaden ge-
schehen soll. Es ist aber wahrlich schon Schaden genug geschehen. Im
Banne von Vorstellungen, die die geschichtliche Auffassung und die
politische Tätigkeit und die der Verwaltung der letzten hundertundzwanzig
Jahre beherrscht haben, und die meist auf den genialen Wirrkopf Rousseau
zurückgehen, haben sich alle Kulturstaaten Europas bemüht, mit einer
Knergie, die aufrichtig zu bewundern wäre, wenn sie nicht zu einem Teile
230 Hahn:
dem lastenden Gewicht des Schemas zuzuschreiben wäre, der Bildung des
Volkes zugewendet. Ich will ganz gewiss dem Enthusiasmus, der die
besten Männer ihrer Zeit für diese Sache begeisterte, nicht zu nahe treten,
aber wir in Deutschland und in den Nachbarländern beginnen jetzt all-
mählich doch mit grösserem Ernst, wie man das früher tat, auf die End-
resultate zu achten. Und da müssen wir denn doch als Vertreter unserer
\\i -senschaft mit Trauer hervorheben, dass das Leben unseres Volkes
unendliche Einbusse erlitten hat. Märchen und Sagen, Kinderspiel und
Kinderlied werden durch die Tätigkeit der Schulen und Kindergärten in
wenig Generationen, wenn nicht in der ursprünglichen Fassung völlig
vernichtet, so doch fast bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet und ab-
geschliffen sein. Wie soll sich in Grossstadt und Industriestadt mit ihren
Mietskasernen volkskundliche Überlieferung, ja, wie soll sich in der
Massenanhäufung, in der immer der Rücksichtsloseste am besten voran-
kommt und deshalb auf die Massen bestimmend wirkt, der Schatz an guter
Sitte erhalten, den das Volk mit seinem feinen Gefühl für Pflicht und
Recht in Jahrhunderten in allen seinen Schichten, in den höchsten wie
in den niedersten, so gut ausgearbeitet und in Schloss und Stadthaus,
wie in Bauernhaus und in der Tagelöhnerhütte aufgespeichert hatte?
Ich will hier nicht eine lange Liste aufzählen von den Verfehlungen
in dieser Richtung, wie bei der Separation der Gemeindeflur im Interesse
rohesten Nutzens oder vielmehr der Steuerfähigkeit, dem Gemeindewesen,
der Jugend und den Armen des Dorfs, der Naturschönheit, dem Tier- und
Pflanzenbestande, der doch auch seinen hohen geschichtlichen Wert hat,
und anderem geschadet worden ist; ich will vielmehr als Beispiel für die
Wichtigkeit unserer Wissenschaft einen Notstand, der mit der Einführung
der Schulpflicht direkt und indirekt zusammenhängt, erörtern, bei dem
sich aber zugleich, dem Charakter unserer Wissenschaft entsprechend.
Ethnologie und Volkskunde schwesterlich die Hand reichen.
Naturgemäss mussten für die Bildung, wie sie die allgemeine Schul-
pflicht mit sich brachte, auch bis dahin unerhörte Lasten aufgebracht
werden. Um diese möglichst gering zu halten, glaubte man, das all-
gemeine Ziel für das Volk: Lesen, Schreiben und einige Grundbegriffe,
sei in acht Jahren zu erreichen. Es wurden also Knaben und Mädchen
mit etwa 14, höchstens 15 Jahren aus der Schule entlassen. So waren
die Knaben, mit Ausnahme der geringen Minorität, die für die sogenannte
höhere Bildimg bestimmt war, von da an bis zum Eintritt ins Heer, zu
dem sie die allgemeine Wehrpflicht zwang, also im allergefährlichsten Alter
ohne jede staatlich oder öffentlich organisierte Aufsicht in bezog auf ihre
geistige und körperliche Ausbildung. Das war aber doch auch zugleich
die lVriode, in der das Haus, vielfach noch auf Grund alter Sitte, die
Knaben, um nur bei denen zu bleiben, ganz frei gab oder sie doch
wenigstens wesentlich freier stellte.
Die Erkenntnis des heutigen Volkslebens als Aufgabe der Volkskunde. 231
Von Amts wegen kümmerte sich also vom Schulaustritt bis zum
Militär absolut niemand mehr um die Knaben. Allmählich konnten aber
jedem, der von Amts und Rechts wegen mit der Beobachtung dieser
Verhältnisse zu tun hatte, das um sich greifende Verderben unserer
männlichen Jugend nicht mehr verborgen bleiben.
Da musste denn den Verständigen auch die Einsicht kommen, dass
unser Volk früher diese Verhältnisse in ihrer Wichtigkeit erkannt und
sie auch in einer damals seinen Bedürfnissen wohl entsprechenden Weise
recht gut geordnet hatte.
Wenn der deutsche Junge aus dem Knabenalter trat — etwa mit 15
oder IG Jahren — , so fand er auf dem Lande bei der Jungmannschaft,
um einen liele^entlich gebrauchten Ausdruck Süddeutschlands und der
Schweiz hier allgemeiner anzuwenden, in der Stadt als Lehrling feste
Verhältnisse vor, die bis in das späte Mittelalter hinein, und stellenweise
darüber hinaus, ihm seinen festen Platz mit genauer Bestimmung von
Pflicht und Recht sicherten. Diese wichtigen Verhältnisse hat unsere
Zeit vollkommen übersehen.
Vor wenigen Jahren erst, 1902, hat dann Heinrich Schurtz in einer
kurzen, aber in ihrer Wichtigkeit keineswegs gewürdigten und aus-
geschöpften Studie über Altersklassen und Männerbünde diese wichtigen
und merkwürdigen Verhältnisse auf ethnologischem Gebiet in ihrem
grossen Zusammenhang nicht nur aufgedeckt, sondern man kann wohl
sagen, für uns entdeckt. Er hat auch auf den grossen, so ungeheuer
wichtigen, hier tiefeinschneidenden Unterschied zwischen Mann und Frau
aufmerksam gemacht, einstweilen, für die breite Öffentlichkeit wenigstens,
ohne jeden Erfolg.
Mann und Frau unterscheiden sich nämlich in ihrem sozialen Ver-
hältnis durchaus und ganz und gar, und alle Ausnahmen können an der
Wichtigkeit dieses Grundergebnisses nichts ändern.
Mädchen haben, dafür ist ja die Puppe charakteristisch, das Bedürfnis,
sieb mit kleineren Wesen ihrer Art zu beschäftigen und sie zu pflegen.
Deerns sind lütte Möderkens, sagte das plattdeutsche Volk ganz richtig.
Knaben haben, so wie sie einigermassen selbständig sind, das Bedürfnis,
sich zusammenzuschliessen und sich in Altersklassen abzugliedern.
Die Kleinen, das ist der bei den Knaben sich unendlich wiederholende
Vorgang, müssen schon deshalb zusammenbleiben, weil die Alteren sie bei
ihrem Zusammenschluss herausdrängen, wenn sie sie nicht gerade irgend-
wie als untergeordnete Hilfsmittel bei ihren Spielen benutzen wollen.
Deshalb hat Schurtz sein schönes Werk auch die Altersklassen und
Männerbünde getauft. Dies Bedürfnis ist so naturgemäss, dass es sich
über die ganze Erde und durch alle Zeiträume verfolgen lässt, und es
steht natürlich in engster Verbindung mit der ebenso natürlichen Organi-
sation der Männer als Verband der Krieger. Wir sehen ja daher auch,
232 Hahn:
dass die Vertreter jeuer Bestrebungen, die Frauen und Männer mit
gleichen Rechten ausstatten wollen — Bestrebungen, die von der Anthro-
pologie und der Ethnologie nicht gerade viel Förderung und Begründung
zu erwarten haben — , die völlige und dauernde Abschaffung des Kriegs
und den ewigen Frieden als ein Ideal der Menschheit proklamieren
müssen, um nicht sofort über die Einführung der Wehrpflicht, auch für
die Frauen, zu stolpern.
Die Lücke, von der ich oben sprach, die zwischen der Schule und
dem Eintritt ins Heer klafft, war unter diesen Umständen für die breiten
Schichten des Volks ungeheuer fühlbar, doch die Versuche, so gut gemeint
sie waren, Fortbildungsunterricht und dergleichen einzuschieben, scheiterten
fast überall mehr oder weniger.
Nur dort, wo geborene Pädagogen und Volkskundler die Sache auf
eigene Hand durchführen konnten, stellten sich schöne Erfolge ein, die
aber meist an eine führende Persönlichkeit geknüpft waren und daher
nur zu oft mit dieser untergingen, leider auch oft genug im Schema er-
stickten.
Denn die aus der eigentlichen Schule entlassenen Knaben hatten das
natürliche Gefühl, dass sie nun erwachsen genug seien, um ihre eigenen
Wege zu gehen, und wenn sie nicht sehr geschickt geleitet wurden, so
dass sie das Gefühl behalten konnten, selbständig zu sein, so leisteten sie
allen Erziehungsversuchen stets weitgehenden passiven, oft genug freilich
auch erfolgreichen aktiven Widerstand.
Nun ist es aber eine eigentümliche Erscheinung, dass — in einem gewissen
Gegensatz zu ihrem Gedanken- und Gefühlsleben die heranwachsenden
Knaben in ihrer gewohnheitsgemässen Betätigung ausserordentlich stark
an die Tradition gebunden sind. In Sitte und Unsitte machen die
Heranwachsenden nach, was die Herauswachsenden einst ihnen vorgemacht
haben, während sie im Gefühlsleben zugleich doch einem vorwärtsstürmen-
den, oft allzuweitgehenden Idealismus anhängen. Das deutsche Studenten-
tum ist dafür ja ein deutlicher Beweis, wie mächtig diese Gefühle eine
Generation nach der anderen beherrschen.
Wenn wir nun, wie wir dies ja tun müssen, die Knaben in Stadt und
Land im Interesse ihrer körperlichen Entwicklung zum Turnen und zu
Turnspielen organisieren wollen, so werden wir ausserordentlich viel guten
Willen und vielleicht grosse Mittel aussichtslos verschwenden, so lange
wir nicht die Ethnologie und die Volkskunde zur Lösung dieser Aufgabe
mit heranziehen.
Dass aber solche Turnspiele und andere Gelegenheiten zur körper-
lichen und ja auch zur geistigen Ausbildung für unsere Knaben zwischen
der Schule und dem Heer nicht nur wünschenswert, sondern durchaus
notwendig sind, das ist eine Erkenntnis, die sich in den beteiligten
Kreisen immer grössere Geltung verschafft. Dass es früher dergleichen
Die Erkenntnis des heutigen Volkslebens als Aufgabe der Volkskunde. 233
gegeben hat, war vielleicht manchem fremd. Jetzt, wo Kück und Sohn-
rey ihre Sammlung darüber veröffentlicht haben, darf man daran nicht
festhalten. Die Volkskunde aber hat die grosse und wichtige Aufgabe,
die Erinnerungen der alten Volksgenossen, die jetzt in den sechziger
und siebziger Jahren stehen, in Stadt und Land auszuspüren, mögen sie
nun im Altenteil sitzen oder im Spital, um so in dieser zwölften Stunde
zu sammeln, was noch zu sammeln ist, und die Kegeln der einstmals
bodenständigen Spiele wieder in die Praxis einzuführen, damit wir nicht
länger unter dem Unsinn zu leiden haben, dass die Kinder unseres deutschen
Mittelstandes Football, Crioket oder Hockey and Golf spielen müssen.
Wenn auch alle diese Spiele germanisch sind, so sind sie doch von aussen
bei uns eingeführt; wir aber haben eigen gewachsene Spiele genug für
unsere Bedürfnisse.
Organisiert man nun unsere männliche Jugend durch sich selbst und
aus sich selbst heraus, so gewinnen wir damit sicher ein Machtmittel,
dass den rücksichtslosen Individualismus, dem die politische und wirt-
schaftliche Entwicklung einen viel zu grossen Einfluss auf die Massen
gewährt hat, kräftig wieder eindämmen kann.
Die Masse, das haben wir gerade wieder erfahren müssen, lässt sich
nicht durch Polizeiverordnungen binden, viel weniger folgt sie den Be-
weggründen der sogenannten Vernunft. Bindend für die Masse sind nur
die Sitten und die Sitte. Da kann nun unsere Wissenschaft mit vollen
Kräften eingreifen, das Feld ist leider nur zu gross, zuviel ist zerstört
und nur wenige sind der Helfer. Lassen Sie uns aber alle zu unserem
Teil dahin arbeiten, dass das nicht mehr so sei, dass die Volkskunde
der alten guten Sitte wieder zu ihrem Rechte verhelfe. Denn es
ist eine ganz falsche Auffassung und ein Fehler in unserer allzuweit-
gehenden Überbildung einer wesentlich auf das Einzelwesen gerichteten
philosophischen Strömung, wenn die Masse in jedem Einzelfalle eine Ent-
scheidung darüber treffen soll: Sollen wir dies tun, sollen wir jenes lassen?
Viel einfacher ist es, wenn wir nach dem Beispiele unserer Vorväter
die Massen in all den Tausenden Einzelfällen, wie sie an jeden einzelnen
in der Masse so oft herantreten, vor einer eigenen Entscheidung behüten
und sie vielmehr einfach, aber entschieden durch die Überlieferung au
die Sitten und sie dadurch auch wieder an die gute Sitte binden.
Berlin.
234 Wehrhan:
Das Hickelspiel iii Frankfurt a. M.
Von Karl Weluiian.
Das Spiel der Kinder, von dem hier die Rede sein soll, ist fast
überall in deutschen Gauen bekannt und beliebt, wenn es auch die ver-
schiedensten Namen aufzuweisen hat; man nennt es (nach Franz Magnus
Böhme. Kinderlied und Kinderspiel, Leipzig 1897 S. 599) Paradiesspiel,
auch Paradies- und Himmelhuppen oder Tempelhuppen in Öster-
reich, hier und da auch Wochenhüpfen, in Schleiz heisst's Hicke, in
Südwestdeutschland Hüpfeldrei1). Diese Namen erklären sich aus dem
Spiel; einmal wird dabei gehüpft oder gehuppt, dann heisst ein Teil der
in den losen Sand gezeichneten Figur der Himmel, der Tempel oder das
Paradies, und endlich werden in einigen Gegenden statt der Zahlen die
Namen der Wochentage in die Felder der Figur eingetragen, was den
Namen Wochenhüpfen hat bilden lassen.
In Frankfurt a. M. heisst das Spiel 'Hickelspiel', d. h. Hüpfspiel
(hickeln = hüpfen im Frankfurter Dialekt), so dass der Name mit jenen
Bezeichnungen auf einer Stufe steht; es wird jedoch auch Hickelkreis
genannt, wahrscheinlich, weil eine Abart der Spielfigur Ähnlichkeit mit
einein Kreis hat. Im übrigen finden die Kinder durchaus keinen Anstoss
daran, jede der zu dem Spiel benötigten Figuren mit dem Ausdruck
'Kreis' zu bezeichnen, mögen sie nun in Wirklichkeit quadratisch, recht-
eckig, kreuz- oder N-förmig sein.
Die verschiedenen Spielarten oder Spielformen des Hickelspiels in
Prankfurt a. 31. haben wieder verschiedene Namen erhalten: Deutscher
Kreis, französischer Kreis, langer Kreis, Enncheskreis usw. Es wird bei
der Beschreibung der einzelnen Spiele noch darauf eingegangen werden.
Das Spiel wird im Anschluss an eine Figur ausgeführt, die mit dem
Absatz des Schuhes in den weichen Sand der weiten Anlagen oder in den
Kies der Schulhöfe gezogen wird. Figuren wie Spielausführung sind sehr
verschieden, unterscheiden sich selbst in den einzelnen Stadtteilen, ja, ein
kleiner Bub, den ich deswegen befragte, erklärte mir, das Spiel würde selbst
in jeder Strasse anders gespielt. In der Tat habe ich eine so grosse
Mannigfaltigkeit in ein und demselben Spiel selten gefunden. Die ein-
t'aeliste Figur ist die auf Seite 235 abgebildete. Sie besteht aus einem iu
acht Felder geteilten Rechteck (Kreis); die Zahlen fehlen häufig.
1) [Hans Meyer, Der richtige Berliuer 1904 S. 15 'Schafskopf . Schumann, Lübecker
Spielbuch 1905 S. % mit Anm. Höhr, Siebenbürgische Kinderspiele 1903 S. 73. De Cock-
Teirlinck, Kinderspel in Zuid-Nederland 1, 309. Kristensen, Danske Börnerim 1896 p. 511.
Pitre, Giuochi t'anciulleschi siciliani p. 141. j
Das Hickelspiel in Frankfurt a. M. 235
Zu dem Spiel gebraucht man ferner einen platten, glatten Stein, den
sich jeder Mitspieler nach Belieben aussuchen kann. Die Spielausführung
ist in einfachster Form nun folgende: Der erste Spieler wirft seinen Stein
in irgend ein kleines Rechteck und hüpft dann, bei 1 anfangend, dein
Steine nach, um ihn zu holen; beim Steine angelangt, darf er sich bücken
und kann nun ohne zu hüpfen, nach 8 hin den "Kreis' verlassen. Das
muss er sechsmal wiederholen, aber möglichst das Feld, in das er den
Stein wirft, wechseln, doch ist es kein zwingendes Erfordernis. Gelingt
ihm das Werfen und nachfolgende Hüpfen sechsmal, ohne mit dem Steine
einen Strich (der Schüler sagt: einen Kreis) zu treffen oder mit seinem
Fusse den Strich zu berühren, so darf er in irgend ein Feld der Figur
seinen Xamen schreiben. Auf diesem Felde darf er sich nun bei jeder
Wiederholung des Spiels ausruhen, d. h. mit beiden Füssen zugleich den
Boden berühren, während es allen andern Mitspielern untersagt ist, dies
Feld zu betreten. Gewinnt er wieder, so darf er sich noch ein anderes
Feld als Ruhehäuschen aussuchen usw. Wenn
er seinen Xamen hiueinschreibt, so tut er das
meistens mit einem einfachen N, oder er macht
ein Kreuz in das betreffende Feld. Sobald ein
Spieler gegen die Spielregel verstösst, kommt ein
anderer dran. Die Bezeichnung oder Zählung
der Felder wechselt insofern, als man auch
wohl bei den linksseitigen vier Feldern zuerst
zu zählen anfängt, so dass also Nr. 8 zu Nr. 1
wird. Doch ist diese Zählung seltener. lg"
Wichtiger sind verschiedene Spielabweichungen, von denen die haupt-
sächlichsten hier noch anoeoeben werden sollen. Der Stein muss ins erste
Feld geworfen und hüpfend wieder geholt werden, dann ins zweite Feld usw.;
der Spieler kehrt jeweils auf denselben Feldern zurück, auf denen er
hingehüpft ist, bis alle acht Felder durch sind. Dann muss der Spieler
durch alle acht Felder blind gehen, d. h. er muss die Augen schliessen
und den Kopf hintüber halten, dass er die Striche nicht sehen kann; auch
hierbei darf er nicht auf den 'Kreis' treten. Nun wird der Stein auf einen
Fuss gelegt und mit offenen Augen durch die einzelnen Felder getragen;
in diesem Falle wird, ebenso wie beim Blindgehen, nicht gehi ekelt,
sondern einfach gegangen. Dann wird der Stein vom Fusse aus dreimal
in die Höhe geworfen und mit der Hand wieder gefangen. Endlich muss
der Spieler dreimal durch alle acht Felder laufen, ohne einzuhalten. Jetzt
erst ist der Spieler aus und kann sich, wie schon oben bemerkt, ein Ruhe-
häuschen wählen.
Eine andere Spielart kennt folgende Abweichungen: Der Stein wird
erst ins erste, dann ins zweite usw. Feld geworfen, dann jedesmal hüpfend
abgeholt, nur darf der Spieler nicht wieder zurück, wie eben erwähnt,
5
4
6
3
7
•)
8
1
236 Wehrhan:
sondern er muss weiter hüpfen, alle acht Felder durch, also achtmal hinter-
einander. Ferner wird vor dem Durchgehen (mit dem Stein auf dem
Fusse) der Stein durch alle acht Felder hindurchgeschickt, d. h. er wird
vor das erste Feld ausserhalb der Figur auf den Boden gelegt und mit
dem Fusse weiter gestossen, ohne dass er auf den 'Kreis' kommen darf.
Eine Verschärfung dieses Spiels besteht noch darin, dass der Stein bei
jedem Felde nur einmal angestossen werden darf; wer ihn beim erst-
maligen Anstossen nicht auf das folgende Feld hinüberschnickt, ist ab,
und der folgende kommt dran.
Wer bei allen diesen und auch den folgenden Spielarten gegen eine
einzige Spielregel verstösst, wer also z. B. auf einen Strich tritt, oder
einmal einen mit dem Fusse in die Höhe geworfenen Stein nicht fängt, muss
wieder ganz von vorn anfangen, was streng gehandhabt wird.
Wenn die Figur nicht aus acht, sondern aus mehr Feldern besteht.
meistens aus zehn oder zwölf Feldern, nennt mau das Spiel 'langer
Kreis', während die einfachere Form unter dem gewöhnlichen Namen
Hickelkreis, Kreis, hier und da auch wohl 'kurzer Kreis" bekannt ist.
Beim 'langen Kreise' kommen im allgemeinen dieselben Spielregeln in
Anwendung, wie sie oben angegeben sind, nur einige Abweichungen
mögen hier Platz finden: Während man den Stein aus dem ersten und
dann aus dem zweiten Häuschen wieder holt, also nicht alle Felder durch-
hickelt, muss man von dem dritten Felde ab nach dem Aufheben des
Steines jeweilig weiterhickeln, alle Häuschen durch; ferner muss der
Spieler dreimal durch alle Felder durchhickelu, nicht, wie oben erwähnt,
nur durchlaufen.
Der sogenannte 'französische Kreis' unterscheidet sich nur in der
Figur, sonst aber nicht wesentlich von den bisher genannten Spielweisen;
es liegt ihm nachstehende Zeichnung (Fig. 2) zugrunde.
Hier ist der 'Kreis' also auch in acht Felder abgeteilt, nur haben
diese infolge der diagonalen Linien dreieckige Form, wodurch das Spiel
etwas schwerer gestaltet wird. Der Mittelraum ist, wie bei dem noch zu
besprechenden eigentlichen 'deutschen Kreis", ein für Stein wie Spieler ver-
botener Raum, es darf also kein Stein hineintreworfen oder hineingeschnickt
werden, auch darf der Spieler nicht hineintreten. Die Ausführung des Spieles
unterscheidet sich aber weiter nicht von den schon mitgeteilten Spielweisen.
Der Name 'französischer Kreis' setzt das Spiel in bevvussten Gegensatz
zu dem folgenden eigentlichen 'deutschen Kreise". Woher diese Namen
zu erklären sind, vermag ich augenblicklich nicht anzugeben.
Der 'Kreis', wie er mit Ausnahme des letztgenannten bisher be-
schrieben ist, wird auch wohl als 'deutscher Kreis1 bezeichnet,
doch kommt diese Bezeichnung vor allem folgender Abart in Frank-
furt a. M. zu, deren Figur aus nachstehender Zeichnung (Fig. •>) zu er-
sehen ist.
Das Hickelspiel in Frankfurt a. M.
237
Das Charakteristische an dieser Figur ist der sich oben ansetzende
Raum a, das Paradies genannt, aus dessen Bezeichnung sich die eingangs
angeführten Namen Paradiesspiel usw. ergeben. Das Paradies stellt den
Kaum dar, in dem sich die Spieler aufhalten dürfen, die mit dem Spiel
durchgekommen sind; von dort aus können sie sehr bequem das Spiel
ihrer Mitspieler überwachen und leicht erkennen, wenn sich jemand gegen
die Spielregel vergangen hat. Der in der Längsmitte angegebene Freiraum
ist ein unwesentliches Stück der Figur und kann fehlen, er stellt allerdings
(wie beim französischen Kreise) für das Spiel eine Verschärfung dar, denn
auch in ihn darf der Stein nicht fallen, und der Spieler muss ihn wie
jeden Strich meiden. Es brauchen nicht gerade zehn Felder zu sein, aus
\ 5
6 \
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A
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1
Fig. 2.
Fit
Fig. 4.
denen die eigentliche Spielfigur besteht, es genügen auch acht Felder,
wie andererseits auch selbst zwölf derselben zu finden sind; in dieser Be-
ziehung stellt also der 'deutsche Kreis' eine Abart des kurzen und langen
Kreises dar. Die Ausführung des Spieles ist beim deutschen Kreis und
dem Paradiesspiele die schon oben beschriebene; jeder Mitspieler ist hier
bestrebt, wie er sich ausdrückt, 'in das Paradies zu kommen.'
Eine eigenartige Variation des Hickelspiels wird in der vorstehenden
Zeichnung (Fig. 4) zum Ausdruck gebracht.
Hier ist das Paradies in die Mitte der Spielfigur gelegt, jedenfalls
für die konkurrierenden Mitspieler ein zur Beobachtung sehr geeigneter
Aufenthalt. Das Paradies hat hier wenigstens annähernd (dem Kinde
kommt es ja nicht genau darauf an) die Gestalt eines Kreises. Der Kreis
hat in gewissen Fällen auch noch eine andere Bedeutung. Zuweilen
verlangt die Spielregel nämlich, — wie schon oben hervorgehoben, weichen
die Spielregeln selbst in den einzelnen Strassen voneinander ab — dass
238
Wehrhan :
die Spieler, die noch nicht aus sind, also das Anrecht auf ein Ruhe-
häuschen noch nicht erworben haben, diesen Kreis in der Mitte über-
springen müssen. Dann schreibt derjenige, der alle Bedingungen erfüllt
hat, seinen Namen in den Kreis ein, der in diesem Falle also als Ruhe-
häuschen dient. Um das Überspringen zu ermöglichen, hüpft man dann
nicht in der durch die Ziffern angegebenen Reihenfolge durch die Felder,
sondern von einem Felde der einen Seite nach dem schräg; gegenüber-
liegenden Felde der anderen Seite, also in der Reihenfolge der Felder 1,
9, 3, 7, 5, 6, 4, 8, 2, 10. Man sieht, die kleinen im Spiel ausserordentlich
ausdauernden Künstler machen es sich nicht immer leicht, Lorbeeren zu
erringen.
Eine andere Form des Spiels, die an die oben genannte des 'deutschen
Kreises' erinnert, auch wohl dieselbe Bezeichnung führt, wird durch Ver-
breiterung der Spielfigur erzielt. Man legt die Figur so an, dass nicht
5
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(8)
1
(9)
Fig. 5.
Fig. 6.
zwei, sondern vier oder fünf Felder nebeneinander entstehen. Schon beim
deutschen und französischen Kreise haben wir gesehen, dass in der Mitte
ein schmales Feld der Länge nach eingefügt war; in diesem Falle schiebt
man noch fernere zwei oder drei Felder ein. Die Zeichnung (Fig. 5) fin-
den letztgenannten Fall würde demnach wie oben abgebilder aussehen.
Pur diese Figur gibt es zwei Hauptspielweisen. Nach der einen darf
der Stein hingeworfen werden, wie es das Belieben des einzelnen Spielers
wünscht, also in ein Feld jeder Längsreihe, einerlei ob links, rechts oder
in der .Mitte usw. Demgemäss ist auch nicht bestimmt, in welcher Längs-
reihe der Spieler hüpfen muss, dieser kann ferner sein Ausriihehäuschen
bezeichnen, wo er will, nur darf ein ihm folgender Spieler niemals in das
als Ruhehäuschen gewählte Feld werfen, muss es. wie in allen andern
schon genannten Abweichungen des Hickelspiels, stets überspringen, da
daa Ausruhen nur dem Besitzer zusteht. Bei dieser Spielausführung darf
der Spieler auch schräg hüpfen, ist also nicht gebunden, eine Längsreihe
innezuhalten.
Das Hickelspiel in Frankfurt a. M. 239
Etwas anders ist die Ausführung des Spieles für den Fall, für den
die in der Zeichnung angegebenen Ziffern massgebend sind. Hier schliesst
sie sich eng an die oben ausgeführten Spielweisen an, d. h. der Spieler
wirft seinen Stein in das Feld Nr. 1, hüpft hinein, hebt den Stein auf und
durchhüpft dann die erste Längsseite, die obere Querseite und wieder
zurück zu Nr. 10; jetzt wird der Stein auf Nr. 2 geworfen und das Hüpfen
wiederholt sich in derselben Reihenfolge usw. Auch das Blindgeheu, das
dreimalige Durchlaufen, bzw. Durchhüpfen, das Schnicken usw. ist bei
dieser Figur nicht unbekannt.
Eine bedeutende Abweichung von den bisherigen Spielfiguren zeigt
uns die auf S. 238 abgebildete Kreuzform (Fig. 6.).
Die Ausführung des Spiels schliesst sich eng an die schon angegebenen
Weisen an. Der Stein wird auf Nr. 1 geworfen, dann wird in der Reihen-
folge der Ziffern (nachdem der Stein aufgehoben worden ist) durch alle
Häuschen gehickelt, so dass viermal kreuzweise gehickelt wird und die
Häuschen 1 bis 3 doppelt betreten werden; dann
wird der Stein auf Nr. 2 geworfen usw. Nachdem
so der Stein auf allen mit Ziffern bezeichneten
Feldern gelegen hat und geholt worden ist, legt
man ihn auf den Fuss und geht durch die Felder;
dann schnickt man ihn, geht blind durch alle
Häuschen und läuft endlich dreimal hindurch,
wobei der Stein wegbleibt. Wer alle diese Be-
dingungen ohne Unterbrechung erfüllt hat, darf bei
jedem folgenden Hüpfen oder Schnicken usw. in dem durch R bezeichneten
Felde ausruhen. — Eine weitere Form des Hickelspiels lehrt uns die vor-
stehende Zeichnung (Fig. 7) kennen.
Dieser 'Kreis' heisst bei den Spielern 'runder Kreis', 'Schlangen-
kreis' oder 'Schneckenkreis', der natürlich durch Weiterziehung der
äusseren Linie oder durch Weglassung eines Teiles derselben vergrössert
oder verkleinert werden kann. Das mit R bezeichnete Viereck in
der Mitte darf wegbleiben, die mit N bezeichneten Vierecke geben
wieder die schon aus früheren Mitteilungen bekannten Ruhehäuschen an.
Die einfachste Ausführung des Spiels bestellt darin, von dem äusseren
Anfange der Schnecke nach innen und wieder zurück zu hüpfen. Wem
das ohne Unterbrechung und ohne Berührung eines Striches gelingt, darf
auf einer beliebig von ihm zu erwählenden Stelle der Figur ein Ruhe-
häuschen errichten, das nur von ihm benutzt werden darf, von jedem
andern aber übersprungen werden muss. Schwierig gestaltet sich die
Überspringung in dem Falle, dass mehrere Spieler ihr Ruhehäuschen
hintereinander errichten, so dass der zu überspringende Raum an Länge
beträchtlich zunimmt; mag dieser Raum nun auch noch so gross sein, er
muss übersprungen werden, sonst ist für den betreffenden Spieler jeweils
240
Wehrlian:
das Spiel aus und ein anderer kommt dran. In einigen Fällen erlaubt
die Spielregel, in dem mit R bezeichneten Felde in der Mitte auszuruhen.
Eine Verschärfung des Spieles besteht darin, dass man, um ein Ausruhe-
häuschen zu erhalten, nach dem Hickeln den 'Kreis' blind, d. h. mit nach
oben gerichteten Antlitz durchgehen muss.
Eine andere Ausführung erfordert für die Schaffung eines Ruhe-
platzes das dreimalige erfolgreiche Durchhickeln hintereinander.
Im allgemeinen ist das Hickeln im Schlangenkreise ohne Stein üblich,
• loch ist auch der Stein dabei nicht ganz vergessen, wodurch die Aus-
führung; natürlich wieder bedeutend erschwert wird. In diesem Falle muss
der Stein in das in der Mitte befindliche Viereck geschleudert werden;
dann erfolgt das Durchhickeln bis zum Steine hin, worauf der Stein auf
den Fuss gelegt und zurückgetragen werden muss. Er darf dabei nicht
o
c
Fig. 8.
herunterfallen, wie auch der Strich hier wie sonst niemals berührt
werden darf.
Zu einer ganz neuen Art des Hickelspiels führen uns die folgenden
Figuren und Spiele, die sogenannten 'Ennchesspiele'. Der Name ist
abgeleitet von dem grossen Buchstaben N, dessen Linienführung eine ent-
fernte Ähnlichkeit mit der Zeichnung der Spielfigur hat. Ennches oder
N-ches ist die Frankfurter Diminutivform von N. Vielleicht hat, wie
man wohl aus dem Namen schliessen könnte, die ursprüngliche Figur
grössere Ähnlichkeit mit dem Buchstaben N gehabt. Die Spielfigur
(Fig. 8) sieht, wie oben abgebildet, aus.
Der meinetwegen bei a stehende Spieler (er kann ebensogut auch
bei b stehen), wirft seinen Stein nach irgend einem beliebigen Orte inner-
halb der Figur, beispielsweise nach c, alsdann hickelt er von seinem
Standpunkte aus dem Steine nach, hebt ihn auf und hickelt weiter nach 6,
alter immer auf dem durch die Figur angebenen Wege, ohne den Strich
nur zu berühren, der auch von dem Steine nicht getroffen werden darf.
In b angelangt, nimmt der Spieler seinen Stein und wirft ihn direkt nach a
zurück und hickelt ihm wieder nach; jetzt hat er das Recht auf ein
Häuschen, dessen Platz er sich wieder nach Belieben innerhalb der Figur
Das Hickelspiel in Frankfurt a. M.
241
wählen darf und das ihm das Vorrecht verleiht, sich bei nachfolgenden
Spielen darin auszuruhen. Jeder Spieler darf sich so viel Häuschen
machen, als es ihm gelingt, Spiele ohne Verstoss gegen die Regel zu
vollenden.
Eine Verschärfung des Spiels besteht darin, den Stein nicht auf-
zuheben, sondern weiter zu schnicken; andere Spielausführungen ver-
langen für das Schaffen eines Häuschens das zwei- oder mehrmalige
Hin- und Herwerfen des Steines mit nachfolgendem Hickeln oder Schnicken.
Immer muss das Hickeln ohne Einhalten geschehen, nur, wer ein Ruhe-
d
•
c b
a
Fig. 9.
bauschen hat, darf sich diesen 'Luxus' erlauben. Eine Weiterführung der
Schwierigkeiten besteht darin, den Stein auf dem Fusse durchzutragen usw.,
ähnlich also wie bei den oben angegebenen Spielen.
Bedeutender ist schon die in obiger Zeichnung (Fig. 9) angeführte
Spielart.
Die Ausführung zu dem in dieser Figur angedeuteten Spiele ist
ziemlich schwierig und zusammengesetzt. Der Spieler wirft von a aus
seinen Stein nach c, hickelt hin (immer auf der Figur und ohne einen
Strich zu berühren) und holt den Stein nach a zurück. Dann wirft er
ihn von dem gleichen Standpunkte aus nach d und hickelt nach d.
(Dieses Hickeln wird von einigen nicht gefordert, man begnügt sich hier
und da mit dem blossen Gehen von a nach d). Von d aus wird der Stein
Zeitschr. d. Vereins f. Volkskunde. 1911. Heft 3. IG
'24-2
Wehrhan: Das Hickelspiel in Frankfurt a. M.
nach b geworfen, auf der Figur wird naehgehickelt, der Stein aufgehoben
und dann weiter nach a gehickelt.
Endlich muss der Spieler blind von a nach c (oder auch nach d)
und wieder zurück nach a hickeln. Dabei darf niemals ein Strich berührt
oder neben die Figur getreten werden, sonst ist das Spiel für ihn aus,
bis er wieder an die Reihe kommt. Verschärft wird das Spiel durch die
Bestimmung, dass mit dem aufgehobenen Steine nicht gehickelt, sondern
nur geschnickt werden darf, was bei der grossen Anzahl von Strichen nicht
leicht ist. Übrigens ist die in der vorstehenden Figur gegebene Anzahl
der Felder nicht gerade immer massgebend, die Kinder statten ihre
Enncheskreise oft noch reichlicher aus, bleiben auch manchmal hinter der
angegebenen Zahl der Felder zurück. Wer die Bedingungen erfüllt, darf
sich wieder ein Ruhehäuschen errichten, wo er will. Das ist, wie immer,
der einzige und bescheidene Lohn oder Lorbeer für den eifrigen Mitspieler.
Fig. 10.
Ein zusammengesetztes Ennchesspiel ist das aus der obigen Fig. 10
ersichtliche "W i n d raü hlsp i el.
Der Spieler hickelt, bei a anfangend nach b, von da nach c und dann
nach d und über a nach dem mittleren Kreise. Wer das fertiggebracht
hat, darf sich ein Ruhehäuschen macheu. Der Kreis in der Mitte muss
überhickelt werden. Das Spiel kann mit und ohne Stein ausgeführt
werden, wodurch die Schwierigkeiten natürlich wechseln. Der Stein kann
dann entweder in den Kreis auf dem Kreuzungspunkte oder der Reihe
aach auf die verschiedenen Felder geworfen werden, so dass sich die
weitgehendsten Kombinationen ergeben. Auch hier werden Ruhehäuschen
errichtet. —
Das hier behandelte Hickelspiel entstammt in seinen verschiedenen
Ausführungen und Arten vorwiegend nur einem einzigen Stadtteil Frank-
furts, nämlich dem Nordend. Ob ich hier alle Abweichungen dieser Gegend
verzeichnen konnte, kann ich mit Bestimmtheit nicht behaupten; im
übrigen Teile Frankfurts werden aber jedenfalls noch andere Spielweisen
Haas: Brummshagensch und Vater Bümke, zwei poramersche Sageugestalten. 243
des Hickelspiels zu finden sein. Aber eins zeigt uns diese Zusammen-
stellung mit aller Deutlichkeit doch, nämlich die ungemein grosse Reich-
haltigkeit der schaffenden Phantasie unserer Jugend, von der wir oft an-
nehmen, dass sie mit nüchternem Innern ausgestattet sei. Und man erkennt
beim Spiel kaum den Schüler wieder, der in der Schule keiner Anstrengung
fähig erscheint, der immer getrieben werden muss, der auch zu Hause zu
nichts Ordentlichem zu gebrauchen ist, wie mir eine besorgte Mutter einmal
sagte. Hier beim Spiel ein Eifer, der in Erstaunen setzt, hier eine unermüd-
liche Wiederholung der geforderten Spieltätigkeiten, um die Aufgabe zu
lösen. Denn wie wir aus den verschiedenen Spielausführungen ersehen
haben, ist die Erreichung des Zieles nicht überall gerade leicht gemacht.
Wie kompliziert sind die Anforderungen! Und sie müssen gewissenhaft
erfüllt werden, dafür sorgen die konkurrierenden Mitspieler, denen sich
jeder gern unterwirft, wTenn auch zuweilen arge Meinungsverschiedenheiten
ausgetragen werden. Stundenlang hat der kleine Bub, das etwas ungelenke
Mädchen zu spielen, bis endlich der Mühe Preis in Gestalt eines be-
scheidenen und nichts Materielles darstellenden Ruhehäuschens erworben
ist. Immer wieder mit eisernem Eifer und nie ermüdender Geduld werden
die verschiedenen Sprüuge usw. wiederholt, Tätigkeiten, die von uns Er-
wachsenen oft als so langweilig, als so nüchtern und uninteressant
empfunden werden.
An und für sich ermüdet also eine oftmals wiederholte Tätigkeit, und
sei sie nach uusern Begriffen noch so einfach und nüchtern, das Kind nicht,
im Gegenteil, die von Erwachsenen oft beliebte Abwechslung würde ein Kind
nicht befriedigen, was für Schule und Leben eine nicht genug zu beherzigende
Lehre gibt. Die moderne Richtung der Pädagogik würde dabei nicht immer
gut abschneiden, und die überhäufte Versorgung des Kindes mit allen mög-
lichen Spielsachen in der Familie trifft sicherlich auch nicht das richtige.
Frankfurt a. M.
Brimimskagenscli und Vater Bümke,
zwei pommerscke Sagengestalten.
Von Alfred Haas.
Vor ungefähr Jahresfrist machte mich Herr Prof. Dr. Wossidlo in
Maren auf eine eigentümliche Spukgestalt aufmerksam, die er unter dem
Namen 'Brummshagensch' oder 'Brummshagensch mit '11 Pirkopp' im
mecklenburgisch-vorpommerschen Grenzgebiet, in der Nähe der Stadt
Damgarten angetroffen habe. Da ich von diesem Wesen niemals etwas
IG*
244 Haas:
gehört hatte, so liess ich durch meinen Bruder, Pastor 0. Haas in Langen-
hanshagen (Kr. Franzburg), Nachforschungen anstellen, die auch bald von.
Erfolg gekrönt waren. Es gelang ihm in kurzer Zeit, mit Hilfe der
Herren Pastor Hoepffner in Saal, Lehrer Böttcher in Bartelshagen bei
Lüdershagen und Lehrer Fritz in Langendamm bei Damgarten die hier
folgenden Sagen und Erzählungen über Brummshagensch zu sammeln.
1. Vor langen Jahren hat in Saal (Kr. Pranzbur^>) eine Bauersfrau mit Namen
Brumm